Ein kritischer Rückblick zum Priesterjahr: Was hat es gebracht?

 

19.12.2010, Gisbert Greshake

Der Beitrag ist der HERDER KORRESPONDENZ 64 7/2010 entnommen.

Am 11. Juni ging das von Benedikt XVI. ausgerufene Priesterjahr zu Ende. Gisbert Greshake zieht eine Bilanz dieses Jahres, die vor allem im Blick auf das Priesterbild der Kleruskongregation kritisch ausfällt.

Am 19. Juni 2009 rief Benedikt XVI. aus Anlass des 150. Geburtstags des hl. Pfarrers von Ars, Johannes Maria Vianney, zur Überraschung vieler ein „Jahr der Priester" aus. Am 11. Juni 2010 fand dieses auf dem Petersplatz in Rom mit einem feierlichen Gottesdienst, an dem etwa 15 000 Priester aus aller Welt teilnahmen (der zahlenmäßig größten Konzelebration der Geschichte, wie Kardinal Claudio Hummes begeistert ausrief) seinen Abschluss. Was hatte es mit diesem Jahr auf sich? Was hat es gebracht?

Bei der Proklamation des Jahres fragten sich viele verwundert, warum es nach dem vorangehenden ,,Paulusjahr" nochmals ein Jahr mit einem spezifischen Schwerpunkt geben sollte, zumal der Papst in seiner Eröffnungspredigt während eines Vespergottesdienstes angab, das zentrale Ziel des „Paulusjahres" solle auch weiterhin gelten: ,,Sich ganz von Christus vereinnahmen lassen! Das war die Absicht des ganzen Lebens des hl. Paulus, auf den wir während des Paulusjahres, das sich nunmehr seinem Ende zuneigt, unsere Aufmerksamkeit gerichtet haben; das war die Absicht des ganzen Dienstes des hl. Pfarrers von Ars, den wir während des Priesterjahres besonders anrufen werden; das möge auch das Hauptziel eines jeden von uns sein."

Warum also wurde das zentrale Thema des Paulusjahres jetzt speziell auf die Priester ausgedehnt? Waren es vielleicht die bis dahin bekannten Missbrauchsfälle seitens vieler Priester in den USA und in Irland? Darauf könnte verweisen, dass sowohl im Papstbrief zum Beginn des Jahres wie auch in der Eröffnungspredigt die Rede vom Leiden der Kirche ist ,,wegen der Untreue einiger ihrer Diener" (Brief) beziehungsweise wegen der ,,Sünden ihrer Hirten, vor allem derjenigen, die sich in ,Schafsdiebe' verwandeln, entweder weil sie diese mit ihrer privaten Lehre vom Weg abbringen, oder weil sie sie mit Schlingen der Sünde und des Todes einengen" (Predigt).

Wie auch immer: Jedenfalls hob der Papst zwei Schwerpunkte für das Priesterjahr hervor: es sollte dazu beitragen, ,,das Engagement einer inneren Erneuerung aller Priester für ein noch stärkeres und wirksameres Zeugnis für das Evangelium in der Welt von heute zu fördern", und: die Priester sollten sich bewusst werden, ,,welch unermessliches Geschenk die Priester nicht nur für die Kirche, sondern auch für die Menschheit überhaupt sind" (Brief).

Beide Schwerpunkte wurden im genannten Eröffnungsbrief mit höchst problematischen Lehren und Beispielen des Pfarrers von Ars belegt, so wenn darin folgende Worte angeführt werden: ,,Oh, wie groß ist der Priester! (. . . ) Gott gehorcht ihm: Er spricht zwei Sätze aus [gemeint sind die zentralen Worte des Abendmahlsberichts], und auf sein Wort hin steigt der Herr vom Himmel herab und schließt sich in eine kleine Hostie ein. (...) Ohne das Sakrament der Weihe hätten wir den Herrn nicht. Wer hat ihn da in den Tabernakel gesetzt? Der Priester. ( . . . ) Nach Gott ist der Priester alles."

Letztere Aussage wurde dann vom Papst gleich nochmals in der Eröffnungspredigt wiederholt. ,,Nach Gott ist der Priester alles!"

Kann man aber solche Aussagen ohne Vorbehalte und Einschränkungen und ohne Hinweis auf den tiefgreifenden Wandel des geschichtlichen und theologischen Kontextes von der Welt des Pfarrers von Ars bis zu uns heute anführen, ohne zwangsläufig Missverständnisse in Richtung auf ein elitäres, abgehobenes Priesterbild zu erzeugen? Auch wenn der Papst in seinem Eröffnungsschreiben noch auf andere Elemente des priesterlichen Dienstes verwies, die evangeliumsgemäß sind und den vom Zweiten Vatikanum genannten Schwerpunkten entsprechen (Einheit des priesterlichen Gottesvolkes, Zusammenarbeit mit den Laien, Gemeinschaftscharakter des kirchlichen Amtes) wurden doch gleich zu Beginn Akzente gesetzt, die mindestens hochproblematisch sind und deren eigentliche Fragwürdigkeit sich erst im Laufe des Jahres in einer Reihe von Aktivitäten besonders der römischen Kleruskongregation zeigte.

Diese radikalisierte nämlich noch die elitären Züge des vorgestellten Priesterbilds und kam so zu einer Konzeption, die ganz und gar dem vorkonziliaren Amtsverständnis entspricht. Ein beredtes Beispiel dafür ist das von der Kongregation herausgegebene dreiteilige, insgesamt ungefähr halbstündige Video, das über youtube.com - unter dem Titelwort: alterChristus – in verschiedenen Weltsprachen bis heute abrufbar ist. Das Suchwort ist zugleich Programm: Durch die Weihe wird der Priester zu einem ,,alter Christus" umgewandelt (ein Lieblingswort der Kongregation) und Christus ,,konfiguriert" - "gleichgestaltet“. Durch ihn, den ,,Führer des Gottesvolkes" zum Ewigen Leben, verteilt Christus alle (!) seine Gaben an die Welt.

Während der Präfekt der Kleruskongregation, Kardinal Claudio Hummes, in verschiedenen Veröffentlichungen unter anderem die ,,missionarische Sendung" des Priesters herausstellte, ist auf dem Video der hervorgehobene ,,Ort" des Priesters der Kult (das Opfer Christi und das Selbstopfer des Priesters) sowie das Gebet vor dem Tabernakel. Gehorsam gegen den Papst (der Bischof wird in diesem Zusammenhang erst gar nicht erwähnt) sowie die innige Verehrung Marias als der ,,Mutter der Priester" bekommen einen besonderen Akzent. Demgegenüber spielen menschliche Reifung des Priesters, ständiges Lernen, Beschäftigung mit Theologie und erst recht Interesse und Engagement für die großen Probleme der Welt (Menschenrechte, Dritte Welt, weltweite Diakonie) überhaupt keine Rolle. Die spezielle Priesterkleidung soll das Zeugnis für Gott und die besondere Zugehörigkeit zur Kirche dokumentieren, so dass ihr Tragen eine ,,Liebesäußerung" des Priesters ist.

Dagegen ist von den Laien als Zeugen Gottes in der Welt (übrigens ohne besondere Kleidung) nicht die Rede, auch nicht von der Zusammenarbeit mit ihnen, auch nicht vom Miteinander und Füreinander der amtlichen und laikalen Charismen. Die Einheit des Gottesvolkes, welche die (nur relative) Differenz von Amt und Laien unterfängt, verdient keinerlei Erwähnung. Dass in den Videoszenen von Eucharistiefeiern immer nur rückwärtsgewandt zum Volk zelebriert und allein die Mundkommunion praktiziert wird, nimmt in diesem Kontext schon kein Wunder mehr.

Kurz: Es ist das vorkonziliäre hierarchische Priesterbild vom ,,Mönch im Pfarrhaus", was hier ,,fröhliche Urständ" feiert. Die im konziliären Priesterdekret ,,Presbyterorum ordinis" sowie in ,,Pastores dabo vobis" gegebenen neuen Akzente, wonach der Priester vor allem das Wort Gottes zu verkünden und den Hirtendienst der Einheit auszuüben hat und wonach seine Spiritualität nichts Abgehobenes und Separiertes sein darf, sondern gerade in der Einheit von pastoralem Dienst und Christusbeziehung bestehen soll (vgl. PO 14), sind offenbar total vergessen.

Die "Hermeneutik der Kontinuität" wird völlig isoliert

Was hier in Wort und Ton vorgestellt ist (etwas Ähnliches findet sich auf der vom Verein kathmedia, Liechtenstein, hergestellten CD ,,Adsum"), wurde von der römischen Kleruskongregation auf verschiedene Weise auch in reflektierter Form wiederholt und nachdrücklich ,,eingehämmert": Das Entscheidende ist das ontologische Anderssein des Priesters, das ihn mit Christus ,,konfiguriert" - eine beispielsweise vom Sekretär der Kleruskongregation, Mauro Piacenza, oft wiederholte These (mir liegt dafür sein Vortrag vor den Priestern des Irischen Kollegs vorn 27. November 2009 vor), die sich offenbar gegen eine mögliche Funktionalisierung des priesterlichen Dienstes richtet.

Als ob nicht auch das Ausüben einer Funktion etwas ,,Ontologisches" wäre und als ob sich nicht auf dem Konzil ausdrücklich viele Stimmen gegen ein mögliches ,,wesensontologisches" Missverständnis des Priesteramtes erhoben hätten. Eben deswegen formulierte das Konzil ganz bewusst, dass der Priester die Fähigkeit hat, ,,in der Person des Hauptes Christus handeln zu können" (PO 2). Das heißt Der Priester ist ein ,,alter Christus", gerade insofern er in bestimmten Handlungen und Handlungssituationen für den Herrn steht. All das ist offenbar vergessen, so wie auch überhaupt nicht in Erwägung gezogen wird, dass für das Neue Testament die ,,Ur-Konfiguration mit Christus" in der Taufe geschieht (vgl. Röm 6) und somit fix jeden Christen gilt. Stattdessen wird daraus eine - wie es ausdrücklich heißt –„ontologia sacerdotale" gemacht.

Da man offenbar von Seiten der Kleruskongregation spürte, dass das vorgelegte Priesterbild nicht den Texten des Zweiten Vatikanums entspricht, ist oft die Rede von einer notwendigen "ermeneutica di continuitä", in der die Konzilstexte verstanden werden müssen (so etwa auf einem Studientag der Kleruskongregation vom 11. bis 12. März 2010). Damit ist gemeint, dass alle Aussagen des Konzils in Kontinuität zur bis dahin geltenden Tradition zu lesen, zu verstehen und zu verwirklichen sind. Diese Hermeneutik ist aber, wird sie für sich allein genommen, ein Filter, das alle Neuaufbrüche und Neuausrichtungen verschluckt und allein die bisherige Tradition zu Wort kommen lässt.

Gewiss ist der von Benedikt XVI. auf die Konzilsinterpretation angewandte Begriff einer ,,Hermeneutik der Kontinuität" sinnvoll, aber er ist nur legitim im dialektischen Mit- und Ineinander einer ,,Hermeneutik der Diskontinuität", die im Gegenzug gerade das gegenüber der Tradition Neue und bisher Unrealisierte herausstellt, so dass erst die Interferenz beider hermeneutischer Ansätze zu einem authentischen Verständnis führen. Stattdessen wird von der Kleruskongregation die „Hermeneutik der Kontinuität" völlig isoliert. Nur von ihr heißt es, sie sei noch nicht genügend rezipiert und verwirklicht; sie müsse ,,das authentische Antriebszentrum für jede Reflexion über das Priesteramt sein".

Gerade an der von der Kleruskongregation hervorgehobenen einseitigen ,,Hermeneutik der Kontinuität" zeigt sich, dass der oft als ,,linke Unterstellung" gegeißelte Vorwurf, Rom wolle hinter das Zweite Vatikanum zurückgehen, wenigstens in diesem Punkt nachprüfbar der Wirklichkeit entspricht. Hoffen lasst allerdings, dass der vor allem - wie man hört - von der Kleruskongregation lancierte Vorstoß, der Papst möge am Ende des Priesterjahres den Pfarrer von Ars zum „Patron aller Priester" (nicht wie bisher nur „der Pfarrer") erheben, zurückgewiesen wurde. Zurückgewiesen wurde damit implizit auch die Einseitigkeit des am Pfarrer von Ars festgemachten Priesterbildes. Denn - so erklärte der Pressesprecher des Vatikans am Vorabend des Abschlusses des Priesterjahres - es gebe so viele andere große Priesterfiguren, die Inspiration und Modell für die vielfältigen Formen des Berufes sein könnten" (Newsletter, Radio Vatikan, 10. Juni 2010).

Der Grundgestus des priesterlichen Amtes ist nicht die Selbstbezüglichkeit

Was geschah in der Weltkirche mit dem Priesterjahr? Die Kleruskongregation hebt den „weltweiten großen Erfolg" hervor, führt dafür aber auf ihrer eigenen Webseite ,,Annus Sacerdotalis" nur relativ wenige Beispiele (die meisten aus Südamerika) an. Da ich selbst keinen weltweiten Überblick habe, kann ich mich nur auf meine Erfahrungen in Europa berufen. In sechs europäischen Ländern war ich aus Anlass des Priesterjahres zu Vorträgen über den priesterlichen Dienst eingeladen. Hintergrund war offensichtlich eine allgemeine Unsicherheit darüber, was man denn überhaupt tun könne, und deshalb mangels anderer Ideen Vorträgen für Priester oder Akademietagungen zum Thema „kirchliches Amt" organisierte.

Daneben gab eine Reihe von Diözesen Gebete zum Priesterjahr heraus, bot eigene Gebetsgottesdienste für Priester und Priesterberufe an und/oder veranstaltete Wallfahrten des Presbyteriums. Eine wirkliche Aufbruchsstimmung in Bezug auf die Ziele des Priesterjahres habe ich nirgendwo feststellen können. Zwar herrschte und herrscht weithin darin Übereinstimmung, dass das priesterliche Amt derzeit vielerlei Probleme aufgibt, zugleich aber weiß man auch, dass diese nicht mehr isoliert mit Blick auf den Priester allein zu lösen sind, sondern das ganze Gottesvolk und dessen künftigen Weg betreffen, ein Weg, auf dem die Kirche in Europa wohl zu einer gesellschaftlichen Minderheit werden wird, in der dann auch die Rolle des Priesters neu zu bestimmen ist.

Vor einigen Tagen traf ich einen international renommierten Theologen. Im Lauf des Gesprächs fiel von ihm das Wort: ,,Die eigentliche Frucht des Priesterjahres ist wohl die durch die Missbrauchsfälle entstandene katastrophale Situation der Kirche." Der Satz mag auf den ersten Blick nicht nur anstößig, sondern auch unverständlich sein. Doch trägt er bei näherem Zusehen eine wichtige Wahrheit in sich: Bei aller Anerkennung des entsetzlichen Übels eines jeden einzelnen Missbrauchfalls für die Opfer kann die Aufdeckung doch ein „Gutes" haben: Die ,,Demütigung" des kirchlichen Amtes. Mit diesem Begriff ,,Demütigung" ist ein Faktor gemeint, den schon vor Jahren Hans Urs von Balthasar als für das kirchliche Amt wesentlich herausstellte und sogar biblisch begründete. „Die ganze Sorge des Herrn in der Zurüstung der Apostel auf ihr Amt, insbesondere des Felsenmanns, [geht] auf Demütigung aus" (Sponsa Christi,399f.).

Denn nur ein demütiges, verdemütigtes Amt ist dagegen gefeit, angemaßte Macht auszuüben, Privilegien in Anspruch zu nehmen, einsame Entscheidungen über andere zu treffen, Abgehobenheit zu zelebrieren, ,,heilige Kirche" zu spielen. Hatten sich nicht in den letzten Jahrhunderten mindestens das kirchenleitende Amt (aber auch zahlreiche „niedere" Amtsträger) vielfach über die Niederungen der (laikalen) Welt erhaben gefühlt und im sicheren Besitz der Wahrheit gewusst, hatte man nicht ständig von oben herab anderen Norm- und Orientierungsvorgaben gemacht im sicheren Bewusstsein zu wissen, ,,wo es hergeht"? Hatte man sich nicht in der Zugehörigkeit zu einer „sakralen Sonderwelt" gesonnt?

Auch wenn das Zweite Vatikanum hier bereits einen kräftigen Gegenakzent setzte, der auch – Gottdank! - von vielen Priestern aufgegriffen wurde, so muss man wohl nicht nur auf derzeitige Lächerlichkeiten wie die Wiedereinführung der Cappa Magna seitens einiger Kardinäle, auf die barocke ,,Verfeinerung" liturgischer Gewänder, auf die neuerliche ,,Verkultung" der Liturgie und ihrer Sprache (Neuübersetzungen!) sowie auf die ständige Einschränkung laikaler kirchlicher Dienste durch römische Anweisungen verweisen, wenn heute insgesamt wieder der vorkonziliare Klerikalismus (nicht zuletzt auch bei nicht wenigen Seminaristen und jungen Priestern) im Vormarsch ist.

Kann darum die derzeitige üble kirchliche Situation nicht auch ein Anlass sein, sich neu darauf zu besinnen' dass der Grundgestus des priesterlichen Amtes nicht die Selbstbezüglichkeit ist, wie sie in zahlreichen römischen Aktivitäten des Priesterjahres repristiniert wurde, sondern der „Johannes-Gestus": Gefragt, wer er, Johannes der Täufer, sei, antwortete er: ,,Ich bin es nicht!"' und zeigte schlicht und demütig auf den, der ,,es ist". Wenn das die Frucht des Priesterjahres wäre...

Gisbert Greshake

Zum Autor: Gisbert Greshake, geb. 1933, war bis zu seiner Emeritierung Professor für Dogmatik und Ökumenische Theologie in Freiburg. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, darunter: „Priester sein in dieser Zeit", Freibug 2000.

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