Das Ende der Vergeltung; Anmerkungen zur 5. Antithese der Bergpredigt (Mt 5,38-42)

15.06.2011, Franz Kamphaus

Abschiedsvorlesung gehalten am 14. MAI 1982 von Professor Dr. Franz Kamphaus, Bischof von Limburg, veröffentlicht in: Natur, Religion, Sprache, Universität. Universitätsvorträge 1982/83 (Schriftenreihe der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Heft 7), Münster/Westfalen 1983, 38-46.

Das Problem
Alexander Solschenizyn erzählt in "Der Archipel GULAG" aus den Straflagern Stalins. Das dichtmaschige Spitzelsystem raubte den Inhaftierten die letzten Freiräume. Erst von dem Augenblick an besserte sich die Situation, als die Spitzel nachts umgebracht wurden. Die Tyrannei der Lagerkommandanten kam ins Schleudern, - durch Gegengewalt! Solschenizyn bemerkt in Anspielung auf die Bergpredigt und auf Mt 26,52:

"Den Spitzeln das Messer in die Brust bohren! Messer schmieden und auf Spitzeljagd gehen! - Das ist es!

Jetzt, da ich dieses Kapitel schreibe, türmen sich auf den Regalen über mir humanitätsschwere Bücher und blinken mir mit ihren mattschimmernden, gealterten Einbänden vorwurfsvoll zu, wie Sterne durch Wolkenstreifen: Man darf nichts in der Welt durch Gewalt zu erreichen suchen! Wer zum Schwert, zum Messer, zum Gewehr greift, wird nur zu rasch seinen Henkern und Bedrückern gleich. Und der Gewalt wird kein Ende sein...

Wird kein Ende sein... Hier am Schreibtisch, im warmen, sauberen Arbeitszimmer bin ich völlig einverstanden. Doch wer grundlos zu 25 Jahren Lager verdammt wird, wer seinen Namen verliert und vier Nummern angeheftet bekommt, die Hände immer auf dem Rücken halten muß, jeden Morgen und Abend gefilzt wird, täglich bis zur Erschöpfung robotet..., für den hören sich alle Reden der großen Menschenfreunde wie das Geschwätz satter Spießer an...

Nicht umsonst hat das Volk aus langer Bedrückung die Lehre gezogen: Mit Güte kommt man gegen das Böse nicht an."1

Solschenizyn findet mit dem, was er sagt, eine breite Zustimmung: "Wir sind für die Abschaffung des Krieges, wir wollen den Krieg nicht; aber man kann den Krieg nur durch den Krieg abschaffen; wer das Gewehr nicht will, der muß zum Gewehr greifen."2

Im Jahre 1975 erschien in der Schweiz ein "Katholischer Katechismus". Darin heißt es im Kontext unserer Frage: "Sind die Anweisungen in der Bergpredigt (Mt 5.-7. Kap.) wörtlich zu nehmen?

Die Anweisungen in der Bergpredigt sind nicht wörtlich zu nehmen, weil das sowohl im privaten wie im öffentlichen Leben zu unhaltbaren Zuständen führen würde."3

Der Katechismus spricht aus, was viele denken, und wie wir uns in der Regel verhalten: Wir antworten auf Gewalt mit Gewalt, wir zahlen heim mit gleicher Münze: ,Wie du mir, so ich dir! Da weiß man, wie man dran ist. Wo kommen wir denn sonst hin?' So reden wir, und so handeln wir, häufig wenigstens, oft genug. Jesus nicht! Er hat anders gedacht. Das zeigt die 5. Antithese der Bergpredigt.

Auslegung des Textes Mt 5,38-424

"Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin. Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann laß ihm auch den Mantel. Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm. Wer dich bittet, dem gib, und wer von dir borgen will, den weise nicht ab."

Der Evangelist zitiert zunächst das bekannte ius talionis ("Auge für Auge..." Ex 21,24), das Gesetz, das die Vergeltung regelt. Es will nicht (wie man zunächst vermuten könnte) zur Rache reizen, sondern die zügellose Rache eindämmen: Die Strafe darf die Größe der Tat nicht überschreiten, Gleiches darf nur mit Gleichem vergolten werden:

"Auge für Auge, Zahn für Zahn..." Das ist in der Entwicklung der Menschheit ein großer Schritt nach vorn gewesen zur Humanisierung des Zusammenlebens.

Rache ist von ihrer inneren Tendenz her maßlos. Ehemals ist sie sogar ,mit Recht' maßlos gewesen.5 Und nun sagt das ius talionis: Keine Eskalation! Vielmehr: Gleiches mit Gleichem! "Vergeltung ist die elementare...Generalisierung des Rechts; sie ist gleichsam das zuerst einfallende Rechtsprinzip."5 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist bis heute in der Rechtsprechung wirksam geblieben. Es scheint, als sei allein auf diesem Weg ein gedeihliches Zusammenleben der Menschen gewährleistet.

Jesus durchbricht dieses Gesetz geregelter Vergeltung. Er läßt das überkommene Verhaltensschema der "Alten" hinter sich und zeigt einen neuen Weg auf, der aus dem "Wie du mir, so ich dir" herausführt. Er rät nicht etwa nur dazu, sich rein passiv zu verhalten, keinen Widerstand zu leisten. Der Satz: "Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand..." (5,39), ist erst durch den Evangelisten eingefügt. Wir stellen ihn daher zunächst zurück, damit der Blick auf die folgenden Verse, in denen sich nach weitgehen-dem Konsens der Exegeten die ursprüngliche Intention Jesu ausspricht, nicht eingeengt wird. Jesus genügt es nicht, keinen Widerstand zu leisten. Er ermuntert und ermutigt zu einer neuen Initiative, zu einer neuen Aktion. Wie das aussehen kann, zeigt er an vier Fällen:

V 39b: Jemand wird geschlagen, und zwar (besonders beleidigend und entehrend) mit dem Handrücken auf die rechte Backe. Nun heißt es nicht: ,Ertrag den Schlag, halt die Backe hin.' Jesus will mehr als den Verzicht auf Vergeltung: "Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.’ Er rät zu einer neuen Initiative, die eine neue Situation schafft.

V 40 : Der zweite Fall: Jemand ist verschuldet. Es wird ihm der Prozeß gemacht. Der raffgierige Gläubiger will das Hemd pfänden. In dieser Situation lautet die Forderung nicht etwa nur: ,Laß ihm das Hemd', sondern: ,Laß ihm auch den Mantel '. Das sprengt jeden Rahmen. Nach Ex 22,25f. kann der Mantel gar nicht gepfändet werden, weil der Arme ihn nachts als Decke braucht. Er gehört zum Existenzminimum, das niemandem genommen werden darf. Nun sagt Jesus: ,Gib den Mantel dazu, gib das Letzte, was du hast.'

V 41 : Der dritte Fall, aus der Besatzungssituation: Die römischen Kohorten oder die Soldaten des Herodes zwangen bei ihren Märschen über Land Leute von den Straßen, für sie Lasten zu schleppen, so wie sie Simon von Zyrene gezwungen haben (vgl. Mk 15,21 par), Jesus das Kreuz zu tragen. Nun heißt es hier nicht: ,Geh die eine Meile mit!' Jesus sagt vielmehr: ,Wenn der Erpresser dich zu einer Meile zwingen will, dann geh zwei Meilen weit mit ihm, den doppelten Weg.'

V 42 : Der Vers spricht von Alltäglichkeiten: Wer um irgendeine Sache oder um Geld angegangen wird, soll sich der Bitte nicht verschließen. Gerade hier wird deutlich, daß es mit dem geduldigen Hinnehmen allein nicht getan ist: ,Wer dich bittet, dem gib...'

Ihre besondere Schärfe erhalten diese vier Aussagen gerade dadurch, daß sie keine außergewöhnlichen Fälle schildern, sondern aus dem Alltag der Menschen um Jesus genommen sind. Sie sind also keineswegs rein metaphorisch zu verstehen (wenn auch der Text metaphorische Elemente enthält). Sie zielen auf reale Verhaltensweisen. Man kann sie am besten als "Verhaltensmodelle" bezeichnen, die "zwischen konkreten Anweisungen zum Handeln und normativen Weisungen" stehen und "an einem konkreten Beispiel das über den einmaligen genannten Fall hinaus zu Tuende" deutlich machen.6 Gemeinsam ist ihnen, daß nicht nur danach gefragt wird, wer Recht oder Unrecht hat. Sie machen nicht blind gegenüber dem Bösen; Unrecht bleibt Unrecht, der Schuldige bleibt schuldig. Die Rechtsebene wird nicht aufgelöst, sondern überschritten auf die "weit größere Gerechtigkeit" (Mt 5,20) hin. Hier ist die schöpferische Liebe am Werk, die das Böse in der Wurzel zu überwinden versucht (vgl. Rö 12,21: "Besiege das Böse durch das Gute") "und die Ket-te von Unrechtserwiderungen zerreißen will. Solche Liebe nimmt das Böse an das Herz und zerdrückt es."7 Sie findet sich nicht ab mit all dem, was die gegenseitige Verteufelung fördert und festschreibt. Sie läßt sich Neues einfallen, Alternativen zum Normalverhalten. Sie kommt auf die Idee, dem Angreifer nicht auf der gleichen Ebene zu begegnen (nicht nur zu re-agieren). Sie ermutigt zu neuen Initiativen, die eine neue Situation schaffen.

Von daher ist zu fragen, inwieweit Matthäus mit seinem Zusatz "Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand...", die Intention des Abschnittes voll aufnimmt. Nicht, daß er sie verdunkelt, aber er lenkt sie doch in eine ganz bestimmte Richtung. Er interpretiert die Aussagen von seiner Tendenz zum Gewaltverzicht (vgl. 26,52) her. Diese Interpretation schränkt, wie die Auslegungsgeschichte zur 5. Antithese bestätigt, die Jesus-Worte auf die Gewaltlosigkeit ein und läßt ihre innere Dynamik nicht voll zur Geltung kommen. Jesus geht es nicht etwa nur darum, keinen Widerstand zu leisten; er verlangt ein neues Handeln, das sich an den vier genannten Modellen orientiert.

Der Hintergrund: Jesu Person und Leben

Wir können Jesu Wort nur dann richtig verstehen, wenn wir ihn selbst im Auge haben. Seine Weisung hängt an seiner Person. Die Antithesen der Bergpredigt sind nicht ein Summarium allgemeiner Sentenzen und Weisheitssprüche, kein abstraktes Moralprinzip, sondern Wort Jesu. Dieses Wort bildet eine Einheit mit seiner Person (ist also christologisch begründet). Wie die Gottesherrschaft in ihm anbricht, so ist er die Ermöglichung zu einem Leben im Zeichen dieser Herrschaft. Seine Weisung ist von seiner Person nicht ablösbar. Darum kann man nicht einzelne Sätze aus der Bergpredigt herausreißen, sie als Parolen mißbrauchen und nach Geschmack beliebig verwenden, jenseits des Bekenntnisses zu Jesus Christus. Es geht in der Stellungnahme zu den einzelnen Aussagen nicht etwa nur um die Entscheidung gegenüber einem Satz, sondern gegenüber einer Person, gegenüber diesem Jesus.

Er hat die Bergpredigt gelebt. Sie ist nicht nur ein abgegrenztes Kapitel seiner Weisung, sie drückt sein Leben aus. Sein Leben, was heißt das? Mir ist in den letzten Jahren ein Wort wichtig geworden, das auf Simone Weil zurückgeführt wird und als Schlüssel zum Leben Jesu dienen kann: "Der Held trägt eine Rüstung, der Heilige ist nackt."8 Jesus, der Heilige Gottes, trägt keine Rüstung, er ist nackt. Er kann sich ganz Gott lassen, er ist der "geliebte Sohn" (Mt 3,17). Und darum kann er gelassen alles andere lassen. Er weiß sich so im Vater geborgen und eins mit ihm, daß er keine Angst um sich selbst haben muß. Er hat den Rücken frei. So kann er sich ganz den Menschen zuwenden. Er muß nicht darauf bedacht sein, sich selbst zu behaupten; er kann sich selbst geben. Das hat er getan!

Er ließ nicht die Macht spielen. Er widerstand der Versuchung (auf dem Berg!) "alle Reiche der Welt mit ihrer Pracht" (4,8) einzusetzen. Er widerstand der Versuchung, mit Macht die Welt in Ordnung zu bringen, mit Macht die sogenannten ,klaren Verhältnisse' zu schaffen. Die Herren der Welt und ihre Praxis beeindruckten ihn wenig. Er suchte das Heil nicht im Schwert, in der Rüstung. Er wagte es, offene Flanken zu zeigen. Er wandte sich ,ungeschützt' den Menschen zu. Gott war ihm Schutz genug.

Er blieb sich und seinem Weg treu, "gehorsam bis zum Tod am Kreuz". Als er die Macht der Mächtigen am eigenen Leib zu spüren bekam, setzte er sich nicht ab. Er brachte keine fremden Mittel ins Spiel. Er umgab sich weder mit Schwertern noch mit Engeln. Er sah in denen, die ihm Gewalt antaten, nicht seine Feinde, er betete für sie (Lk 23,34). Er ging wehrlos auf sie zu, bar aller Macht. Nackt ist er am Kreuz gestorben. Der Heilige (Gottes) trägt keine Rüstung, er ist nackt.

Der Konflikt, der in die Passion führt, ist nicht irgend eine Auseinandersetzung, die per Malheur mit dem Tod endet. Es ist der Konflikt zwischen "alter" und "neuer" Schöpfung, zwischen dem sich selbst verfallenen Leben, das sich mit Macht behaupten will, und dem "Sein für die anderen". Jesus ist diesem Konflikt nicht ausgewichen. Er hat sich ihm be-wußt und mit Entschiedenheit gestellt: Er "entschloß sich, nach Jerusalem zu gehen" (Lk 9,51). Das Kreuz ist Zeichen dieses Konfliktes. Es ist das Zeichen, wie Gott sich der gewalttätigen Selbstbehauptung, die das Unheil in der Welt gebiert, stellt und es überwin-det.

Das Kreuz allein bringt die Wende. Gott hat diesem Weg Jesu recht gegeben, er hat ihn bestätigt. Er hat Jesus auferweckt. Die Wunden sind das entscheidende Merkmal, an dem man (wie Thomas) den Auferstandenen erkennen kann, die Wunden, Zeichen seiner Wehrlosigkeit und Blöße. Nicht die Macht hält die Welt zusammen, sondern das machtlo-se Herz, das von der Lanze durchbohrt ist.

Praxis des Glaubens

Ich habe versucht, den Zusammenhang deutlich zu machen zwischen der Person Jesu und seinem Wort und Leben. Es geht in der Stellungnahme zu den einzelnen Aussagen der 5. Antithese (wie überhaupt der Bergpredigt) nicht etwa nur um die Entscheidung gegenüber einem Satz, sondern gegenüber einer Person, gegenüber diesem Jesus. Es geht um eine Entscheidung des Glaubens. Die "Logik" der Weisungen erschließt sich dem, der an Jesus glaubt, der sich mit ihm ganz dem Vater lassen kann. Die Radikalität der 5. und der mit ihr eng verbundenen 6. Antithese (Feindesliebe) ist nichts anderes als die Radikalität des Glaubens. Es ist kein Zufall, daß die Feindesliebe (5,45) ähnlich begründet wird wie das "Sorgt euch nicht um euer Leben..." (6,25-34). In beiden Fällen wird auf den "Vater im Himmel" verwiesen, der seine Sonne aufgehen läßt "über Böse und Gute" (5,45) und seine Geschöpfe "nährt" (6,26). Wer ihm vertraut, der ist davon befreit, sein Leben selbst sichern zu müssen. Wenn Gott die Realität seines Lebens ist, dann muß er keine Angst mehr um sich selbst haben. Dann kann er sich "ungeschützt" den Menschen zuwenden, Gott ist ihm Schutz genug. Der Glaube schenkt das Ende der Angst und den Anfang der Freiheit.

Die Antithesen über das Ende der Vergeltung und die Feindesliebe sind Ausdruck unbe-dingten Gottvertrauens und einer von daher geschenkten Angstlosigkeit im Umgang mit anderen Menschen. Sie zielen nicht auf eine Verschärfung ethischer Normen, sondern auf die neue Grundhaltung eines Lebens, das sich von Gott getragen weiß.

Was ist mit dieser Grundhaltung gemeint? Ist sie nur "innerlich" nachzuvollziehen, in der Gesinnung? Offensichtlich genügt das nicht. Wenn eines in der Bergpredigt deutlich wird, dann dies: Jesus fordert einen Gehorsam bis ins konkrete Verhalten hinein: "Wer diese meine Worte hört und danach handelt..." (7,24).

Ist die neue Grundhaltung "rein religiös" zu verstehen, ohne jede politische Konsequenz? Jesus hat sich nicht zu den militanten Zeloten geschlagen, er ist kein Sozialrevolutionär. Aber wenn seine Herrschaft nicht von dieser Welt ist, sondern aus anderen Quellen lebt ("von oben", vgl. Joh), dann ist sie deswegen nicht einfachhin unpolitisch. Gerade in ihrer Andersartigkeit ist sie in höchstem Maße politisch relevant. Sie irritiert alle, die an der Macht sind, weil sie sich ihrer Verfügungsgewalt entzieht. Sie kommt aus der Unverfügbarkeit Gottes. Die Relativierung menschlicher Gewalt und das Ende der Vergeltung in der anbrechenden Herrschaft Gottes sind ein Politikum ersten Ranges. Das zeigt die Geschichte gerade der ersten christlichen Jahrhunderte. Die Entgöttlichung der staatlichen Macht geschah im Namen Christi. Wo im Zeichen des Gekreuzigten der Herrschaft Gottes recht gegeben wurde, da fielen die politischen Götzen.

Was Christen einzubringen haben in öffentliche Diskussionen und Verhaltensweisen, ist nicht ein "Mehr" an politischem Sachverstand und Sachwissen (das wird durch die Berg-predigt weder erweitert noch suspendiert). Was wir einzubringen haben, ist der Glaube an Jesus Christus, in dem uns Gott die Alternativen zum gängigen Verhalten der Menschen ermöglicht hat.

Und der eingangs zitierte Einwand Solschenizyns? Kann die Liebe gegen das Böse ankommen? Ist es nicht zu einfach, dem Angreifer die , andere Backe hinzuhalten? Wir sind doch mitverantwortlich für das, was durch ein solches Verhalten angerichtet wird. Gibt es nicht Situationen, in denen die Liebe den Gegenschlag geradezu gebietet? Könnten wir da nicht in vermeintlichem Gehorsam gegenüber Jesu Wort andere neben uns im Stich lassen und dadurch die Liebe verraten? Kann also die Liebe nicht" - für Augenblicke, und niemals gesucht, immer aufgedrängt - das finstere Antlitz der Gewalt als Ausdruck ihrer Verzweiflung annehmen?"9

Diese Fragen sind kaum generell zu beantworten. Das Dilemma (ein christliches Dilemma!) läßt sich nicht mit einem Satz auflösen; sicher ist es nicht außerhalb der Liebe zu überwinden.1O Soviel ist freilich in Erinnerung zu halten: Im Leben Jesu hat die Liebe auch nicht für Augenblicke "das finstere Antlitz der Gewalt" angenommen. Gott hat in dem zerschundenen Antlitz des Gekreuzigten sein Gesicht gewahrt.

Rat des Evangeliums

Die 5. Antithese ist (darin trifft sie sich mit den anderen Antithesen) nicht als Gesetz zu verstehen. Eine Kasuistik wäre ihr Tod. Sie ist Evangelium. Sie ist zu Menschen gesagt, die schon in der Königsherrschaft Gottes stehen, zu verlorenen Söhnen, die der Vater wieder ins Haus aufgenommen hat, zu Menschen, in deren Leben die große Freude angebrochen ist, weil sie den Schatz im Acker gefunden haben. Ihnen allen sagt Jesus: Die Zukunft hat schon begonnen, ihr seid schon Bürger des Reiches Gottes. Das Alte (und was zu den "Alten" gesagt wurde) ist im Vergehen, Neues ist geworden. Davon könnt ihr ausgehen. Ihr müßt nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, ihr könnt schon anders leben. Ihr seid so frei! Ihr seid von Gott angenommen, nun nehmt einander an. Ihr seid von Gott bejaht, wie könnt ihr euch untereinander verneinen.

Könnte man die 5. Antithese nicht als Rat verstehen, als Rat des Evangeliums, ähnlich den klassischen "evangelischen Räten", als Einladung zu einem Leben, das sichtbar werden läßt, was der Glaube wagt? Wenn dieser Rat auch nicht jeden in gleicher Weise betrifft, so geht er doch jeden an.

Rat des Evangeliums? Die enge Verbindung der 5. Antithese mit der Armut z. B. wird im Leben des Franz von Assisi deutlich. Der Bischof von Assisi sagt ihm: "Euer Leben erscheint mir hart. Nichts zu besitzen ist schwer!" - Darauf Franz mit entwaffnender Einfalt: "Wollten wir etwas besitzen, dann müßten wir auch Waffen zu unserer Verteidigung haben. Daher kommen ja die Streitigkeiten und Kämpfe alle und verhindern die Brüderlichkeit und Liebe. Aus diesem Grund wollen wir nichts besitzen."

Was wäre, wenn die Aussage der 5. Antithese im kirchlichen Bewußtsein den Rang eines evangelischen Rates bekäme! Mindestens diesen Rang hat sie doch offensichtlich nach der Intention Jesu.

Rat, zu einem riskanten Weg. Er führt zu keiner glatten Lösung, viele Fragen bleiben offen. Dieser Weg läßt sich nicht mit Parolen meistern. Wer sich mit ihm anfreunden möchte, schaue auf die Konsequenzen: Er steht im Zeichen des Kreuzes. Das Kreuz ist das Zeichen des Übergangs, des Exodus von der alten zur neuen Schöpfung. Es geht kein Weg zu diesem Ziel an Golgota vorbei. Nicht die Erfolgreichen werden selig gepriesen, sondern die Armen, Hungernden, Trauenden, Verfolgten. Das christliche Zeichen des Friedens ist nicht der Lorbeerkranz des Siegers, sondern die Dornenkrone.

Kann man so leben?

Die Geschichte zeigt, wie die Christenheit über weite Strecken ihres Weges wieder zu dem zurückgekehrt ist, was den "Alten" gesagt worden ist. A. Angenendt hat das in einem aufschlußreichen Beitrag über "Das Gesetz des Ausgleichs"11 für das frühe Mittelalter nachgewiesen, nicht nur im Bereich des Rechtes, sondern auch der Theologie (Gnaden-lehre), der Frömmigkeit (Bußpraxis). Das Vergeltungsdenken dominiert: Gleiches mit Gleichem! Das Evangelium ist kaum zu vernehmen. Hat der "gesunde Menschenverstand" sich schließlich durchgesetzt? Kann man überhaupt anders leben als nach dem Gesetz des Ausgleichs? Ist es nicht naiv, zu meinen, so die Welt verändern zu können?

"Brüder", sagt Franz von Assisi auf dem Generalkapitel von Santa Maria in Portiunkula, "Gott hat mich auf den Weg der heiligen Einfalt und Demut gerufen...Und der Herr sagt mir, daß ich ein Narr sein solle in dieser Welt; er wolle uns keinen anderen Weg als den Weg dieser Weisheit führen." Reinhold Schneider legt dem Bruder Elias das Urteil in den Mund: "Wir können ein Kind nicht zum Haupt nehmen. Wohl hat der Prophet gesagt, daß ein Knabe Panther und Lamm weiden werde. Aber das gilt vom anderen Ufer, nicht von der Zeit. "12 Aber wie, wenn wir schon unsere Anker ausgeworfen haben zum anderen Ufer hin, dort fest verankert sind, wie der Glaube sagt. Müßte das nicht Konsequenzen haben in der Gemeinschaft der Glaubenden?

Es steht nicht mehr in unserer Möglichkeit, als daß wir Schritte tun in die Richtung, in die uns die 5. Antithese weist. Diesen Schritten wird das Zurückschrecken, das Stolpern und Stürzen nicht erspart bleiben. Wir werden mit solchen Schritten nicht aufhören, sofern wir uns als Bürger der anbrechenden Gottesherrschaft wissen. Wir werden uns nicht beirren lassen durch die, die meinen, es sei doch nichts zu machen, die jeden Neuansatz in Gleichmütigkeit, Lethargie oder Brutalität ersticken. Wir werden uns neu auf den Weg machen, auf den Exodus aus der alten in die neue Welt, aus der Welt zerstörerischer Vergeltung in die schöpferischer Liebe. Schritte auf diesem Weg sind dem möglich, für den Jesus Christus Wirklichkeit ist.
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ANMERKUNGEN:

1 A. Solschenizyn, Der Archipel GULAG, Hamburg 1978, Bd. 3, 220f.

2 Mao Tse Tung, Das Rote Buch, Fischer Bücherei 857, 42

3 A. Schraner, Katholischer Katechismus, Stein am Rhein 21977, 224

4 Vgl. dazu P. Hoffmann, Die bessere Gerechtigkeit, in: Bibel und Leben 10 (1969), 264-275

5 N. Luhmann, Rechtssoziologie I, Reinbek bei Hamburg 1972, 155

6 H. Schürmann, Haben die paulinischen Wertungen und Weisungen Modellcharakter? in: Gregorianum 56 (1975), 239 Anm. 9

7 H. Schürmann, Das Lukasevangelium I, Freiburg 1969, 349

8 vgl. E. Ott, Die »Aufmerksamkeit" als Grundvollzug der christlichen Meditation, in: Geist und Leben 47 (1974), 105

9 J. B. Metz, Paradigma für eine politische Kultur des Friedens, in: Ernesto Cardenal, hrsg. vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels, Frankfurt 1980, 23

10 J. B. Metz (wie Anm. 9), 22

11 A. Angenendt, Das Gesetz des Ausgleichs, in: G. Kaufmann (Hrsg.), Tendenzen der ka-tholischen Theologie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, München 1979, 140-157

12 R. Schneider, Innozenz und Franziskus, Wiesbaden 1952, 187

Zur Person des Autors:

Franz Kamphaus wurde am 2. Februar 1932 in Lüdinghausen (Deutschland) als jüngstes von fünf Kindern einer Bauernfamilie geboren, studierte nach dem Abitur, das er am Collegium Augustinianum Gaesdonck abgelegt hatte, Katholische Theologie und Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Anschließend empfing er am 21. Februar 1959 durch Bischof Michael Keller von Münster das Sakrament der Priesterweihe.

1968 wurde Kamphaus mit der Arbeit "Von der Exegese zur Predigt: Über die Problematik einer schriftgemäßen Verkündigung der Oster-, Wunder- und Kindheitsgeschichten" an der Universität Münster promoviert. Dort lehrte er ab 1972 als Wissenschaftlicher Rat und Professor Pastoraltheologie und Homiletik; ab 1973 war er zugleich Regens des Priesterseminars der Diözese.

Am 3. Mai 1982 ernannte ihn Papst Johannes Paul II. zum elften Bischof von Limburg. Joseph Kardinal Höffner spendete Franz Kamphaus am 13. Juni desselben Jahres die Bischofsweihe, Mitkonsekratoren waren der Bischof von Münster Reinhard Lettmann sowie der Bischof von Daloa Pierre-Marie Coty. Kamphaus stellte sein Bischofsamt unter den Wahlspruch Evangelizare pauperibus (Den Armen das Evangelium verkünden), einen Spruch aus Lk 4,18 EU. Kamphaus war bestrebt, dieser Losung zeichenhaft gerecht zu werden. Er bewohnte nicht mehr das bischöfliche Haus in der Limburger Altstadt, in dem er zeitweilig eine Flüchtlingsfamilie aus Eritrea unterbrachte, und bezog stattdessen ein Apartment im Limburger Priesterseminar. Auch seine Dienstlimousine mit Fahrer nahm er nur ungern in Anspruch.

Bundesweite Bekanntheit erreichte Kamphaus 1999 durch seine Position in der Frage der Schwangerschaftskonfliktberatung, bei der er sich zeitweise gegen den damaligen Papst Johannes Paul II. stellte und eine Sonderregelung für das Bistum erreichte, die er jedoch wegen eines päpstlichen Entscheids vom 8. März 2002 gegen seine Überzeugung aufgeben musste.

Bis Herbst 2006 war Kamphaus Vorsitzender der Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz.

Gemäß Can. 401, §1 bat Kamphaus Papst Benedikt XVI., ihn mit Erreichen des 75. Lebensjahres von seinem Amt als Limburger Bischof zu entpflichten. Der Papst nahm das Rücktrittsgesuch an, und Kamphaus wurde mit einer Pontifikalvesper an seinem Geburtstag (am Feste der Darstellung des Herrn) aus dem Amt verabschiedet. Nach seiner Emeritierung ist Franz Kamphaus als Seelsorger im St. Vincenzstift Aulhausen im Rheingau tätig, wo er auch wohnt.