Bergoglio: Das Recht, sich zu ändern

29.03.2013, José L. Caravias SJ

Der Jesuitenpater José L. Caravias erlebte Jorge Mario Bergoglio als Provinzial in der Zeit, in der die Argentinische Diktatur mit harter Faust agierte. Er sieht die Begegnungen "als sehr wertvoll".

Ich bin beeindruckt, mit welcher Halsstarrigkeit man darauf besteht, weit zurückliegende angebliche Fehler, die man dem jüngst ernannten Papst Franciscus vorwirft, immer neu zur Sprache zu bringen. Jorge Bergoglio hat seine persönliche Geschichte, wie jeder Mensch, voll von Erfolgen, Problemen, Irrtümern und Zweifeln. Er hat seinen Charakter, sein Temperament und die Bürde seiner Vergangenheit. Aber wie alle Sterblichen hat er das Recht, Irrwege korrigieren zu können und die Wunden seiner Kämpfe zu heilen.

Ich bin ihm im Laufe des Jahres 1975 immer wieder begegnet. Er war mein Superior Provinzial. Er hörte mich an und behandelte mich immer liebevoll. Aber ich war ein Problem für ihn.

Im Mai 1972 wurde ich in Asunción von Paraguay durch ein Polizeikommando verfolgt und ohne Papiere an die argentinische Grenze gezerrt. Die Diktatur von Stroessner sparte nicht mit Verleumdungen, um mein Engagement innerhalb der Ligas Agrarias Cristianas, deren nationaler Berater ich war, zu beschmutzen.

Ich blieb zwei Jahre bei den einfachen Menschen im argentinischen Chacogebiet, wo ich eine Gewerkschaft der Holzfäller gründen konnte, die zur Erzeugung von Tannin Holz vom Quebracho-Baum gewannen, dabei aber von den Aufsehern der Gegend grausam ausgebeutet wurden. Die Gewerkschaft wurde genehmigt und funktionierte, aber die Aufseher kannten kein Pardon mir gegenüber. Die tödlichen Fallen, die sie uns stellten, waren so schlimm, dass ich mich entschließen musste, die Gegend zu verlassen und nach Buenos Aires zu gehen. Dort begann ich die Villas Miseria aufzusuchen, um mich um die Menschen aus Paraguay zu kümmern.

Inmitten erschreckender Spannungen teilte mir wenige Monate später Bergoglio mit, er habe erfahren, dass die „Triple A“ (Alianza Anticomunista Argentina) für mich und andere den Tod beschlossen habe. Es wäre das Beste, wenn ich mich für einige Zeit nach Spanien absetzen würde.

In diesen Tagen wurde ich bei einem Abschiedsbesuch in Resistencia, der Hauptstadt des Chaco, verhaftet und verbrachte eine fürchterliche Nacht in einem schmutzigen Kerker. Schrecklich ist der Schlag des Kerkerschlosses und die Unsicherheit, dass du nicht weißt, ob es für dich einen Morgen geben wird. Um Mitternacht simulierten sie mit mir eine Erschießung.

Zwei der mit mir befreundeten Priester waren in den vorhergehenden Monaten ermordet worden: Mujica in den „Villas“ und Mauricio Silva, ein Straßenkehrer-Priester, mit dem ich einen schönen Gesprächs-Austausch gepflegt und Eucharistien gefeiert hatte. Einmal mehr spürte ich das Messer der Diktatoren an meiner Kehle.

Ich dachte, dass es schon genug war, mich als tapfer hinzustellen, und entschied mich, die Einladung von Bergoglio, dieses von solchen Wirren geplagte Argentinien zu verlassen, anzunehmen. Später erzählte man mir, wie die Polizei mit Rastermaßnahmen meine Spuren im Chaco vernichtete. Aber was mich noch mehr schmerzte, war, dass sie auf der Suche nach Information über mich Freunde mit sehr grausamen Torturen unter Druck setzten.

Was meinte Bergoglio zu all dem? Mich ermunterte er, zu fliehen. Ich glaube, dass er sich erleichtert fühlte, als ich ging. Sicherlich war er nicht mit allem einverstanden, was ich unterm Volk organisierte. Vielleicht brachten ihn die zahlreichen Informationen der Polizei zum Zweifeln, mir gegenüber aber verhielt er sich nobel und half mir, einem sicheren Tod zu entkommen. Und dafür werde ich ihm immer dankbar sein.

Einige beschuldigen ihn, er sei nicht genügend mutig gewesen, jene Situationen anzuprangern. Das beunruhigt mich. Man muss diese schrecklichen Spannungen durchlebt haben, um von heute aus Vorwürfe machen zu können. Beim geringsten Widerspruch haben sie gefoltert und gemordet.

Vielleicht hat Bergoglio, da er ein Mensch ist, Fehler begangen. Manchmal irrte er sich. Er ließ sich von Furcht und Vorurteilen leiten. Aber das haben wir alle getan. Die Giftgase der Diktatoren haben uns allen den Verstand geraubt. Man soll uns nicht bedrängen, weil wir diese Gase eingeatmet haben. Wir haben eben gelebt und geatmet, so gut wir konnten.

Wesentlich ist, wie wir unsere Lungen von diesen Wunden heilten. Sicherlich war für Bergoglio, wie für viele von uns, große Anstrengung nötig, um gesund zu werden. Es ist nicht leicht, diesen Horror zu vergessen und zu verzeihen. Aber für ihn wie für mich und so viele andere, zum Beispiel Francisco Jalics, war der Glaube an Jesus Christus richtungweisend. Wir, die wir all das erlitten haben und heute ruhig atmen, erkennen, dass die Kraft des Auferstandenen uns ermöglichte, mit neuem Mut wiedergeboren zu werden. Wir alle ändern uns mit der Zeit. Wir werden reif. Auch Jorge. Seine Handlungsweisen sind nicht die gleichen wie vor etwa vierzig Jahren.

Das beweisen seine letzten Jahre in Buenos Aires. Er ist dem Volk viel näher, seine Ideen sind klarer, seine Kritik überzeugender. Und auf seine Schultern ist jetzt eine viel größere Last gefallen. Warum lässt man sich darauf ein, ihm seine möglichen Irrtümer der Vergangenheit vorzuwerfen? Wäre es nicht wesentlich vernünftiger, ihn bei seiner Strenge und in seinem Dienst an den Armen zu unterstützen?

Die extreme Rechte beginnt schon, ihn als Verräter, als Antipapst, anzuschwärzen. Und vielleicht ist der hohe Weltkapitalismus dabei, die Verleumdungen weiter zu verbreiten, um sein Prestige zu beeinträchtigen, denn ein mit sich selbst strenger, für die Armen engagierter Papst ist für sie gefährlich.

Einige jammern, dass der Papst kein großer Revolutionär sei. Dies ist nicht möglich. Aber wenn er es schafft, wie er wohl bekräftigt hat, dass die Kirche arm sein und im Dienst der Armen stehen soll, heißt das, dass er bedeutende historische Schritte gesetzt hat.

Ein Zeichen für den Wechsel. Vor ca. zehn Monaten forderte er an der Theologischen Fakultät von Buenos Aires für den Priester Rafael Tello die gebührende Anerkennung zurück. Dieser war einer der Initiatoren der Befreiungstheologie, der durch die Hierarchie von damals verurteilt und ins Abseits gedrängt wurde. Nun sagt Bergoglio: “Die Geschichte hat ihre Ironien. Ich komme, um euch ein Buch über die Denkweise eines Menschen zu präsentieren, der von dieser Fakultät entfernt worden war. Sachen der Geschichte. Diese Reparationen, die Gott bewirkt: dass die Hierarchie, die es zu ihrer Zeit für richtig hielt, ihn zu entfernen, heute sagt, dass seine Denkweise gültig sei. Mehr sogar, sie war Fundament der Evangelisierungsarbeit in Argentinien. Ich möchte Gott dafür danken.“ Es ist der Mühe wert, seinen Diskurs, der etwa eine Stunde dauert, vollständig anzuhören.

Unterstützen wir ihn. Ermutigen wir ihn. Er bat um den Segen des Volkes. Helfen wir ihm, in seinem Glauben an Christus konsequent zu sein, angeregt durch den heiligen Ignatius und erleuchtet durch den heiligen Franziskus.

Übersetzung: Elsa Wolfbauer