Machtkirche: Alternativen zum hierarchischen Prinzip unserer Kirche

 

01.10.2010, Univ.- Prof. DDr. Gotthold Hasenhüttl

1. Die heutige Situation

Heinrich Böll wurde einmal gefragt, - es war vor 30 Jahren - wie er die Zukunft der Kirche sähe? Er antwortete: „Düster für die Kirche, wenn sie sich nicht mit jener ... Kraft verbindet ... die auf Gewalt verzichten könnte, wenn die Kirche ihre Macht nicht zur Verfügung stellen würde ... aus der Einsicht und Erkenntnis, dass sich in dieser ... Kraft die Gegenwart Christi verbirgt ... Die Kirche müsste den Gehorsam durch Vertrauen ersetzen“.[1]

Mit diesen beiden Stichworten: Gehorsam - Vertrauen werden bereits die Alternativen bezeichnet, welches Prinzip für Kirche entscheidend, ja konstitutiv ist.

Ist die Kirche aber überhaupt vor eine solche Alternative gestellt? Ist Kirche „semper reformanda“ - immer zu reformieren oder gar zu transformieren? Mitnichten, antwortete Papst Gregor XVI. (1832, Enzyklika „Mirari vos“ Nr. 6, D 2730 ff): „Es ist völlig absurd und im höchsten Maß eine Verleumdung zu sagen, die Kirche bedürfe einer ... Erneuerung ... als ob man glauben könnte, die Kirche wäre Fehlern, Unwissenheit oder irgendeiner anderen menschlichen Unvollkommenheit ausgesetzt“. Für ihn ist die Kirche als hierarchische Institution unschuldig, makellos und rein, sie ist göttlichen Ursprungs.

Genau an diesem Selbstverständnis der Kirche setzt heute die Kritik an, und die Psychoanalyse wie auch die Soziologie zeigen die Anmaßung und Unhaltbarkeit eines solchen hybriden Anspruchs auf. Dieses „höchste Maß“ an „Verleumdung“ spricht selbst der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz aus, der meint, dass eine Kirche, die sich nicht verändert, tot sei, obwohl er sich gegen Form und Inhalt des KirchenVolksBegehrens stellte, das genau eine solche Veränderung einforderte. Kühn behauptet der Weihbischof von Wien, Helmut Krätzl: „Niemand bezweifelt, dass sich die Kirche verändern muss“.[2] Und mit einem Seitenblick auf das KirchenVolksBegehren schreibt er: „Jedenfalls ist es durchaus legitim, auch innerhalb der Kirche zu demonstrieren, wenn ihre Glaubwürdigkeit auf dem Spiel steht“. Auch Jesu Verkündigung war eine Demonstration. „Auch heute ist Verkündigung ohne 'Demonstration' nicht denkbar. Wer sich gegen einen Strukturwandel in der Kirche stellt, der könnte wohl am Ende seines Lebens den Vorwurf hören: 'Mein Antlitz war in der Kirche entstellt, und du hast nichts getan, um es wieder ansehnlicher zu machen'!“ Nicht die bedürfen einer „Maßregelung“ in der Kirche, die ihre Missstände anprangern, sondern die, die nichts dagegen tun. Die Kirche müsste lernen, in vielen verschiedenen Sprachen zu sprechen und ihre monolithische Struktur verändern. Nicht nur „böse Menschen“ gefährden das Zusammenleben und die Entfaltung der Menschen, sondern die Strukturen selbst zwängen Menschen in die Entfremdung, das System an sich kann für Menschen äußerst gefährlich sein. Das erkennt freilich Papst Johannes Paul II. nicht, er setzt vielmehr all die ins Unrecht, die Alternativen zur bestehenden Kirchenstruktur entwerfen. Ganz im Sinne Gregor XVI. meint er, dass das Erbe der Kirche nicht verflossene Vergangenheit sei, sondern eine kraftvolle Quelle auf dem Weg des Glaubens.[3] Und immer wieder betont er, dass wir keine Reformatoren der Kirche brauchen, keine Strukturveränderer, sondern Heilige! Als ob man gegen die „Heiligkeit“ wäre, wenn man erkennt, dass die strukturell bedingte Sünde in der Kirche, die Menschen daran hindert, das Heil zu finden und selbst geheilt zu werden. Wer für die Veränderung in der Kirche ist, ist nicht gegen die „Heiligkeit“, wohl aber gegen die „Scheinheiligkeit“. Schon gleich nach dem 2. Vat. Konzil, als sich reaktionäre Kräfte in unserer Kirche zu formieren begannen, fragte der holländische Theologe, Priester und Prior eines Augustinerklosters, Robert Adolfs, 1966: „Wird die Kirche zum Grab Gottes?“ Und er meint, wenn die Kirche ihre „häretische Struktur“ in der modernen Welt nicht aufgäbe, sich nicht radikal erneuere, wird sie zum „leeren Grab“, in dem sie Jesus sucht, der auferstanden ist. Die Kirche spielt die Rolle der römischen Patrouille vor dem Grab Jesu. Er selbst ist längst von Jerusalem nach Galiläa gezogen, die Kirche ist ihm nicht gefolgt.

Und in Anlehnung an Dostojewskis Großinquisitor, der Jesus einkerkert, damit die Kirche in ihrer Machtentfaltung freies Spiel hat, schreibt H. D. Hüsch[4]: „Wir, die Kirche, haben Gott, dem Herrn, in aller Freundschaft nahegelegt, ... aus der Kirche auszutreten und gleich alles mitzunehmen, was die Kirche immer schon gestört: Seine Leichtigkeit, und vor allem Liebe ... alle Menschen gleich zu lieben ... alles zu verzeihen und zu helfen, sogar denen, die ihn verspotteten. Großzügig bis zur Selbstaufgabe ... (denn) Gott ist doch die Liebe. Und die Kirche ist die Macht ...“.

So ist es zwar erschreckend, aber nicht verwunderlich, wenn z.B. in Deutschland seit 1990, Jahr für Jahr ca. 150.000 Katholiken die Kirche verließen. Es ist töricht zu meinen, es gäbe dafür nur zwei Gründe: „die Kirchensteuer und die Vollstreckung der lange zuvor vollzogenen inneren Kündigung. Es gibt einen dritten. Und der sollte die Kirche sehr viel gründlicher nachdenken lassen: die Entchristlichung des kirchlich-etablierten Christentums“.[5]

Es ist ja so, dass man kaum auf Ablehnung der jesuanischen Botschaft stößt. Eine überwältigende Mehrheit in Europa steht positiv zu Jesus Christus und auch viele Jugendliche können sich mit seiner Frohbotschaft identifizieren, ganz anders aber wird das kirchliche Christentum empfunden. Dabei muss man bedenken, dass das 2. Vat. Konzil viele Hoffnungszeichen gesetzt hat und Kirche sogar für Nichtchristen attraktiv war. Man sah in der Kirche eine Gemeinschaft, die die Fenster in die Welt hinaus weit öffnete - aber schon 2 Jahre (1967) nach dem Konzil wurden alle Fenster schleunigst geschlossen, und die Hierarchie begann ein Fenster nach dem anderen zuzumauern. In den letzten 30 Jahren wurden alle Fragen auf dogmatischem und ethischem Gebiet negativ beantwortet, eine Ausnahme bilden nur manche Äußerungen der Sozialenzykliken. Alle Anfragen, Probleme und Nöte, die die Ethik und Moral betrafen, wurden abgewiesen und mit alten Leerformeln begründet. Angefangen von der Frage, ob Ehepaare die Zahl ihrer Kinder selbst bestimmten dürfen („Humanae Vitae“ 1968; die Mehrheit der Bischöfe und der Kommission war eindeutig dafür; „Dives in misericordia“ 1980 stellt die Empfängnisverhütung auf die Stufe der Fruchtabtreibung), ob die Ehelosigkeit einer Menschengruppe in der Kirche als Gesetz zur Pflicht gemacht werden kann (Papst Paul VI. hat schon auf dem Konzil die Diskussion darüber verboten; Enzyklika „Sacerdotalis coelibatus“, 1967, Johannes Paul II. schärfte 1984 und 1988 das Zölibatsgesetz ein), ob eine künstliche Befruchtung zulässig ist (über die „Würde der Fortpflanzung“, 1987), ob gleichgeschlechtliche Liebe für manche Menschen einer natürlichen Neigung entsprechen kann (gegen die Homosexualität,1986), bis zur Frage, ob die Frau nicht nur gleichwertig, sondern auch dem Mann gleichberechtigt ist und dies auch in der Kirche (Inter Insignores,1976, „Mulieris dignitatem“,1988, „Christifideles laici“, Katechismus der Katholischen Kirche Nr. 1577; „Über die nur Männern vorbehaltene Priesterweihe“, 1994) - alle diese Fragen wurden keiner Lösung zugeführt und der veränderten Situation und dem Selbstverständnis des Menschen nicht Rechnung getragen.

Ebenso verhält es sich mit den Dogmen, den Glaubensfragen.[6] Die Erklärung zur katholischen Lehre über die Kirche („mysterium ecclesiae“, 1973) übergeht nicht nur das 2. Vat. Konzil, in dem die kollegiale Struktur der Kirche gelehrt wird, sondern fällt zurück auf absolutistische Strukturen, wie sie nur totalitäre Staaten kennen (die Unfehlbarkeit des Papstes ist der Kern der Aussagen über die Kirche). Auch das Schreiben der Glaubenskongregation über die Kirche als communio (1992) fordert für die Hierarchie die „unmittelbare Gewalt“ von Gott (III, 13). In ähnlichem Geist ist das Schreiben der Glaubenskongregation „Über einige Fragen bezüglich des Dieners der Eucharistie“ (1983), in dem eine andere Kirchenstruktur, als die bestehende, vehement abgelehnt wird. So wurden auch die theologiekritischen Ansätze der Befreiungstheologie allesamt abgewiesen (1984, 1986). Und seit 1989 muss jeder Priester und Religionslehrer grundsätzlich einen Eid, in Form einer totalen Unterwerfungsformel, leisten. Darin wird „religiöser Willens- und Verstandesgehorsam“ auch für die Lehräußerungen des Papstes, die nicht definitiv verpflichtend sind, verlangt . Die Bischöfe wurden schon 1972 in Pflicht genommen, so dass jeder neue Diözesanbischof schwören muss, dem Papst „treu ergeben und gehorsam“ zu sein, ihm die „höchste Ehre“ zu erweisen und darauf bedacht zu sein, „die Rechte und die Autorität der römischen Pontifices auszudehnen und zu verteidigen“. Es ist nicht bekannt, dass je ein Bischof diesen Eid nicht geleistet hat. Um diese Linie zu unterstreichen, wurde mit dem Schreiben über die kirchliche Berufung der Theologen (1990) eine radikale Bevormundung der Theologie durch das römische Lehramt eingefordert und im selben Jahr mit dem Schreiben über die Interpretation des Dogmas der päpstlichen Theologenkommission, alle theologischen Überlegungen, die über die Grenzen des Lehramtes hinausgehen, strikt verboten. Ein Denkverbot wurde erlassen und man erinnert sich an den Ruf Schillers in Don Carlos (3,10): „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit“. Einen krönenden Abschluss bildet die neue „Ordnung für die Lehrüberprüfung“ (29.06.1997), die bei einem dringlichen Lehrprüfungsverfahren, nicht einmal vorsieht, den Autor einer Schrift, in der angeblich „offensichtliche Irrtümer“ enthalten seien, anzuhören, sondern innerhalb von zwei Monaten von ihm die „Richtigstellung“ fordert, widrigenfalls er exkommuniziert wird. Eine „Beschwerde“ dagegen ist nicht zulässig. Jesu Wort: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“ ist für die kirchlichen Behörden hier wohl bereits ein „offensichtlicher Irrtum“.

Es ist hier nun nicht der Ort über den faktischen Umgang mit Theologen, Priestern und Laien zu sprechen und über die unzähligen Maßregelungen und Willkürakte, denn diese lassen sich vielleicht auf die Sündhaftigkeit der Hierarchen zurückführen. Hier geht es vielmehr um die Frage, ob grundsätzlich durch solche Lehräußerungen und Vorschriften der kirchlichen Behörden das Christentum in Gefahr ist, und zwar so, dass dieses nicht nur in einem irdenen Gefäß weitergegeben, sondern zerbrochen wird. Christentum verläuft sich im Sand. Und genau das ist das Empfinden so vieler Menschen, die in einer solchen Kirche das Antlitz Jesu Christi nicht mehr erkennen können, das sie suchen. Dabei geht es nicht einmal primär um die erwähnten Inhalte, sondern um das formale Prinzip, wie Äußerungen der Amtskirche vorgetragen werden. Es ist darin eine Kirche zu sehen, die herrscht, die Macht ausübt und keinen wirklichen Dialog mit dem modernen Menschen sucht. Und bei all den Lehräußerungen beruft sie sich auf eine göttliche Autorität, auf den Willen Christi. Das ist der entscheidende Punkt.

2. Die Kirchengründungsfrage und das Wesen (Grundstruktur) der Kirche

Hat Jesus Christus wirklich eine hierarchische Institution Kirche gewollt? Darauf ist exegetisch und dogmatisch klar mit Nein zu antworten. Jesus hat zu seinen Lebzeiten keine besonders geformte oder strukturierte Gemeinschaft beabsichtigt, auch nicht als gesonderte Glaubensgemeinschaft. Die Kirche selbst hat nie gewagt, verbindlich zu erklären, dass der historische Jesus eine Kirche gegründet hat.

Die Argumente: 1) Jesus verkündete das Reich, den Bereich Gottes, der uns nahe ist, aber nicht eine Sondergemeinschaft.

2) Jesus lebte in der Naherwartung. Eine Gemeinschaft zu gründen, bestand keine Veranlassung.

3) Jesus wählte die 12 und die 70 (72) Jünger aus. Diese Auswahl ist symbolisch zu verstehen. Die 12 stehen für das ganze Volk Israel und die 70 (72) für die Heidenvölker, die damals mit dieser Zahl angegeben wurden. Es wird also keine Institution damit bezeichnet, sondern der universale Heilswille. Allen Menschen soll Bereich des Heils offen stehen.

4) Die Worte an Petrus (Mt 16,18), in denen das Wort Kirche vorkommt, wird von fast allen Exegeten als Gemeindebildung angesehen. Zudem ist es ein Verheißungswort, d.h. erst in Zukunft wird Kirche sein. Wegen des Wortspiels nimmt man eine aramäisch sprechende Gemeinde an, die die kirchliche Entwicklung als dem Willen Jesu entsprechend verstand. Ferner wird hier keine Institution oder gar eine Hierarchie begründet, sondern Fundament der kirchlichen Gemeinschaft ist der Glaube, den Petrus bekennt. Daher lässt auch Mt sofort anschließend Jesus sagen, dass Petrus ein Satan ist, wenn er Jesus vom Leidensweg abbringen will.

5) Die Kirche selbst hat erst in der Mitte des 5. Jh. (Leo I.) dieses Wort an Petrus hierarchisch-institutionell verstanden. Kein Bischof von Rom hat sich zuvor auf dieses Bibelwort so bezogen, dass dadurch eine hierarchische Vormachtstellung abgeleitet wurde.

All das besagt jedoch nicht, dass Kirche als Glaubensgemeinschaft nicht eine Folge jesuanischen Wirkens ist. Sein Aufruf zur Nachfolge, seine Mahlgemeinschaft, seine Glaubensforderung, sie verbanden die Menschen, die durch sein befreiendes Wirken Gottes Nähe sahen. All diesen Menschen schenkte Jesus seine befreiende Vollmacht, ohne jeden Unterschied. So kann selbst der Tridentinische Katechismus (1566) die Kirche definieren als die Gemeinschaft der Glaubenden in aller Welt[7], und er beruft sich auf Augustinus, der die Kirche als „communio sanctorum“, als Gemeinschaft der durch Christus Geheiligten beschreibt. So ist es durchaus richtig, dass sich nach Ostern Menschen zusammengefunden haben, die ihr Leben an Jesus Christus orientieren wollten. Und A. Loisy, der um die Jahrhundertwende exkommunizierte Theologe, hat recht, wenn er sagt, dass Jesus nicht die Kirche verkündet hat, sondern das Reich Gottes.[8] Kirche hat sich in einem Geschichtsprozess grundsätzlich legitim aus Jesu Verkündigung entwickelt. Daher sprechen schon die Kirchenväter nicht von einer Gründung der Kirche, sondern von einer „Geburt“ aus der durchstochenen Seite Jesu am Kreuz, oder von ihrer Konstituierung durch das Wirken des Hl. Geistes.[9]

Die geschichtlichen Bedingungen dafür, dass Kirche entstehen konnte, waren: 1) die Aufgabe der Naherwartung. Die Wiederkunft Jesu Christi wurde nicht mehr als unmittelbar bevorstehend verstanden, wie dies bei den ersten Jüngern nach Ostern noch der Fall war. 2) Das jüdische Volk hat in seiner Gesamtheit die Botschaft Jesu nicht angenommen. Nur ein Teil fand in Jesus die von der Tora befreiende Vollmacht. 3) Auf Grund dieser zwei Tatsachen fiel die Entscheidung, besonders bedingt durch das Wirken des Paulus, auch den Heidenvölkern das Evangelium zu verkünden. Juden und Heiden bildeten die Glaubensgemeinschaft. Die Menschen wurden Christen genannt und die Gemeinschaft derer, die ihr Leben an Jesus Christus ausrichten wollten, Kirche.

Sie war keine Institution und Folge der geschichtlichen Entwicklung nach Jesu Tod. Die Aussage - vom KirchenVolksBegehren aufgegriffen - „Wir sind Kirche“, war eine Selbstverständlichkeit. Dieses Grundverständnis ging freilich in der Kirche nie ganz verloren, so dass Pius XII. (1946) schreiben konnte, dass alle Glaubenden die Kirche sind. Für sie gilt: „Wir gehören nicht nur zu Kirche, wir sind die Kirche“.[10] Nur zögerlich folgten den Gedanken das 2. Vat. Konzil und die Bischofssynode (Rom 1987), wo es heißt, die Katholiken „sind die Kirche“.[11] Wir können jedoch schon im NT erkennen dass die Frage nach einer Struktur, die der Kirche zu geben ist, die junge Gemeinde bewegte. Menschen ist es eigen, andere dominieren zu wollen und diese beherrschende Stellung institutionell abzusichern. Gerade das oft missbrauchte Matthäusevangelium kämpft, um das Jahr 70, gegen Herrschaftsstrukturen. Wir alle kennen Mt 23,7 ff. Niemanden sollen wir Lehrer, Hl. Vater, Wegweiser nennen, sondern all das ist nur Jesus Christus. Ihr alle, ohne Ausnahme, seid Geschwister. Es ist eine erste Gemeinderegel, die hier angesprochen wird, wie die Glaubenden miteinander umgehen sollen. Ganz besonders deutlich hat Paulus von der Kirche Gottes gesprochen. Seine Lehre von der Kirche entfaltete er in den Korintherbriefen. Wo zwei oder drei im Namen Jesu versammelt sind, ist für ihn Kirche genauso real, wie in der gesamten Gemeinschaft der Glaubenden. Das Allgemeine (Gesamtkirche) ist dem Konkreten (Ortskirche) nicht übergeordnet. Wo Menschen sich versammeln, Gemeinschaft pflegen, die sich an der Lebensform Jesu orientiert, ist Kirche Gottes ganz da. Das Universale ist in Concreto. Der damaligen, vielleicht ältesten Gemeinde in Jerusalem (in der Petrus und Jakobus lebten) gibt er keine Sonderstellung oder gar eine Überordnung. Alle Gemeinden sind gleich wichtig. Zwischen allen Gemeinden und zwischen allen Glaubenden untereinander gibt es nur eine Beziehung: die der Gleichheit. Sie ist die Grundlage für die Ermöglichung der Liebe. Dann wird von der Gemeinschaft der Glaubenden, von der Kirche, Gott ausgesagt. In Korinth meinten einige, dass sie höher stehen und näher bei Gott sind, weil sie bessere Begabungen (Charismen) haben als andere. Dadurch wird nach Paulus echte Beziehung zerstört. Mehr sein wollen als andere, konstituiert eine Gemeinschaft, in der Gott nicht gegenwärtig ist. Gehen Menschen miteinander verstehend um, teilen sie miteinander das Brot, die Lebensgrundlage, dann sagt Paulus, sieht selbst ein Ungläubiger, dass Gott mitten unter euch ist (1Kor 14,25). Kirche ist daher eine Verhältnisbestimmung von Mensch zu Mensch. Wann ist diese richtig? Wenn die Beziehung so gelebt wird, dass bei aller Verschiedenheit und Vielfalt (der Charismen) der Christen, die Grundlage der Gleichheit und damit der Liebe gewahrt wird. Konkret heißt dies (bei Paulus): die Beziehung, die Kirche, Gemeinschaft, Communio der Glaubenden konstituiert, muss herrschaftsfrei sein. Wo ein Mensch einen anderen dominiert, ihn be- oder gar unterdrückt, wo also einer über den anderen Herrschaft und Autorität beansprucht, ist Macht und nicht Liebe im Spiel. Wo in einer Ehe z.B. der Mann über die Frau herrschen will, ist die Beziehung verdorben, ist keine Partnerschaft, ist Liebe ausgeschaltet. Überall, wo Befehl und Gehorsam, Herr und Knecht die Beziehung bestimmen, ist sie zutiefst beschädigt. Nicht Knechte, sondern Freunde nenne ich euch, sagt der johanneische Jesus. In der Beziehung, die durch Liebe bestimmt ist, werden die Unterschiede nicht aufgehoben, sondern gerade das andere als anderes voll anerkannt, zugleich aber auf der gleichen Ebene gesehen. Mt nennt es die Brüderlichkeit, heute besser: Geschwisterlichkeit. Paulus selbst, trotz seiner Autorität, beansprucht keine Herrschaft über seine Gemeinde und erliegt nicht der Versuchung der Machtausübung „im Namen Gottes“. Wir wollen nicht Herr eures Glaubens sein, sondern wir sind eure Mithelfer in Freude (2Kor 1,24). Alle Begriffe, die eine arché, eine Herrschaft, eine Obrigkeit usw. ausdrücken, sind aus diesem Kirchenverständnis ausgeschlossen. So gibt es selbstverständlich keine Hier-arché, denn keine Herrschaft ist heilig, sondern jede höchst unheilig. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal 5,1). Diese Vollmacht der Freiheit hat nur eine Grenze, nämlich die Freiheit des anderen (des Andersdenkenden) und dies nennt man genau „Nächstenliebe“. Sie hört auf den anderen und bildet Gemeinschaft. Sie ist die heilige An-arché, d.h. Herrschaftsfreiheit. Sie ist das Teilenkönnen, nicht nur materiell, sondern ebenso Freud und Leid. Und nun das Interessante an dem paulinischen Kirchenverständnis: gerade weil in der Gemeinde von Korinth Unordnung herrscht, verweist er auf die herrschaftsfreie Beziehung. Also: um Ordnung in der Gemeinde zu schaffen, betont er das Prinzip der Herrschaftsfreiheit. Ja, könnte man sagen, Freiheit kann doch missbraucht werden! - Sicher, aber wie viel mehr Machtmissbrauch ist in der Geschichte und der Kirche geschehen! Weil Paulus das offenbar ahnte und in der staatlichen Gesellschaft am eigenen Leib zu spüren bekam, setzte er keine Autorität, keinen Prokurator oder Hierarchen ein, der Ordnung in der Gemeinde bewirken sollte. Nichts davon tat er, vielmehr erwartete er gerade vom Verzicht auf Macht, dass sich dadurch kirchliche Gemeinschaft, echte Beziehung der Menschen konstituiert, die Gottes Wort zur Sprache bringt. Herrschaft und Macht bauen nicht auf, sondern zerstören die Liebe, die Beziehung, die Gemeinschaft und verraten so die christliche Freiheit. Paulus gibt sehr genau die kirchlichen Strukturelemente an, die von der Aufhebung der Herrschaft des Menschen über den Menschen in Christus zeugen: es sind die Begabungen, die Charismen, die jeder Glaubende von Christus zum Nutzen der Gemeinde empfangen hat. Wo jeder Christ durch seine Fähigkeiten und Gaben hingestellt ist, dort wirkt diese Beziehung als Ordnungsstruktur, wenn nur kein Herrschaftsanspruch erhoben wird. Damit ist eine Gemeinschaft von Menschen grundgelegt, die total anders ist als alle bisherigen Gesellschaftsstrukturen. Alle Karten werden auf die verantwortete christliche Freiheit gesetzt und nicht auf Machtstrukturen. In diesem Verständnis von Kirche steckt eine revolutionäre Kraft, die immer wieder an die Pforten der Machtkirche klopft, zu einer friedlichen Transformation und Revolution in der Kirche aufruft, wenn das herrschaftsfreie Grundprinzip verraten wird. Eine solche Kirche wäre auch fähig, staatliche Gesellschaftsordnung umzustrukturieren und mehr Gerechtigkeit sichtbar zu machen. Die Geschichte ist jedoch genau umgekehrt verlaufen.

3. Das Werden der Kirche zur Institution und der Protest

Nach der Darstellung der Apostelgeschichte entstanden die ersten institutionellen Formen in Jerusalem durch einen Konfliktfall. Die Christen lebten weiterhin in der vorgegebenen jüdischen Religion, die jedoch durch die jesuanische befreiende Vollmacht relativiert war. Hellenistische Juden schlossen sich der Jesusbewegung an. Diese Anhänger Jesu wurden von der öffentlichen Unterstützung ausgeschlossen. Unter den Christen kam es zu Streitigkeiten. 7 Männer, analog zu jüdischen Ortsvorstehern, wurden bestellt, um für diese Christen zu sorgen. Je weiter sich durch die Verfolgung (Stephanuserzählung) die Jesusanhänger von der jüdischen Gemeinde entfernten, umso mehr suchte man die Glaubensgemeinschaft zu ordnen, um eine eigene soziologisch-religiös bestimmte Struktur zu erlangen. Nach Lukas (in der Apg) wird gemäß jüdischen Vorbildes verfahren und Presbyter bestellt. Sie sollen bei Meinungsverschiedenheiten eine Art „Schiedsgericht“ darstellen. Die Ältestenordnung entsteht. Aus einer sozial bedingten Notsituation heraus wird, historisch bedingt, der Kirche eine Hilfsstruktur gegeben (ähnlich einer Notstandsgesetzgebung). Sie ist eine menschliche Institution, die nützlich sein kann, aber nie für die Kirche wesentlich werden darf. Treffend sagt dazu Ratzinger: „Kirchliche Institutionen ... drohen, sich als das Wesentliche auszugeben, und sie verstellen so den Blick zum wirklich Wesentlichen. Darum müssen sie immer wieder wie überflüssig gewordene Gerüste abgetragen werden ... damit ... der lebendige Herr sichtbar werde“.[12] Und er nennt dies einen dauernden „Befreiungsakt“ in der Kirche. Dies gilt nicht nur für die jüdische Presbyterialstruktur, die natürlich mit dem Priesteramt noch gar nichts zu tun hatte, sondern ebenso für die spätere, in der griechischen Welt eingeführte Episkopalstruktur. Die Episkopen waren Finanzbeamte und dieses weltliche System schien kirchlicherseits brauchbar zu sein. Wir spüren heute noch in der Kirche, dass dort, wo Geld ist, sich auch ein Machtpotential ausbreiten kann. Schließlich verfährt die Kirche nach römisch-kaiserlichen Vorbild; die Vorstellung des Pontifex maximus wird tragend, und nach dem Zusammenbruch des Weströmischen Reiches kommt es zu einer extrem monarchischen Struktur der Kirche. Das hierarchische Prinzip war geschaffen. Die Kirche war keine Communio mehr, sondern eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Zwei Stände gab es nun in der Kirche: die Laien und die Hierarchen bzw. Kleriker. Eine besondere Vollendung bekam diese Zwei-Klassen-Gesellschaft noch durch die Einführung der Priesterweihe im 5. Jh.[13] Bis dahin wurden Christen für den Dienst in einer Gemeinde, durch Gebet und Handauflegung, vergleichbar mit dem heutigen Handschlag, beauftragt. Das NT kennt selbstverständlich keine Priester. Der Hebräerbrief polemisiert scharf gegen Opfer und Priestertum (Hebr 7,27; 9, 12; 10,11-18). Das Wort Priester (hiereús) taucht für ein kirchliches Amt erstmals im 3. Jh. auf. Es wird aber noch nicht als ein Stand (Ordo) begriffen, sondern als Gemeindefunktion. Zwar hat sich Über- und Unterordnung schon ausdifferenziert, aber die Machtposition war noch kein Besitz, der durch eine Weihe erworben wurde. Daher bestimmte das Konzil von Chalkedon (451, Kanon 6), dass jede „absolute“ Weihe ungültig ist, d.h. ein kirchliches Amt ist immer für die Gemeinde. Ist dies nicht der Fall, ist die Priesterweihe ungültig.[14] Spätestens im 11. Jh. war der Priesterstand und damit die Hierarchie als eigene Struktur der Kirche etabliert. Sie war nun das göttliche Element in der Kirche, die Unterordnung des Laienvolkes besiegelt und die Ungleichheit zweier Klassen festgeschrieben, wie es das 1. Vat. Konzil (1870) einschärfte.

Es ist wichtig zu erkennen, dass durch die ganze Kirchengeschichte hindurch gegen diese unbiblische Entwicklung protestiert wurde. Der Protest richtete sich gegen Herrschaft und Reichtum in der Kirche. Besitz und Hierarchie wurden als zusammengehörig empfunden. Dabei ging es nur vordergründig gegen den Mammon, der Protest bezog sich stets auf die Zwei-Klassen-Gesellschaft. Denn der Besitz bewirkt Ungleichheit, Entsolidarisierung, Gemeinschaft wird zerstört, und wer das Geld hat, hat das Sagen. Besitz bezog sich aber auch auf die hierarchische Weihe selbst, die als ein Besitzgut verstanden wurde. Zwei-Stände-Kirche bedeutet in sich (abgesehen von einer möglichen Sündhaftigkeit der Würdenträger) Entsolidarisierung; ein Dialog auf gleicher Ebene ist nicht mehr möglich. Befehl und Gehorsam statt Liebe herrschen. Schon gleich nach dem Sieg der Großkirche 381, als sie Staatsreligion wurde, protestierte Pricillian, der asketische Bischof von Avila, gegen Besitzstandswahrung und hierarchische Herrschaft. Man machte nicht viel Federlesens; 384 wurde er verurteilt und enthauptet. Nicht besser erging es im Mittelalter den Katharern und Albigenser (12.-13. Jh.), gegen die der Hl. Krieg (Kreuzzug) ausgerufen wurde, um die Gegen-Kirche auszurotten. Die Waldenser waren ein Vorspiel zu den Minoriten, für die im 14. Jh., als Spiritualen bekannt, die Scheiterhaufen brannten bis hin zu Wycliff, Hus und schließlich zur protestantischen Reform. Im Mittelalter träumte man von dem Anbruch einer Kirche des Hl. Geistes. Stets galt die Forderung, die Kirche solle Communio, Solidaritätsgemeinschaft sein und auf Heilige Herrschaft und Besitzstand verzichten. Das 12. und 13. Jh. durchhallte der Ruf: „Es gibt zwei Kirchen: Die eine flieht (den irdischen Besitz) und vergibt (Mt 10,22 f), die andere besitzt und mordet“.[15] Herrschaft und Besitz entsolidarisieren, Verzicht, Vergebung und Herrschaftsfreiheit schaffen Gemeinschaft, eine Gemeinde des guten Geistes Jesu Christi. Von Anfang an verbindet sich mit der Glaubensgemeinschaft die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit, die die Bedingung für eine Beziehung ist, die durch Liebe bestimmt wird. Genau dieses Anliegen vertritt heute die Befreiungstheologie, indem sie eine Kirche, die sich als Option für die Armen versteht, die nicht von Herrschaft und Hierarchie, sondern von echter Geschwisterlichkeit bestimmt ist, fordert. Genau deshalb hat die römische Kirche die Befreiungstheologie in ihrem eigentlichsten Anliegen verurteilt. Die Alternative zum hierarchischen Prinzip wird abgelehnt.

Dabei hat, ohne Zweifel, das 2. Vat. Konzil einen ersten wesentlichen Schritt in diese Richtung getan. Es geht davon aus, dass unter allen Christen in der Kirche eine „wahre Gleichheit“ (vera aequalitas) herrscht (LG 32) und alle am „gemeinsamen Priestertum“ (sacerdotium commune fidelium) Anteil haben (LG 10). Insofern damit die unmittelbare Nähe jedes Christen zu Gott ausgedrückt werden soll und keine andere „priesterliche“ Vermittlung notwendig ist, ist dieser Ausdruck hilfreich, der sich auf 1Petr 2,5-10 (hieráteuma) bezieht. Der 1. Petrusbrief greift Ex 19,6 auf, wo die Erwählung des ganzen Volkes Israel durch Gott betont wird. Natürlich war niemand der Meinung, dass alle Israeliten Priester seien, sondern das „allgemeine Priestertum“ ist eine Metapher, die die Gottunmittelbarkeit aller ausdrückt. „Mit Recht kann daher der Begriff 'communio' als die ekklesiologische Leitidee des Konzils angesehen werden“.[16] Bemerkenswert ist der Hinweis des Ökumenischen Dekrets des Konzils auf die „göttliche Dreifaltigkeit“. Sie ist „Vorbild und Urbild“ (UR 2) der kirchlichen Gemeinschaft (LG 4). Verschiedene Theologen sehen daher in der Trinität den Communiogedanken der Kirche begründet. So wie Vater, Sohn und Geist auf gleicher Ebene sind, es keine Hierarchie in Gott gibt, so auch keine in der Kirche. Die Beziehung Gleicher konstituiert das Wesen der Kirche. Wo bleibt die Hierarchie? Klar lehrt das 2. Vat. Konzil, dass die hierarchische Struktur der Kirche ein menschliches und kein göttliches Element in der Kirche ist.[17] Wo es nur Hierarchie gibt, ist die Kirche „nicht wirklich gegründet“.[18] Wenn man konsequent ist, dann ist eine Konferenz, bei der nur Bischöfe anwesend sind, keine Kirchenversammlung, und das Wirken des Hl. Geistes ist nicht zu erwarten. Eines jedoch ist sicher, dass alle menschlichen Elemente in der Kirche, also auch die hierarchische Struktur jederzeit reformierbar, ja transformierbar ist. Ratzinger warnt richtig: „Monokratie, Alleinherrschaft einer Person, ist immer gefährlich. Selbst wenn die betreffende Person aus hoher sittlicher Verantwortung heraus handelt, kann sie sich in Einseitigkeit verlieren und erstarren“.[19] Ich meine, treffender kann man das Papsttum kaum kritisieren.

4. Hierarchie oder Demokratie?

Nun ist die Frage, ob nicht ein hierarchisches Kirchenverständnis viel schwieriger mit der biblischen Botschaft zu vereinbaren ist, als ein demokratisches. Auch demokratische Strukturen sind sicher nicht die beste Möglichkeit, aber heute sind sie die human bewährtesten. Als sich die Gesellschaft im 19. Jh. radikal zu wandeln begann, tauchte zum erstenmal das Argument der prinzipiellen Andersartigkeit der kirchlichen Gesellschaftsordnung gegenüber staatlichen Strukturen auf. Dies aber nicht im Namen des NTs, einer herrschaftsfreien Kirche, sondern gegen die Demokratiebewegung im Namen eines obersten Souverän, dem Papst. Vom 4. bis zum 19. Jh. sah man bewusst die Kirche in Analogie zu weltlichen Verfassungen, und ich habe noch in Rom gelernt, dass die Kirche eine vollkommene Gesellschaft sei, mit einem Herrscher von Gottes Gnaden und dem Recht, Menschen in Gefängnisse zu stecken und zu verurteilen. Jetzt aber heißt es, die Kirche ist als Gemeinschaft ganz anders als der Staat, denn sonst wäre auch der Herrscher in der Kirche von Volkes und nicht von Gottes Gnaden. Nur der Hierarch ist Subjekt des Handelns, das Volk ist sein Objekt. Daher sei der Kirche die Demokratie wesensfremd, zumal man über Glaubenswahrheiten nicht abstimmen kann. Aber gilt dies etwa für die Ernennung zu einem Gemeindevorsteher, für einen Episkopus oder Pontifex maximus? Es ist sicher richtig, dass nichts durch eine Wahlentscheidung wahr werden kann, sondern Wahrheit ist nur im Glaubensvollzug selbst. Aber auch über Glaubenssymbole, über Glaubensausdrücke wurde fast immer abgestimmt. Alle Konzilien sind Diskussionsforen gewesen, wo am Ende eine Abstimmung stand, und die Mehrheit entschieden hat, wenn auch, wie beim letzten Konzil, besonderer Wert auf eine möglichst große Übereinstimmung gelegt wurde.

So gab es immer in der Kirche demokratische Elemente, wenn sie auch nur innerhalb der Hierarchie und auch dort beschränkt durch den Papst galten. Der Glaubensausdruck wurde monopolisiert, und der Eindruck entstand, dass die Hierarchie einem dummen Volk die Wahrheit beibringen muss. Genau dieser Eindruck bewirkt, dass Jesus Christus in der Kirche nicht mehr erkannt wird. Dagegen war bereits Thomas von Aquin der Meinung, dass jeder Glaubende einen Glaubenssinn (instinctus fidei) hat, durch den er beurteilen kann, ob das, was ein Hierarch sagt, wirklich Glaubenswahrheit ist oder nicht! Wage also, deinen Glaubensverstand zu gebrauchen, er steht über jedem Gehorsamsakt, denn er ist geistgewirkt! Vox populi - vox Dei! Das Gottesvolk kann Stimme Gottes sein und Gotteserfahrung vermitteln. Paulus zeigt uns, wie sehr jeder Christ seine Fähigkeiten, seine Gaben, seine Charismen hat, und damit zum Ganzen der Kirche beiträgt. Insofern Demokratie - dem Wort nach - Herrschaft des Volkes bedeutet, ist Kirche keine Demokratie, weil sie biblisch grundsätzlich jede Herrschaft des Menschen über den Menschen ausschließen muss. Sie ist aber eine Demokratie, insofern gleichberechtigt jeder Glaubende mitbeteiligt ist am Leben und der Gestaltung der Glaubensgemeinschaft. W. Seibel S.J. meint, dass das NT eine größere Affinität zur Demokratie als zur Monarchie, die heute in der Kirche herrscht, hat. „Wohl aber finden sich in den rechtsstaatlichen Demokratien zahlreiche Elemente, die im Evangelium eine solidere Grundlage haben, als der noch herrschende Absolutismus. Die Kirche ist in einem ganz anderen Maß als jede profane Gesellschaft eine Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern, in der Unterschiede der Herkunft, des Geschlechts oder der gesellschaftlichen Stellung keine Rolle spielen. Diese in der Taufe gründende Gleichheit aller vor Gott müsste auch in den Strukturen ihren Ausdruck finden, und dafür bieten die modernen Demokratien eine Reihe von Formen und Mechanismen, die die Kirche ohne Schaden für ihr Wesen entsprechend übernehmen könnte, wie sie sich auch Elemente anderer Verfassungsformen ohne Bedenken zu eigen gemacht hat. Weder Gewaltenteilung noch Machtkontrolle noch Partizipation der Betroffenen an Entscheidungen widersprechen den vom NT vorgegebenen Normen ... Obwohl sich die Lebenswelt der Menschen, ihre Denk- und Bewusstseinsformen tiefgreifend geändert haben, hält die Kirche am Modell des Obrigkeitsstaats fest und fordert wie dieser von ihren Mitgliedern die Mentalität von Untertanen, die nur Objekte von Leitung und Belehrung sind. Das ist ein wesentlicher Grund für die Vertrauenskrise, der gerade ihre Leitungsorgane heute ausgesetzt sind“.[20] Wahres Christentum, jesuanische Frohbotschaft kann in ihr so nicht mehr vernommen werden, und das ist der entscheidende Grund, warum dem heutigen Menschen die Kirche kaum mehr etwas zu sagen hat. In der heutigen Struktur der Kirche findet sich der Niederschlag eines Menschenbildes, in dem die einen zum Gehorchen, die anderen zum Befehlen da sind. Die Gleichheit vor Gott wird verraten. Der Glaubende wird seiner christlichen Freiheit beraubt.

5. Zusammenfassung

1.) Jesus selbst hat keine Kirche gegründet. Er hat ihr daher a fortiori keine institutionelle Struktur gegeben; ein hierarchisches Prinzip hat mit dem Wesen der Kirche nichts zu tun. Das bedeutet jedoch nicht, dass jede Glaubensgemeinschaft mit institutionellen Elementen dem Anliegen Jesu widerspricht.

2.) Da das NT das Herr-Knecht-Verhältnis zurückweist, wir Freunde oder Brüder, Geschwister, genannt und alle Machtgelüste der Jünger Jesu getadelt werden, ist eine strukturelle Unter- und Überordnung in der Kirche auszuschließen. Freundschaft kennt keine strukturelle Unterordnung, sondern meint dialogische Beziehung. So erklärte die 2. LA Bischofskonferenz (Puebla 1979): „Die Zivilisation der Liebe lehnt Unterwerfung und Abhängigkeit ab“.

3.) Paulus, der eine ausgeprägt nachösterliche Ekklesiologie entwickelt, kennt nur ein Ordnungsprinzip in der Kirche: die Charismen, die uns vom guten Geist geschenkt werden, und durch die jeder zur Gemeinschaft in Christus beiträgt. Es ist das Prinzip der Herrschaftsfreiheit, das Appell an die christliche Freiheit ist, die Freiheit des anderen zu respektieren.

4.) In der Geschichte hat sich die Kirche in ihrer Struktur an weltlichen Vorbildern orientiert, so dass es in den ersten 5 Jahrhunderten zu einer hierarchischen Verfassung kam, die zu einem neuen Priestertum führte. Verschiedene Situationen, vor allem Notsituationen, haben dazu beigetragen.

5.) Daher sind alle institutionellen Strukturen der Kirche veränderbar. Keine muss sein, es gibt viele Möglichkeiten. Jede institutionelle Form der Kirche ist relativ. Ja, es ist keineswegs gesagt, dass alle Ortskirchen oder Kirchen in verschiedenen Ländern, die gleiche institutionelle Struktur haben müssen. Eine Glaubensgemeinschaft kann sich sehr wohl in vielen Formen verwirklichen, strukturell, liturgisch, sozial usw. Gerade heute in der pluralistischen Gesellschaft ist Pluralität institutionell gefordert. Die Vielfalt in der Einheit und die Einheit in der Vielfalt.

6.) Alle Institutionen in der Kirche, die Herrschaft und Macht besagen, sind auszuschließen, weil sie der jesuanischen Botschaft widersprechen und ein pervertiertes Menschenbild zur Grundlage haben. Sie erzeugen eine verkrüppelte und keine christliche Freiheit.

7.) Demokratische Strukturen in der Kirche, als Hilfsstrukturen, - keine Institution gehört zum Wesen der Kirche, verschiedene Ordnungsstrukturen widersprechen diesem jedoch nicht - können heute hilfreich sein und Menschen Zugang zur christlichen Botschaft ermöglichen.

8.) Schon unter den jetzigen Bedingungen können neue Strukturen gefunden werden. Oberste Maxime müsste, wie es in den echten Basisgemeinden LAs üblich ist, sein, dass alle gleichberechtigt sind. Sowohl der Priester wie der Bischof haben nur eine Stimme im kollegialen Gremium, können jederzeit überstimmt werden und fügen sich dem Beschluss. Einem beschämenden Herrschaftsmechanismus ist z.B. die Österreichische Bischofskonferenz 1994 verfallen, als sie bestimmte, dass ein Bischof nur einem geweihten Priester die Leitung einer Gemeinde übertragen darf. Seit Jahrzehnten gibt es in Zaire (Republik Kongo) den Mokambi: Er ist Laie, meist verheiratet und leitet eine Pfarrei mit allen Rechen eines Pfarrers. Koordinator einer Gemeinde, Prediger, Eucharistieleiter und selbstverständlich -leiterin, Sozialarbeiter, Jugendbeauftragte, Altenbetreuer usw. - all diese vielen Dienste, sind Charismen in der Kirche und haben grundsätzlich gleichen Stellenwert. Sie bilden in ihrer ergänzenden Tätigkeit die eine Kirche.

9.) Jede Zwei-Klassen-Gesellschaft, eine Zwei-Stände-Kirche, hätte damit ein Ende gefunden und die Monopolstellung des hierarchischen Prinzips in der Kirche wäre erloschen.

10.) So könnte über den Weg der Demokratie, im dialogischen Sinne, die charismatische Grundstruktur der Kirche verdeutlicht und sichtbar werden, die in unserer Welt dadurch wirksam wird, dass sie zur Befreiung von Herrschafts- und Machtmechanismen führt und alle Unmenschlichkeit verbannt. Dann wird die Kirche stets bereit sein zur Ausfahrt auf das offene, noch unbekannte Meer, und eine solche Kirche der Zukunft wird Christentum verwirklichen. Könnte dann nicht wieder der alte Ruf von Nichtchristen zu hören sein: Seht, wie sie einander lieben!

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Anmerkungen:

[1] Interview mit W. Keßler, in: Kolping Blatt (Köln) 19,1969, Nr. 4, 3.

[2] Theol.-prakt. Quartalschrift, 2, 1997, 115.

[3] Vgl. Ansprache des Papstes 1996 in Frankreich. FAZ, 193, 1997, 3.

[4] Hans Dieter Hüsch, Über Gott und die Welt und die Kleinkunst, CD. Intercord (INT 880.071) 1991; zit. nach: R. Lay, Nachkirchliches Christentum. Der lebende Jesus und die sterbende Kirche, Düsseldorf 1995, 11 ff.

[5] R. Lay, a.a.O. 9.

[6] Sei es über die Taufe (Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre „Über die Kindertaufe“, 1980), oder über die Zukunft und Hoffnung der Menschen (Schreiben „Zu einigen Fragen der Eschatologie“, 1979), stets wurde mit althergebrachten Klischees geantwortet.

[7] Tr. Kat. X,2: Ecclesia est populus fidelis per universum orbem dispensus.

[8] A. Loisy, L'Évangile et L'Église, Bellevue, 1903, 155: „Jésus annonçait le royaume, et c'est l'Église qui est venue“.

[9] Leo XIII., Enzyklika „Divinum illud munus“ (1897, D 3328).

[10] AAS 38, 1946, 143; 149.

[11] Zit. nach H. Haag, Worauf es ankommt. Wollte Jesus eine Zwei-Stände-Kirche?, Freiburg 1997, 33.

[12] J. Ratzinger, Zur Gemeinschaft gerufen. Kirche heute verstehen, Freiburg 1991, 133; 138.

[13] Vgl. H. Haag, a.a.O. 46.

[14] „Niemand darf auf absolute Weise (apolelymenõs) ordiniert werden, weder zum Priester noch zum Diakon ... Wenn ihm nicht auf deutliche Weise eine örtliche Gemeinde zugewiesen ist ... das hochheilige Konzil (beschließt), dass seine Handauflegung (cheirotomía) null und nichtig ist ... und dass er daher bei keiner einzigen Gelegenheit Funktionen ausüben darf (PG 104, 558).

[15] A. Brenon, Häresien im Mittelalter: „Es gibt zwei Kirchen ...“, in: Concilium 33, 1997, 354.

[16] M. Kehl, die Kirche. Eine katholische Ekklesiologie, Würzburg 1992, 51 f. Vgl. J. Werbick, Kirche. Ein ekklesiologischer Entwurf für Studium und Praxis. Freiburg 1994, 317 ff.

[17] LG 8: „Die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft“, ist das menschliche Element in der Kirche. Nur so konnte auch das „Kirche-Christi-sein“ anderen Kirchen nicht abgesprochen werden (LG 8; UR 3).

[18] Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche (AG 21).

[19] J. Ratzinger, Wesen und Auftrag der Theologie, Freiburg 1993, 75.

[20] W. Seibel S.J., Stimmen der Zeit, 213, 11, 1995, 722.

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