Menschenrechtserklärungen als Normen für eine Kirchenreform?

15.12.2009, Univ.-Doz. Dr. Paul Weß

Diskussionsbeitrag zur Enquete „Kirchenreform und Menschenrechte“ am 20.11.09 in Wien

Voraussetzung der folgenden Überlegungen ist die Unterscheidung zwischen den Menschenrechten und den Menschenrechtserklärungen. Dass dies nicht dasselbe sein kann, ergibt sich schon aus der Tatsache verschiedener Erklärungen, die nicht in allem übereinstimmen (sonst hätte eine genügt) und teilweise verbessert wurden:

Deklaration der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948
Europäische Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950, Neufassung 1. Nov. 1998
Grundrechtecharta der Europäischen Union, die mit dem LissabonVertrag in Kraft treten soll (von der aber drei Staaten der Union ausgenommen sind – gilt sie dann überhaupt noch?).
Die Idee der Menschenrechte und das tatsächliche Bestehen von Menschenrechten werden durch die folgenden Ausführungen keinesfalls in Frage gestellt, auch nicht, dass diese Rechte, obwohl weitgehend auf christlichem Gedankengut beruhend, außerhalb der Kirche und zum Teil auch gegen ihren Widerstand ausformuliert wurden und einige jetzt als Anforderungen von außen an die Kirche herantreten.1) Prinzipiell, allerdings ohne sich ausdrücklich einer der Erklärungen anzuschließen, wurde die Existenz und die Geltung der Menschenrechte inzwischen von der Katholischen Kirche anerkannt.
Kritisch hinterfragt werden hier die unterschiedlichen Menschenrechtserklärungen. Diese verhalten sich zu den Menschenrechten selbst ähnlich wie Glaubensbekenntnisse zu der Wirklichkeit, auf die sich der Glaube bezieht, wie Existenz und Wesen Gottes, Erlösung und Heil, Gottes- und Nächstenliebe usw. Solche Bekenntnisse können nur Annäherungen an die Wahrheit sein und sind so wie die kirchlichen Lehren über Gott und die Menschen immer wieder revisionsbedürftig. Die Notwendigkeit von inhaltlichen Verbesserungen soll vor allem am Beispiel der Deklaration der Menschenrechte der Vereinten Nationen gezeigt werden:

1. Fehlende Begründung aus einer ehrfürchtigen Annahme der Vorgegebenheit des Daseins
Eine von Menschen erklärte Unantastbarkeit der menschlichen Würde und der darauf beruhenden Gültigkeit von Menschenrechten ist von den Menschen aufhebbar. Der Mensch hat den Grund seines Daseins nicht in sich und kann sich nicht selbst seine Würde verleihen. Das „Geboren-Sein“ (Art. 1) als solches kann diese Würde nicht begründen und ist eine willkürliche Festlegung des Zeitpunkts, ab wann sie bestehen und gelten soll. Eine der menschlichen Verfügung entzogene Unantastbarkeit müsste von der Vorgegebenheit des menschlichen Daseins ausgehen, aus der sich eine Verpflichtung zur Ehrfurcht gegenüber allen Menschen ergibt. Vgl. dazu Václav Havel, Moral in Zeiten der Globalisierung, Hamburg 1998, 99:
„Politiker können auf internationalen Foren tausendfach wiederholen, dass die Grundlage einer neuen Weltordnung auf allgemeinem Respekt vor den Menschenrechten beruhen muss – solange dieser Imperativ nicht aus dem Respekt des Menschen vor dem Wunder des Seins, dem Wunder des Universums, dem Wunder der Natur und dem Wunder der eigenen Existenz hervorgeht, wird sich nichts ändern.“
Können Regierungsvertreter eine verpflichtende Gültigkeit von Menschenrechten beschließen (am 10.12.1948 bei 8 Enthaltungen) und erwarten, dass sich im modernen Pluralismus alle daran halten? Die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte“ der islamischen Länder weicht stark ab.

2. Übersehen der Endlichkeit des Daseins und Allmachtsphantasien
Die Deklaration der Menschenrechte setzt eine von den Menschen herstellbare heile Welt voraus, in der alle Menschen gleich begabt, sich über die ethischen Voraussetzungen des Zusammenlebens einig sind und moralisch auf höchstem Niveau stehen sowie alle Grenzen der Schöpfung prinzipiell überwinden können. Die natürlichen (auch psychischen und milieu-bedingten) sowie die durch persönliche Schuld bewirkten Ursachen des Übels bzw. Bösen in der Welt werden einfach übersehen oder übergangen. Die Endlichkeit und Erlösungsbedürftigkeit werden nicht ernst genommen. In versteckter Form handelt es sich um Phantasien von Allmacht, die die Menschen von Gott auf sich selbst übertragen („Gotteskomplex“).
Vgl. Hans Magnus Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg. Frankfurt a. M. 1993, 72:
„Vier Fünftel der Weltbevölkerung leben unter Verhältnissen, die der Rhetorik der Deklaration hohnsprechen; Jahr für Jahr kommen fast hundert Millionen hinzu, deren Aussichten nicht besser, sondern noch weitaus schlechter sind als die ihrer Eltern. Vor diesem Hintergrund wirken die stolzen Formulierungen der Vereinten Nationen zynisch.“
Enzensberger sieht die tiefere Dimension dieser Problematik:
„Die Idee der Menschenrechte erlegt jedermann eine Verpflichtung auf, die prinzipiell grenzenlos ist. Darin zeigt sich ihr theologischer Kern, der alle Säkularisierungen überstanden hat. Jeder soll für alle verantwortlich sein. In diesem Verlangen ist die Pflicht enthalten, Gott ähnlich zu werden; denn es setzt Allgegenwart, ja Allmacht voraus. Da aber alle unsere Handlungsmöglichkeiten endlich sind, öffnet sich die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit immer weiter. Bald ist die Grenze der objektiven Heuchelei überschritten; dann erweist sich der Universalismus als moralische Falle“ (ebd. 74).
Zu den utopischen Inhalten der Menschenrechtserklärungen, die die Begrenztheit und Erlösungsbedürftigkeit des irdischen Daseins übersehen, gehören auch manche Vorstellungen von der Gleichheit der Menschen. Wie die Menschenwürde nicht vom Menschen begründet werden kann (das wäre zirkulär), so auch nicht die Gleichheit der Menschen in dieser Würde. Beide gründen im vorgegenständlichen Bereich des PersonSeins, der vom Menschen nicht gegenständlich gefasst und gesichert werden kann. Wenn dies dennoch versucht wird, mündet es in die Behauptung der Gleichheit der Menschen im gegenständlichen Bereich der äußeren Gegebenheiten, also der Eigenschaften, Talente und Gesinnungen. Die Vorstellung, dass alle Menschen nicht nur eine gleiche (personale) Würde haben, sondern auch in ihren Eigenschaften und Haltungen prinzipiell gleiches Niveau erreichen, beruht auf utopischen Anschauungen, die die Begrenztheit und Geschichtlichkeit des irdischen Daseins übergehen.
Ein System, dass auf solche grenzenlose Vorstellungen von Menschenrechten baut, kollabiert an den maßlosen Ansprüchen, die es an sich selbst stellt, Dass es dies nicht gleich merkt, hängt auch damit zusammen, dass die diesen Rechten entsprechenden Pflichten nicht überlegt und formuliert, geschweige denn erfüllt werden. Damit kommen wir zu:

3. Fehlende oder viel zu vage Bestimmung der korrespondierenden Menschenpflichten
Leider verlief der Appell einiger Staatsmänner, fünfzig Jahre nach der 1948 erfolgten Allgemeinen Erklärung der Menschen¬rechte durch die Vereinten Nationen auch einen Kanon der korrespondierenden Menschenpflichten zu formulieren, im Sand.2) Die Menschenrechte werden ohne die Anerkennung und Übernahme der entsprechenden Pflichten bloße Wunschträume bleiben. Ein realer – aber nicht eingestandener – Grund für die einseitige Proklamation allein der Menschenrechte könnte schon darin liegen, dass diese in der Formulierung der Vereinten Nationen eigentlich eine utopische Zielvorstellung, also nach menschlichen Möglichkeiten gar nicht erfüllbar sind. Der tiefere Grund dürfte aber sein, dass ebenso wie die Begründung der Menschenrechte auch jene der Menschenpflichten nicht erfolgt und auch nicht möglich ist, wenn beide auf Festlegungen der Menschen und nicht auf vorgegebenen Wertmaßstäben beruhen.

An diesen drei konkreten Kritikpunkten zeigt sich die inhaltliche Problematik der Menschenrechtserklärungen. Sie können daher nicht einfach als Maßstab einer Reform der Kirche dienen, auch wenn sie dazu wichtige Anstöße geben. Ein Dialog über sie wäre dringend nötig.

DDr.Paul Weß ist Dozent an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Innsbruck und hat bei der Enquete "Kirchenreform und Menschenrechte" am 20. November 2009 in Wien ein Referat gehalten

Anmerkungen:

1) Karl Rahner bezeichnet das „moderne Weltverständnis rationaler Art“ und den „Geist der Neuzeit“ als „Gottes entlaufene Söhne“ (ders., Die Gegenwart der Kirche. In: Handbuch der Pastoraltheologie II/1 Freiburg – Basel - Wien 21970, 178-276; hier 236). Thomas Plankensteiner nennt die „neuzeitlichen Emanzipationsbewegungen“ in Anschluss daran „Gottes entlaufene Kinder“ (ders., Gottes ent-laufene Kinder. Zum theologischen Hintergrund des Kirchenvolks-Begehrens. Thaur 1996; hier 136).

2) Vgl. Helmut Schmidt, Zeit, von den Pflichten zu reden! Ein gewaltsamer Zusammenprall der Kulturen kann vermieden werden. In: Die Zeit, Nr. 41 vom 3. Oktober 1997, 17f. Ebd. 18 die vom InterAction Council, einem weltweiten Zusammenschluss ehemaliger Staatsmänner, den Vereinten Nationen und der Weltöffentlichkeit zur Diskussion vorgelegte „Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten“. Deren Formulierung ist zwar etwas präziser als Art. 29 der Menschenrechtsdeklaration, aber immer noch viel zu vage. Zur ganzen Problematik vgl. auch Paul Weß, Welche soziale Identität braucht Europa? Essay. Mit einem Geleitwort von Kardinal Franz König und einem Nachwort von Erhard Busek. Wien 2002, 35–43.