Der Traum des Königs Nebukadnezar

03.10.2008, P. Roger Lenaers SJ

Das Ende einer mittelalterlichen Kirche

Am 23. September 2008 präsentierte „Wir sind Kirche“ das Buch „Der Traum des Königs Nebukadnezar – Das Ende einer mittelalterlichen Kirche“ in der Pfarre St. Gertrud, in Wien/Währing. Der Autor, P. Roger Lenaers SJ, hielt dabei einen Vortrag, der nachstehend dokumentiet wird.

Ich möchte zuerst Herrn Hurka danken, dass er es mir möglich macht, Ihnen heute Abend mein Buch vorzustellen. Der Titel entstammt bekanntlich einer Erzählung aus dem Buch Daniel. Die Riesenstatue die Nebukadnezar dort im Traum schaut und von der am Ende nichts mehr übrig bleibt, schien mir ein sprechendes Bild der Kirche zu sein, die im Westen (!) von der dort entstandenen und dort herrschenden modernen Kultur stets gründlicher zerstört wird. Aber das Buch Daniel ist wie jedes prophetische Buch ein Buch der Hoffnung. In diesem Sinne auch dieses Buch.

Ich muss mich heute Abend selbstverständlich in meiner Darlegung sehr beschränken und kann dadurch nur die Grundlinien darlegen. Der Ausgangpunkt meiner Überlegungen ist das Phänomen, das wir alle sehr bedauern, dass die Religion in der modernen Gesellschaft fast keine Rolle mehr spielt. Beten und Sonntagsgottesdienst haben weitgehend ausgedient. Nur ein paar christliche Bräuche haben sich bisher noch gehalten: Taufe, Erstkommunion, Firmung, kirchliche Beerdigung. Aber wie lange noch? Sonst braucht man Religion nicht mehr. Das bedeutet die praktische Leugnung einer höheren Wirklichkeit, Gott genannt, von dem alles und auch die menschliche Existenz völlig abhängig ist. Rein kulturhistorisch betrachtet ist das verblüffend. Denn die ganze Menschheitsgeschichte lang hat man in allen Kulturen Religion, das ist die organisierte Verbindung mit diesem Gott, für äußerst wichtig gehalten. Außerhalb der westlichen Kultur ist das sogar heute noch immer der Fall. Immer wieder hört man dort von religiösen Konflikten. Und der Fanatismus mit dem man andere Religionen oder abweichende Gestalten der eigenen Religion bekämpft, zeigt wie unendlich wichtig man die eigene Religion dort noch findet. Das war früher auch bei uns so. Wie heute die Muslime es unendlich wichtig finden, was der Prophet Mohammed im Namen Allahs gesagt hat, war es auch bei uns, in unserer Religion, früher unendlich wichtig, was die Kirche im Namen Gottes sagte. Nur ist das bei uns völlig vorbei. Was ist passiert, dass Religion in der westlichen Welt fast verschwunden ist, und zwar in kurzer Zeit, während sie anderswo noch wie eine Flutwelle über die Erde fegt?

Aber es gibt noch mehr. Die Existenz Gottes wird nicht nur vergessen, eigentlich implizit geleugnet, sie wird von vielen auch explizit geleugnet. Vor der Modernität war so etwas einfach undenkbar. Als erste haben Philosophen wie Feuerbach oder Marx oder Sartre das getan, aber das tun jetzt auch Wissenschaftler, vor allem Evolutionsbiologen. Und im Gegensatz zu den Philosophen können diese sich auf nachprüfbare Fakten berufen. Diese Fakten machen es ihnen unmöglich noch länger die Existenz einer außerkosmischen Person anzunehmen die nach Belieben in das kosmische Geschehen eingreifen könnte: Religion und Wissenschaft schließen einander einfach aus, sagen sie. Diese Idee würde vor ein paar Jahrhunderten Schwachsinn geheißen haben. Alle Grundleger der modernen Wissenschaften waren Gläubige. Denkt an Kopernikus, Van Helmont, Galilei, Kepler, Torricelli, Newton, um nur ein paar von ihnen zu nennen. Vor 1750 sah kein einziger Wissenschaftler auch nur den geringsten Widerspruch zwischen Wissenschaft und Religion. So stellt sich wieder die Frage: was ist geschehen, dass diese Haltung in relativ kurzer Zeit ins Gegenteil umgeschlagen ist? Um auf die Frage antworten zu können, müssen wir ein Stück weit in die Geschichte Europas zurückgehen.

Soeben habe ich die Jahrzahl 1750 genannt. Um diese Zeit öffnet sich in der westlichen Zivilisation ein Riss der allmählich zu einem tiefen Graben wächst. Diesen Riss nennt man die Aufklärung. Auf der einen Seite dieser Bruchlinie entwickelte sich der moderne Mensch. Auf der anderen Seite lebt der noch vormoderne Mensch weiter, der mittelalterlich denkende und fühlende Mensch. Auch im Mittelalter wusste man, dass ein Mensch nicht über Wasser schreiten kann, im Gegensatz zum Kreiselkäfer. Aber nicht weil die Gravitationsgesetze ihm das unmöglich machen, sondern die Oberflächenspannung die minimale Schwere des Kreiselkäfers aufwiegt. Es hatte für den vormodernen Menschen nichts mit Naturgesetzen zu tun, es war einfach so, weil der Schöpfer nun einmal entschieden hatte, dass Kreiselkäfer über das Wasser rennen können und der Mensch nicht. Aber wenn der Schöpfer das wollte, konnte er gelegentlich mal das menschliche Unvermögen über Wasser zu schreiten aufheben. Was er im Fall von Jesus und Petrus auch wirklich getan haben soll. Und auch zugunsten mehrerer Heiligen. Für Gott ist nun einmal nichts unmöglich, wie der Engel Gabriel sagte. Diese Denkweise heißt hetero-nom. Das griechische heteros- bedeutet nämlich der andere von zwei, und das griechische nomos bedeutet Gesetz. Eine andere und mächtigere Welt würde hier das Sagen haben. Daher der fromme Spruch, den man früher immer wieder hörte: Wenn’s Gott gefällt. Den hört man nun nur noch bei Muslimen in der Form Inch Allah: Wille Allahs. Aber so haben alle Kulturen immer und überall gedacht. Für den modernen, areligiös gewordenen Menschen kann das erstaunlich sein. Aber an sich ist es ganz und gar nicht erstaunlich. Es folgt nämlich geradlinig aus der Begegnung von zwei Faktoren.

Der erste Faktor ist ein unausrottbares Bedürfnis im Menschen nach Erklärung, nach einem Warum oder Wodurch. Man sieht es bei den kleinen Kindern, mit ihren unaufhörlichen Warum-Fragen. Und das haben sie nicht bei ihren Eltern gelernt, die möchten sogar oft lieber, dass sie damit aufhören. Es ist, um mit Kant zu reden, eine Apriorikategorie unserer Vernunft. Wir können nicht anders, als für alles was geschieht, eine erklärende Ursache zu suchen. Aber damals gab es vieles, das sich jeder Erklärung entzog, beängstigende Ereignisse wie Blitz, Donner, Erdbeben, Epidemien, aber auch wohltuende und lebensnotwendige, wie der Sonnenaufgang oder eine Geburt oder die Fruchbarkeit der Natur. Das Bedürfnis nach Erklärung, gepaart mit dem Mangel an einer innerweltlichen Erklärung, führte dazu, dass man eine Macht außerhalb dieser Welt postulierte die das alles wirkte. Man teilte auf diese Weise die Wirklichkeit in zwei Welten auf, die unsere und die von oben, die natürliche und die übernatürliche, die der unseren zwar einigermaßen ähnlich war, aber in jeder Hinsicht viel größer und besser und mächtiger. Sogar allmächtig. Und unsere war völlig von dieser übernatürlichen abhängig.

Der zweite Faktor ist die tief in uns schlummernde Ahnung einer alles tragenden tiefsten Wirklichkeit, die zugleich als ansprechbar geahnt wird, als ein Du. Ich werde später zeigen worauf sich die Behauptung stützt. Dieses völlig implizite Wissen wurde immer wieder geweckt, ins Bewusstsein gehoben durch die frequente Begegnung mit den soeben beschriebenen erklärungsbedürftigen Phänomenen.

Die Verbindung dieser zwei Faktoren erklärt das Phänomen Religion. Der Eindruck eines außerweltlichen Eingreifens, der erste Faktor, verwob sich mit jener Ahnung einer tiefsten, letzten Wirklichkeit. Und die Folge war, dass jene namenlose Wirklichkeit psychologisch die Gestalt einer außerweltlichen persönlichen Macht annahm und einen Namen bekam, Zeus oder Jupiter oder Jahweh oder Allah oder Gott. Und es wurde gedacht, dieser Zeus, Jupiter, Jahweh, Allah, Gott kann wirklich den Blitz schleudern und Regen senden und Fruchtbarkeit schenken und Günste verleihen. Oder umgekehrt, er kann zürnen und dann strafen mit Krankheiten oder Dürre oder Überschwemmungen oder einem zu frühen Tod. Jedes Mal wenn der vormoderne Mensch das ihn Übersteigende erlebte, dachte er, dadurch persönlichen Mächten aus der höheren Welt zu begegnen. Und die daraus entstehende Gewissheit, dass sie da waren und wirksam waren, prägte sich unauslöschlich in seine Psyche ein. Das erklärt m.E. dass Religion mit ihrer Verkörperung in Ritualen früher allgegenwärtig war. Man hatte nämlich alles Interesse daran, sich jene Mächte als Freund zu bewahren. Genau wie man am liebsten auch jene Mächte als Freund bewahrte, mit denen man im sozialen Leben zu tun hatte: Eltern, Meister, Fürsten und dergleichen. Und weil man aus Erfahrung wusste, was man tun sollte um mit diesen auf gutem Fuß zu stehen, dachte man spontan, dass man es am besten auch so tat mit jenen überirdischen Mächten: man sollte sie loben, ihnen danken, demütig ihre Macht anerkennen, tun was sie forderten, um Vergebung flehen. Wenn man das nicht getan hatte sie bitten um das, was man brauchte und sich selber nicht verschaffen konnte, ihnen Geschenke anbieten, d.h. Opfergaben bringen oder geloben für den Fall, dass man erhört würde. Da haben Sie das ganze Programm der traditionellen religiösen Praktiken.

Der erste dieser zwei Faktoren, das Unerklärliche vieler Naturereignisse, ist von den modernen Wissenschaften in relativ kurzer Zeit aufgeräumt worden. Als Beispiel dafür kann das so beängstigende Phänomen Blitz und Donner gelten. Schon im 17. Jahrhundert hatte Descartes die Vermutung geäußert, dass dies etwas ebenso Natürliches ist wie die Bildung von Wolken. Ca. 1750 entdeckte Benjamin Franklin, dass das auch wirklich so ist, dass Blitze gigantische elektrische Entladungen sind und dass man sich vor ihnen schützen kann. Dass es also um rein innerweltliche Prozesse ging. Denn vor einem Blitze schleudernden Gott kann man sich nicht schützen. Dadurch hatte wenigstens was den Blitz betrifft, ein Eingriff aus der anderen Welt ausgedient. Aber es zeigte sich bald, dass ähnliches auch für viele andere Phänomene galt, die man früher spontan dem Eingriff der übernatürlichen Welt zugeschrieben hatte. Auf die Dauer erwies sich sogar alles als innerweltlich erklärbar, selbst Stigmata, Visionen, Hellsehen, Gebetserhörungen, Maria-Erscheinungen und die sogenannten Mirakel, jene plötzlichen Heilungen die der Vatikan für seine Heiligsprechungen fordert. Alle Phänomene waren natürlich, nicht übernatürlich. Aber dadurch offenbarte jene andere Welt sich nirgendwo mehr. Ihre Existenz wurde zwar noch nicht geleugnet, nur war von irgendwelcher Tätigkeit ihrerseits stets weniger spürbar und auf die Dauer überhaupt nichts mehr. Und so geriet sie allmählich in Vergessenheit und verlor jede Kraft und jeden Wirklichkeitsgehalt. Im wissenschaftlich und technisch hoch entwickelten Westen starb der früher so tätige und eingreifende Gott einen stillen Tod. Für den modernen Menschen ist nämlich klar geworden, dass die Erklärung der Phänomene und Ereignisse nicht in einer anderen Welt zu suchen ist, sondern hier. Die Hetero-nomie, d.h. die Idee, dass eine andere Welt hier das Sagen hat und nach Belieben hier eingreift, wurde abgelöst von ihrer Antipode, von der Überzeugung dass der Kosmos seine Gesetzmäßigkeit, seinen nomos, in sich selbst – auf griechisch autos – hat, dass er also autonom ist, nicht abhängig von Mächten in einer zweiten Welt. Die Ereignisse folgen daher ihrem gesetzmäßigen, notwendigen Verlauf. Der vormoderne Mensch konnte noch denken, dass sie ihren normalen Verlauf nehmen aber durch einen Beschluss der übernatürlichen Welt gelegentlich auch mal anders verlaufen können. Nein, sagt der moderne Mensch, das können sie leider nicht, es gibt keine Möglichkeit über Wasser zu wandern, Brot zu vermehren, Wasser in Wein zu verwandeln oder einen verwesten Leichnam lebendig aus seiner Grabhöhle heraustreten zu lassen. Solche Erzählungen sind Mythen, im Sinne von „unglaubwürdigen“ Geschichten. Wer sie für bare Münze nimmt, lebt in einer überholten Weltanschauung, auf der anderen Seite der Bruchlinie des 18. Jahrhunderts, und wird in der modernen Welt zusehends ein Anachronismus.

Aber was für den Kosmos gilt, gilt auch für den Menschen. Der ist ja doch, so weiß die Modernität, durch Evolution aus dem Kosmos hervorgekommen. Auch er empfängt seine Gesetze nicht aus einer anderen Welt, nicht vom Sinai oder aus Rom oder Mekka. Sie liegen eingebettet in seinem eigenen Wesen, er soll sie dort suchen. Gebote aus der Höhe sind Fiktionen, göttliche Gesetze sind Projektionen von menschlichen Gesetzen. Meistens sind sie zwar weise und gut, aber ab und zu auch nicht. Dann soll man sie bekämpfen. Wie es die Modernität getan hat, indem sie z.B. die religiöse Intoleranz, die bis dahin gang und gäbe gewesen war, bekämpft hat.

Vorläufiges Ergebnis: in der Modernität, die ausgeht von der Autonomie des Kosmos und des Menschen ist für eine Religion, die ausgeht von ihrer Antipode kein Platz mehr. Eine alles bestimmende und nach Belieben eingreifende zweite Welt ist ein Mythos, ein Märchen. Dann wundert es auch nicht mehr, dass das Christentum im Westen ausgedient hat, wenigstens insoweit es heteronom und daher mythologisch denkt. Dieses „insoweit“ ist sehr wichtig, wie sich bald zeigen wird.

Aber es gab doch noch jenen zweiten Faktor, das Gespür im Menschen für eine alles tragende, tiefste Wirklichkeit? Gibt es dieses Gespür dann nicht mehr in der Modernität? Freilich gibt es das noch. Es gehört zum Wesen des Menschen. Aber es bekommt dort, wenigstens vorläufig, kein Bein mehr auf die Erde. Und das auch wieder aus zwei Gründen.

Erstens weil jene tiefste und letzte Wirklichkeit in der menschlichen Psyche immer in einer heteronomen Verkleidung aufgetaucht war, als ginge es um ein mächtiges Wesen in einer anderen Welt. Dadurch hatte man sie weitgehend mit dieser Verkleidung identifiziert. Aber im modernen Bewusstsein ist für ein solch heteronomes Wesen kein Platz mehr. Andererseits war noch keine Gottesvorstellung vorhanden, die die Autonomie von Kosmos und Menschheit zu integrieren vermochte. Solange diese Ahnung einer tiefsten Wirklichkeit sich nur heteronom auszudrücken vermag, ist Atheismus die einzige vernünftige Haltung, die dem modernen Menschen bleibt.

Der zweite Grund warum in der Modernität jene Ahnung einer tiefsten Wirklichkeit scheinbar fehlt, ist die Faszination durch das unendliche Angebot von Möglichkeiten, die dem modernen Menschen dank der technologischen Entwicklung nur so in den Schoß fallen. Seinerzeit war das Leben ein täglicher Überlebenskampf. Jetzt sind wir besser dran als der Sonnenkönig Ludwig XIV. in Versailles. Dieser verfügte nicht im Entfernesten über einen wohnlichen Komfort, eine medizinische Versorgung, ein Nahrungsangebot, eine Mobilität, ein Kommunikationssystem usw., worüber jetzt der Durchschnitt der Menschen im Westen verfügt. Wir können dafür nur dankbar sein. Aber dadurch geht es dem modernen Menschen wie den Kindern mit Weihnachten: Wie sie (wenigstens vorläufig) nur noch Augen haben für die wunderbaren Dinge, die das Christkind gebracht hat, so hat der moderne Mensch (wenigstens vorläufig) nur noch Augen für das stets Neue, das die moderne Technologie ihm anbietet. Und er hat kein Auge mehr für den tiefsten Grund aller Dinge, auch nicht seiner eigenen Existenz, für das Göttliche. Unsere Augen vermögen nur mit großer Mühe zugleich zu schauen was fern ist und was nahe ist.

Die Idee eines Gottes, der hier souverän eingreifen könnte, widerspricht nicht nur der Autonomie des Menschen und des Kosmos, sie würde dazu noch alle wissenschaftlichen Gewissheiten zerstören. Diese stützen sich ja auf die inneren Gesetzmäßigkeiten der natürlichen Prozesse. Eingriffe von außen würden diese wissenschaftlichen Gesetze reduzieren zu allgemeinen Regeln mit immer möglichen Ausnahmen, zu statistischen Wahrscheinlichkeiten. Und die ganze Technologie, die sich auf diese Gesetze stützt, würde ihre Verlässlichkeit verlieren. Für die modene Wissenschaft und die auf ihr gebaute moderne Zivilisation ist es darum unbedingt notwendig, die Idee einer zweiten Welt, die uns beherrschen würde, mit aller Kraft zu bekämpfen. Das erklärt die atheistische Aggressivität, die aus Werken spricht wie „Der Gotteswahn“ vom englischen Evolutionsbiologen Richard Dawkins oder „Gott ist nicht groß“ von Christopher Hitchens.

Und mit diesem fast fanatischen Glauben der Modernität an die Autonomie des Kosmos und des Menschen vor Augen sollen wir nun einmal unser Credo betrachten. Ein schrofferer Gegensatz ist kaum denkbar. Das Credo bekennt gleich am Anfang den Glauben an einen Gott, Schöpfer des Himmels und der Erde. Das beinhaltet doch die völlige Abhängigkeit der ganzen kosmischen Wirklichkeit von einer übernatürlichen Welt, die denn auch nach Belieben eingreifen kann. Kurz: Heteronomie pur. Und es folgt gleich eine Aneinanderreihung von Eingriffen aus jener Welt in die unsrige: aus dem Himmel herabgestiegen, geboren aus einer Jungfrau, auferstanden aus dem Tod, aufgefahren in den Himmel, von dort wird er kommen zu richten, usw. Schlussfolgerung: der überlieferte Glaube und das moderne Denken schließen einander aus. Nur ist das ein Trugschluss. Die richtige Schlussfolgerung ist: die überlieferten Glaubensformulierungen und das moderne Denken schließen einander aus. Es ist nämlich sehr wichtig gut zu unterscheiden zwischen Formulierung und Erfahrung. Unser jüdisch-christliches Glaubensbekenntnis ist nur die Formulierung befreiender Erfahrungen. In einer ersten Phase ging es dabei um befreiende Erfahrungen des jüdischen Volkes, die das Wirken einer transzendenten Wirklichkeit ahnen ließen. Es nannte sie Elohim oder Jahweh und es stellte sich diese Wirklichkeit wohl sehr anthropomorphistisch vor. In einer zweiten Phase ging es um Erfahrungen einer kleinen Gruppe Juden bei ihrer Begegnung mit einem äußerst inspirierten und inspirierenden Menschen, Jesus aus Nazareth, nicht nur während seines Lebens, sondern auch noch nach seiner Hinrichtung. All diese Erfahrungen gehörten zu dem,was absolut ist, transzendent, ewig. Die Formulierungen dieser Erfahrungen gehörten zu dem was relativ ist und vorläufig, waren zeitbedingt und kulturbedingt. Und wie alles in der Vergangenheit, waren sie durch und durch heteronom, mythologisch. Erlaubt mir einen trivialen Vergleich: Wenn der Konditor Creme auf eine Torte spritzt, nimmt der Strahl immer die Dicke und die Form des Ausgangs der Cremespritze an. Die Glaubensformulierung nimmt immer die Form der herrschenden kulturbedingten Vorstellungen an, die die Psyche prägen, durch welche die Tiefenerfahrung des Absoluten ins Bewusstsein aufsteigt. Aber in den 250 Jahren seit der Aufklärung hat die westliche Kultur eine Wende von fast 180 Grad gemacht. Unter dem Einfluss der Wissenschaften und der daraus geborenen Technologie hat sich die heteronome Weltanschauung in eine autonome gewandelt. Die latente Ahnung des Absoluten in der menschlichen Tiefe bleibt zwar dieselbe, aber die Psyche in der sie hinaufsteigt und die Vorstellungen, mit deren Hilfe sie sich äußern soll, haben sich gewandelt. Dann wird unvermeidlich auch diese Äußerung sich wandeln. Und das ist zugleich unbedingt erforderlich. Denn die früheren heteronomen Vorstellungen sind für Menschen, deren Bewusstsein von der Autonomie geprägt ist, unverständlich geworden. Sie erkennen in ihnen die Stimme des Absoluten nicht mehr, die die frühere Kultur darin wohl erkannte. Die überlieferte Glaubenssprache wird eine Fremdsprache, eine nicht mehr verstandene und daher leere Sprache. Als im 2. Vatikanischen Konzil das Latein in der Liturgie durch die Landessprachen ersetzt wurde, zeigte dies, dass auch die Kirchenführung das endlich zu merken anfing. Aber auch in der Landessprache verkörpern die mittelalterlichen Texte und Rituale noch immer dieselben überholten Vorstellungen. Das erklärt zum größten Teil das Wegbleiben der jüngeren Generation aus den Sonntagsgottesdiensten. Gerade diese Generation verkörpert die Modernität. Ihr Wegbleiben ist das Menetekel.

Wie sollen wir dann unsere Glaubenserfahrung heute wohl formulieren? Anders als früher. Neu. Und diese Neuformulierung muss anfangen mit einem neuen Reden über Gott und Schöpfung. Denn der Konflikt zwischen Glaube und Wissenschaft hängt wesentlich damit zusammen. Die Wissenschaften können den Kosmos nicht länger abhängig denken von einer außerkosmischen und frei eingreifenden Allmacht – und gerade das scheint doch Schöpfung zu implizieren. Und unser Credo fängt gerade an mit: Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater, Schöpfer des Himmels und der Erde. Kann ein moderner Mensch jene völlige Abhängigkeit bekennen und zugleich die Autonomie des Kosmos handhaben? Freilich kann er das. Ich werde versuchen zu zeigen wie.

Fragen wir uns erst woher der Begriff Schöpfung stammt. Aus der menschlichen Erfahrung. Wir verwenden ihn, wenn wir sehen wie Menschen neue Dinge erschaffen. Bei diesem Schaffen vergessen wir zwar meistens, dass es um mehr geht als um produzieren. Erschaffen, und daher Schöpfung, schließt ein, dass Menschen etwas sichtbar oder hörbar machen das unsichtbar, unhörbar in ihnen lebt. Erschaffen ist daher sich selbst ausdrücken. Wir wissen das, denn von der Maschine sagen wir nicht, dass sie schafft: sie produziert. Sie hat ja kein geistiges Inneres, das sich in der Materie ausdrücken könnte. Aber auf dieses Mehr achten wir meistens nicht. Wir achten wohl darauf, wenn wir von Kunstschöpfungen reden. Ein Künstler drückt in seinem Werk sich selbst, sein geistiges Inneres aus. Diese innerweltlichen Begriffe – erschaffen und Schöpfung – verwenden wir nun um das Verhältnis zwischen Gott und Kosmos zu deuten. Dafür sind wir dem religiösen Erfühlen des jüdischen Volkes tributpflichtig. Was Gott mit dem Menschen und dem Kosmos tut, ist in diesem Erfühlen einigermaßen vergleichbar mit dem was der Mensch tut, wenn er etwas schafft. Gott ist wie ein Töpfer (so in Jeremia Kap. 18) oder wie ein Bildhauer (so in Genesis Kap. 2). Begriffe wie Töpfer oder Bildhauer oder Maler und auch schaffen und Schöpfung, schleppen bei ihrer Anwendung auf das Verhältnis zwischen Gott und Kosmos immer etwas mit sich, das sie für den modernen Menschen unbenutzbar zu machen droht. Künstler und Kunstwerk, Schöpfer und Geschöpf sind nämlich nicht nur unterschiedliche Wirklichkeiten, nein, sie bestehen unabhängig von einander, sind von einander geschieden. Dadurch scheint der Begriff Schöpfung wesentlich einen Schöpfer außerhalb unserer Welt einzuschließen. Und für einen modernen Menschen gibt es diese „zweite Welt“ nicht.

Aber Schöpfung braucht das nicht einzuschließen, auch die menschliche nicht. Es gibt nämlich auch Kunstformen in denen der Künstler und sein Kunstwerk zwar von einander unterschieden bleiben, also nicht restlos zusammenfallen, aber dennoch nie von einander geschieden existieren können. Solche Kunstschöpfungen sind so intim mit dem Künstler verbunden, dass das Ende seiner schöpferischen Tätigkeit auch das Ende des Kunstwerkes bedeutet, was nicht der Fall ist beim Bildhauen oder Malen. Denkt z.B. an Ballet oder Orgelimprovisation oder Gesang. Sobald der Künstler aufhört zu tanzen oder zu improviseren oder zu singen, hört auch das Kunstwerk auf zu existieren. Es ist im Grunde nichts anders als das Innere des Künstlers das sichtbar oder hörbar wird, sein Selbstausdruck, aber nicht voll und ganz. Das Kunstwerk schöpft sein Inneres nicht aus. Es handelt sich nur um eine Momentaufnahme seines Inneren. Dieses Innere kann sich auf noch viele andere Weisen sichtbar oder hörbar machen. Denkt z.B. an das, was ich jetzt tue: reden. Auch das ist Selbstausdruck in der Materie: ich produziere Luftschwingungen um zu äußern, herauszubringen was in meinem Inneren lebt, damit es für Sie zugänglich wird. Mein Reden kann im Gegensatz zu einem Gemälde kein unabhängiges Dasein führen. Dennoch ist es nicht einfach mit mir identisch. Mein Inneres ist reicher als jedes Wort in dem es sich ausspricht, es transzendiert jedes meiner Worte, weil jedes meiner Worte immer unendlich viel unausgedrückt lässt, mein Inneres also nicht ausschöpft. Schöpfte es mein Inneres restlos aus, dann hätte ich einfach nichts mehr zu sagen, könnte ich weiter nur noch schweigen.

Im selben Sinn können wir den Kosmos Gottes Schöpfung oder Geschöpf nennen. Nicht als etwas außer ihm, wie im heteronomen Denken und wie die Bibel denkt und redet, aber als seinen unaufhörlichen Selbstausdruck, seine aktuelle und progressive Selbstoffenbarung in materiellen Formen, die nie sein Wesen ausschöpfen, die er also immer übersteigt, transzendiert. Gott bleibt stets größer, stets transzendent seiner Schöpfung gegenüber. Dadurch unterscheidet sich diese Vorstellung von einer pantheïstischen. So gedeutet, als materielle Selbstoffenbarung der geistigen Urwirklichkeit, ist der Begriff Schöpfung auch in der Modernität sinnvoll. Denn so über Gott zu reden an-erkennt voll und ganz die menschliche und kosmische Autonomie. Jegliches Eingreifen von auswärts (die fast obsessive Besorgnis der Modernität) ist a priori ausgeschlossen. Denn der Name „Gott“ deutet dann auf das tiefste geistige Innere des Kosmos, die Urwirklichkeit, die sich als Kosmos sichtbar macht. Aber das tiefste Innere kann doch nie als von außen eingreifend gedacht werden. Die kosmischen Gesetze können daher nie durch einen göttlichen Eingriff aufgehoben oder durchbrochen werden. Denn auch sie gehören zum Selbstausdruck der tiefsten geistigen Wirklichkeit. Also Schluss mit den Mirakeln von denen die Bibel voll ist. Die sind nur in der Heteronomie und daher in der Mythologie zuhause. Aber wir sollen den Namen „Gott“ nicht zu leicht in den Mund nehmen. Denn er hat immer auf ein allmächtiges Wesen außerhalb des Kosmos gedeutet. Und die Gefahr ist groß, dass man dadurch unbewusst anfängt wieder heteronom zu denken. Wir sollen uns bewusst bleiben, dass dieser Name in Wirklichkeit auf das unfassbare und alles umfassende Wunder deutet, von dem alle kosmischen Energien und Prozesse und auch wir selber die erstaunliche Offenbarung sind. Eine solche Schau ist auch ein mächtiges Stimulans für Naturschutz und zum Einsatz für die Menschenrechte. Natur und Mensch erscheinen dann nämlich als Selbstoffenbarungen einer Wirklichkeit die absolut heilig ist.

Die Heteronomie, das vormoderne religiöse Denken, hat also Recht, insoweit es einen transzendenten Schöpfer bekennt, hat Unrecht, insoweit es sich diesen als eine Wirklichkeit außerhalb des Kosmos vorstellt. Die Modernität ihrerseits hat Recht, insoweit sie die Autonomie des Kosmos und des Menschen bekennt, Unrecht, insoweit sie um diese zu handhaben eine göttliche Wirklichkeit ausschließt, weil sie durch die Schuld der heteronom denkenden Gottesverehrer, das Wort „Gott“ heteronom auffasst. Was ich skizziert habe, ist der Versuch einer Versöhnung dieser zwei scheinbar unversöhnlichen Gegner.

Aber lasse ich damit dem christlichen Reden über Gott Gerechtigkeit widerfahren? Denn ehe wir Gott als Schöpfer bekennen, bekennen wir ihn doch als Vater? Und kann ich jene namenlose, unfassbare, geistige Urwirklichkeit mit Vater anreden? Freilich kann ich das. Denn Vater ist eine reine Metapher, lauter bildliche und insoweit mythologische Sprache, die zurückgeht auf Jesus und die für ihn als Jude zwei Dinge zugleich umfasste die in einem Spannungsverhältnis stehen. Einerseits das Element Sorge, Liebe, Zärtlichkeit, Schutz, genau wie in unserem Begriff Vater, andererseits und viel stärker ausgeprägt als bei uns, das Element Forderung, Autorität, mit der entsprechenden Pflicht des Gehorsams. Wenn Jesus mit diesem Wort seine Erfahrung des Göttlichen audrückt, sagt er von der heiligen Urwirklichkeit sowohl dass sie Liebe ist, als dass sie Anforderungen an uns stellt, dass von ihr ein Appell zur Selbstübersteigung ausgeht. Und das bekennt denn auch der moderne Christ: er bekennt einerseits dass die Urwirklichkeit eine absolute Liebe ist, die im Laufe der kosmischen Geschichte allmählich Gestalt annimmt. Andererseits bekennt er dass diese Urliebe unaufhörlich Anforderungen an uns stellt. Sie will sich nämlich stets deutlicher offenbaren und ruft daher den Menschen fortwährend auf, stets mehr Mensch zu werden, innerlich stets freier und fähiger aus sich selbst zu treten. Denn sie offenbart sich als nie pausierende Evolutionsbewegung.

Diese Sicht wird nicht nur unserem Bekenntnis von Gott als Schöpfer und Vater gerecht, sondern Evolution und Schöpfung erscheinen darin nicht länger wie Feuer und Wasser, wie im frommen Creationismus, der die Evolution verwirft oder im modernen Atheïsmus, der die Schöpfung verwirft. Schöpfung und Evolution sind dann zwei Namen für dasselbe. Wer Schöpfung sagt, bekennt dass eine Urliebe, die wir mit Ehrfurcht „Gott“ nennen, sich im Kosmos und vor allem im Menschen sichtbar macht. Und lässt außer Betracht, dass diese Selbstoffenbarung ein unvorstellbar langsamer Prozess ist, eine Milliarde Jahre dauernde Evolution auf die Werdung des Menschen hin. Wer Evolution sagt, lässt diesen Aspekt der göttlichen Selbstoffenbarung, des göttlichen Selbstausdrucks, außer Betracht. Er leugnet diesen darum nicht. Er achtet nur auf die Entwicklung, die sich aus Kraft der innerkosmischen Gesetze im Laufe der geologischen Perioden allmählich vollzieht. Alles folgt dabei seinem natürlichen Verlauf ohne Eingriffe von außen. Aber gerade so, bekennt der moderne Gläubige, erreicht die göttliche Selbstoffenbarung in der Materie ihre endgültige Gestalt. So ist hoffentlich klar geworden, dass man einerseits die Evolution offen bejahen kann und andererseits ebenso offen die Schöpfung. Wenn wir den Anfang unseres Credos so verstehen, kommen wir auf keine Weise in Kollision mit der Modernität.

Am Anfang habe ich gesagt, dass wir eine sehr implizite Ahnung der ultimen Wirklichkeit haben. Jetzt kann ich das begründen. Wenn die göttliche Urwirklichkeit letztendlich Gestalt annimmt im Menschen, ist das kleine “Selbst” des Menschen nichts anderes als das unendliche Selbst jener Urwirklichkeit, das in ihm Gestalt annimmt. Aber in jedem Bewusstseinsakt sind wir uns selbst mit bewusst. Bewusstsein ist immer implizit auch Selbstbewustsein. Auf dem Hintergrund jedes Bewusstseinsaktes ist man denn auch sehr implizit des großen göttlichen Selbst bewusst, das sich ja in unserem kleinen Selbst offenbart und ausdrückt.

Aber sehen wir auch was sich aus dieser modernen Gottesvorstellung ergibt? Nichts weniger als der völlige Zusammenbruch aller folgenden Artikel des Glaubensbekenntnisses. Denn dann ist Jesus von Nazareth keine göttliche Person, die aus dem Himmel auf die Erde herabgestiegen ist, jene himmlische Welt gibt es nämlich nicht, und er ist nicht aus einer Jungfrau geboren, denn Paarung ist die unumgängliche Bedingung für Schwangerschaft und Geburt, und er ist nicht auferstanden am dritten Tag, denn der Tod bedeutet den irreversiblen und raschen Abbau aller Lebensfunktionen, an erster Stelle der Gehirnfunktion. Und es gibt keine außerkosmische Macht, die diese biochemische Katastrophe plötzlich wieder rückgängig machen könnte. Und auch seine Himmelfahrt und seine Wiederkunft zum Gericht kann man vergessen. All diese Artikel unseres Glaubensbekenntnisses setzen die Existenz einer anderen, übernatürlichen Welt voraus und Eingriffe aus dieser Welt in die unsrige. Ebensowenig bleibt etwas übrig von den meisten anderen Vorstellungen, die die Kirche als unfehlbare Wahrheit vorhält. Denn dann sind zum Beispiel dem Mose nicht eines Tages von Gott auf dem Sinai 10 Gebote mitgeteilt worden und hat der Papst keine aus dem Himmel kommende Macht und Unfehlbarkeit und ist die Bibel ebenso wenig wie der Koran der Niederschlag von Offenbarungen aus der Höhe und also keineswegs Wort Gottes, und hat es keinen Sinn mit Opfern bei Gott im Himmel etwas erzielen zu wollen usw. usf.

Ist es möglich all dieses Traditionsgut zu retten? Die mythologischen Formulierungen auf keinen Fall. Aber man kann die Botschaften die sie enthalten, herausschälen und sie so formulieren, dass sie nicht mehr kollidieren mit der richtigen Grundintuition der Modernität, dass es keine übernatürliche Welt gibt. Gerade das ist es, was mein Buch versucht. Ich will das auch heute Abend versuchen, ganz kurz und nur für einen einzigen Punkt, den letzten der oben aufgelisteten, nämlich für das Opfer und für die damit zusammenhängende Sühne- und Erlösungslehre und das Reden von Kreuzesopfer und von Messopfer.

In der christlichen Sprache deutet Opfer stets auf das kultische Opfer. Dieser Begriff ist in allen Religionen bekannt und seit undenklichen Zeichen praktiziert worden. Es beinhaltet, dass man einer Macht in der anderen Welt ein Geschenk anbietet, meistens in der Form des Tötens (wie beim Menschenopfer und dem stellvertretenden Tieropfer) oder Verbrennens oder Ausgießens. So gehört das Geschenkte nicht mehr zu unserer Welt. Das setzt natürlich die Erwartung voraus, dass dieses Geschenk jene Macht erfreuen wird, sie wohlwollend stimmen wird. Denn die Absicht ist stets, von ihr etwas im Tausch zu erhalten nach dem Prinzip do ut des ... Hinter dem Opferbrauch steckt aber ein Gottesbild, das seit Jesus endgültig unhaltbar geworden ist. Eigentlich war es vom Anfang an unhaltbar. Nur merkte man es meistens nicht. Denn wie erscheint Gott in diesem Gottesbild? Als ein Herrscher, den man mit Geschenken dazu bringen kann seine Pläne zu ändern, den man also im Grunde bestechen kann. Oder der sich besänftigen lässt und seine Entscheidung zu strafen nicht ausführt, weil man ihm etwas anbietet, das er offensichtlich gerne haben möchte, als ob ihm das fehlte. Oder der Menschenopfer fordert um wieder gnädig zu sein. Also kurz das Bild einer leicht gekränkten, jähzörnigen, gleich mit schrecklichen Strafen drohenden, auf Ehrungen erpichten, bestechlichen Machtgestalt. Aber das ist doch ein beschämendes, elendes, ekelhaftes Gottesbild? Wie könnte man je einen solchen Gott lieben mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele? Dennoch hat die Kirche unbewusst dieses Gottesbild gehegt, wie es ihr Reden vom Kreuzesopfer und Messopfer beweist.

Aber im Christentum hat das kultische Opfer völlig ausgedient. Christen schlachten keine Schafe oder Rinder mehr um Gott zu ehren und etwas von ihm zu bekommen. Im modernen Sprachgebrauch verwenden wir Opfer nur noch für die Geschädigten bei Katastrophen und Unfällen und Attentaten jeder Art. Mit Ausnahme vielleicht von ein paar Restbegriffen wie Opferstock, Opfergeld, Opferkerzen hat das Wort bei uns jede religiöse Konnotation verloren. Aber dann kann es auch nicht mehr dazu dienen für den modernen Menschen etwas Problematisches auf eine sinnvolle, ansprechende Weise zu deuten und zu verdeutlichen. Ganz konkret um das völlig Problematische und Unannehmbare, an sich Sinnlose, des Todes Jesu am Kreuz als sinnvoll erscheinen zu lassen. Das kultische Opfer konnte das damals wohl, als es noch zur lebenden Kultur gehörte und dort als sinnvoll erlebt wurde, wie bei Paulus und seinen Zuhörern und Adressaten. Für sie alle war Opfer ein sinnvoller Brauch. Dazu verband die Torah das kultische Opfer aufs engste mit dem Willen Jahwehs. Gerade die Allgegenwärtigkeit des Opfers und das Gewicht jenes vermeintlichen göttlichen Willens erklären, dass Paulus und seine Zuhörer blind blieben für das Verwerfliche des Gottesbildes, das sich hinter dem kultischen Opfer versteckt. Dadurch war es für ihn auch ein Leichtes den Kreuzestod Jesu als kultisches Opfer zu deuten und zur Frohbotschaft aufzuwerten. Aber das geht nicht mehr, gerade wegen der Unhaltbarkeit des Gottesbildes das sich hinter dem kultischen Opfer verbirgt. Dem modernen Gläubigen sind dafür die Augen aufgegangen. Eigentlich dürfte das Opfer in einer Glaubensgemeinschaft die sich vom Gottesbild Jesu inspirieren ließ nie eine Chance gehabt haben. Denn wie dieses Gottesbild war, kann man ablesen aus seiner Anrede „Abba“. Zwar dachte er noch weitgehend heteronom und sein Gottesbild war noch nicht einheitlich, wenigstens wenn die Worte von Strafe mit ewigem Feuer seine Worte sind. Auch er war noch geprägt vom Alten Testament mit seinem noch viel widersprüchlicheren Gottesbild. Aber es steht außer Zweifel, dass Jahweh-Gott für ihn der Abba war. Und man kann Gott doch nicht Abba nennen und zugleich denken, dass man diesem Abba eine Freude bereitet, indem man ein armes Schaf schächtet, sodass es zuckend verendet. Oder indem man etwas Schönes oder Wertvolles vernichtet? Und ganz und gar nicht mehr, wenn man dem lieben Abba zu Ehren einen Menschen schlachten würde. Aber reden von Kreuzesopfer ist reden von Menschenopfer. Und diese Kultform ist schon längst bei fast allen Kulturen verpönt.

Also Kreuzestod, kein Kreuzesopfer. Übrigens, wer hätte Jesus wohl dem Abba geopfert? Seine Henker vielleicht? Dann wären diese gemäß der traditionellen Theologie unsere Erlöser gewesen. Oder er selber? Aber er hat sich selber doch nicht geschlachtet? Dazu wäre das ein ritueller Selbstmord. Und auf jeden Fall wäre sein Opfertod ein Fall von Menschenopfer. Aber das Bild eines Gottes der Menschenopfer fordert, damit er aufhört zu zürnen und bereit wird der Menschheit zu vergeben, ist für die moderne Empfindsamkeit haarsträubend. Beim Tod Jesu am Kreuz von einem gottgefälligen Sühneopfer zu reden, ist denn auch widerlich. Und alles was man sagt von der Erlösung durch das Blut Jesu, atmet dieselbe Ekelhaftigkeit. Zum Glück gibt es keinen solchen zürnenden und blutrünstigen Gott. Die damals so hoch gepriesene Opfertheologie, mit der Paulus das Sinnlose des Kreuzestodes Jesu als sinnvoll darzustellen versucht, ist für einen modernen Gläubigen völlig wertlos geworden, ein absoluter Fehlgriff. Leider sind seit ihm das Neue Testament und die Liturgie und die Dogmatik und die Verkündigung und die Frömmigkeit voll davon. Das erklärt fromme Reaktionen wie diese. Gegen Ende des zweiten Weltkrieges, als die alliierte Luftwaffe verheerende Bombenangriffe auf deutsche Städte ausführte, auch auf Mainz, bot die ganze Gemeinschaft der Karmelitinnen von Mainz sich Gott als Sühneopfer an, damit er (oder die Amerikaner) die Stadt schonen sollte. Am 27. Februar 1945 explodierte eine 1000 Kilo schwere Bombe ganu nahe am Luftschutzkeller der Schwestern. Nach dem Angriff fand man sie dort alle beisammen, tot. Der Stadt blieben weitere Angriffe erspart. Die Reaktion der Mainzer war einstimmig: Gott hat ihr Opfer angenommen und uns geschont. Aber von welchem Gott redet man dann? Offensichtlich nicht vom Abba Jesu, sondern von einem Herrscher, den man mit Menschenopfern bewegen kann seine destruktiven Pläne aufzugeben. Ein moderner Gläubiger kann wohl noch von Erlösung durch den Tod Jesu reden, aber dann soll diese Erlösung unbedingt existentiell, innerweltlich verstanden werden. Nicht nur das was einen Eingriff aus einer übernatürlichen Welt voraussetzt ist für ihn undenkbar geworden. Auch alle Erklärungen die sich in jenem luftleeren Raum bewegen, die nicht irgendwie innerweltlich, existentiell nachweisbar sind. Erlösung ist daher nicht etwas das sich ohne uns ereignen könnte, etwas wodurch wir in den himmlischen Registern als erlöst eingetragen sein sollten, mit allen damit verbundenen Rechten, wie dem Recht auf himmlische Seligkeit nach unserem Tod. Erlösung ist nur dann etwas Wirkliches, wenn sich im Erlösten eine existentielle, erfahrbare Änderung vollzieht, wenn er nachweisbar von etwas befreit wird. Denn erlösen ist doch dasselbe wie befreien? Und gerade das erwirkt die selbstlose Menschenliebe Jesu, die ihn bereit machte, für seine Verkündigung der Frohbotschaft alles übrig zu haben, auch sein Leben. Die Anziehungskraft dieser Haltung bewegt uns zur Nachfolge, macht es selbstverständlich, dass auch wir selbstlos auf den Mitmenschen zugehen. So entsteigen wir jener geistigen Schwerkraft in uns die uns fesselt, uns unfrei, erlösungsbedürftig, untermenschlich macht. Die Grundhaltung Jesu vermag eine Anziehungskraft auf uns auszuüben, weil sie die Sichtbarwerdung der schöpferischen Urliebe ist und weil diese uns zu einer ähnlichen Liebe zieht oder drängt. Auf diese Weise innerweltlich, existentiell gedeutet, ist Erlösung auch für einen modernen Ungläubigen zugänglich, ist sie für ihn kein leerer Wortkram mehr. Das verdiente zwar noch länger dargelegt zu werden, aber ich soll unbedingt noch etwas über einen anderen kirchlichen Fehlgriff sagen, nämlich über das Beharren bei einer Deutung der Eucharistie als kultisches Opfer.

Diese Deutung ist schon darum ein Fehlgriff, weil das kultische Opfer reine Heteronomie ist. Das habe ich soeben gezeigt und das würde schon reichen um diese Deutung zurückzuweisen. Aber sie ist auch noch ein Fehlgriff, sogar selbst wenn man vormodern denkt, weil die Deutung des Kreuzestodes Jesu als kultisches Opfer eine ähnliche Deutung der Eucharistie von vornherein ausschließt. Das Kreuzesopfer soll nämlich ein Opfer von unendlichem Wert gewesen sein – heißt es – das ein für alle Mal die Sünden getilgt und uns mit Gott versöhnt hat. Dann bedarf es auch keiner Ergänzung durch andere Opfer mehr und erträgt diese nicht einmal. Dennoch unterstreicht das Konzil von Trient mit Kraft, dass die Eucharistie ein wirkliches Opfer ist, und zwar ein Opfer von unendlichem Wert und die ganze Messliturgie ist von Opfertheologie durchtränkt. Und der Vatikan fordert immer wieder, dass man die Eucharistie so deutet und nur so deutet und nicht um Haaresbreite von dieser Deutung abweicht.


Das Konzil von Trient hat schon das Problem der zwei Opfer erkannt und hat versucht sich zu retten, indem es das Messopfer nicht ein anderes Opfer, sondern die repraesentatio des Kreuzesopfers nannte. Aber was meinte es mit diesem Wort? Etwas wie „Gegenwärtigmachung“? Aber ein historisches Ereignis wie der Tod Jesu ist wesentlich zeit- und ortsgebunden, gehört zu einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort und kann daraus nicht weggeholt und in eine andere Zeit und einen anderen Ort überführt werden. Und wenn es Darstellung, fast Vorführung, Aufführung bedeuten sollte, etwas wie ein Bühnenstück, hört es auf ein wirkliches Opfer zu sein. In der Volkstheologie ist jener neblige Begriff repraesentatio des Kreuzesopfers dann als Wiederholung oder Erneuerung des Kreuzesopfers aufgefasst geworden. Das war zwar deutlicher, ist aber undenkbar. Was absolut einmalig ist schließt Wiederholung aus. Und was Jesus damals getan hat, braucht nie erneuert, aufgefrischt, renoviert zu werden. Es verliert nie seinen Wert. Außerdem, wenn das Messopfer ein Opfer von unendlichem Wert ist, braucht es doch nicht täglich unzählige Male wiederholt zu werden? Einmal unendlich oder eine Million Mal unendlich ist mathematisch doch genau dasselbe, nämlich unendlich.

Wie soll ein moderner Gläubiger dann wohl die Eucharistie deuten? Als Gedächtnis des Letzten Abendmahles Jesu. Diese Deutung führt uns nicht hinauf in die ätherischen Regionen einer anderen Welt, jenseits jeder existentiellen Erfahrung. Gedenken ist ja etwas innerweltliches und es macht den geliebten Menschen, dessen man mit Wärme und Bewunderung gedenkt, in einem gewissen Sinne präsent. Besonders dann, wenn man seiner selbst und seiner Tat gedenkt, die der Höhepunkt und die Kurzfassung seines Selbstausdrucks ist. Und das war ja doch das Letzte Abendmahl. Diese Präsenz bewegt und ändert etwas in uns, sie erfreut, tröstet, erleuchtet, ermutigt, mahnt uns. Und weil Präsenz immer reale Präsenz ist – oder sie ist einfach keine Präsenz – bleibt man einerseits mit dieser Vorstellung der Tradition der realen Präsenz treu, aber entkommt andererseits dem Treibsand des Materialismus dieser Tradition. Das sollte länger erklärt werden, ebenso wie man mit dieser Deutung der Eucharistie die Sackgasse der vormodernen Lehre der Transsubstantiation vermeidet. Aber ich habe schon zu lange geredet.

Ich möchte enden mit einer ganz wichtigen Bemerkung. Auch mit vormodernen, also heteronomen Vorstellungen kann man tief gläubig sein und ein beispielhafter Christ. Auch Jesus selber dachte heteronom, wie die ganze kirchliche Vergangenheit, und diese ist voll von Figuren die bezüglich Menschlichkeit wahre Riesen sind. Aber wer heute bei der Heteronomie bleibt, verpasst mit seiner Verkündigung den Anschluss an die Modernität. Und das wäre für die moderne Welt eine Katastrophe. Denn die Modernität bedarf nicht weniger als die Vergangenheit der befreienden Botschaft Jesu.

Zum Autor:

Roger Lenaers ist 1925 in Ostende an der belgichen Nordseeküste geboren. Er trat 1942 dem Jesuitenorden bei, studierte Philosophie, Theologie und Altphilologie. Als Altphilologe übte er einflussreiche Tätigkeiten auf dem Gebiet der Didaktik der alten Sprachen in Flandern aus. Er wirkte auch an der Überstezung des Kirchenvolks-Begehrens in Belgien mit. Als Theologe war er aktiv im Religionsunterricht am Gymnasium und an der pädagogischen Hochschule, schrieb mehrere Aufsätze und hielt Vorträge über die Folgen der Modernität und der Säkularisation für die katholische Schule. 2001 und 2003 erschienen zwei längere Essays über die Folgen der Modernität für die Kirche als Ganzes und für die Neuformulierung ihrer Glaubenslehre. Das erregte großes Aufsehen in Flandern. Roger Lenaers verarbeitete anschließend die zwei Essays zu einem Buch, dessen Übersetzung in deutsche Sprache nunmehr vorliegt und in Wien präsentiert wurde. Zurzeit ist P. Lenaers Pfarrer in Vorderhornbach, Tirol.