17.12.2012, Herbert Kohlmaier
Die römisch-katholische Kirche ist in vielen Staaten als Körperschaft öffentlichen Rechts anerkannt. Gesetze regeln die Beziehung zu ihr, wobei uns auch das Zuerkennen von besonderen Rechten entgegentritt. Der so genannte „Heilige Stuhl“ bzw. Vatikanstaat ist Subjekt des Völkerrechts, mit ihm werden diplomatische Beziehungen gepflegt und Verträge (Konkordate) abgeschlossen.
Diese Situation ist Ergebnis der historischen Entwicklung. Die Kirche hat durch viele Jahrhunderte auf das politische Geschehen erheblichen Einfluss ausgeübt; es gab zahlreiche Verknüpfungen staatlicher und kirchlicher Macht. Bis in unsere Gegenwart wirkt auch die so genannte normative Kraft des Faktischen. Der Staat geht davon aus, dass der Zusammenschluss sehr vieler Menschen zur Glaubensgemeinschaft Kirche bei Regelung der öffentlichen Angelegenheiten bestimmte Bedachtnahmen rechtfertigt.
Die Entwicklungen in der Neuzeit haben den Grundsatz der Religionsfreiheit verwirklicht. Es besteht eine prinzipiellen Trennung von säkularisiertem Staat und Kirche. Das Wirken der Glaubensgemeinschaften findet innerhalb eines selbständigen und autonom bestimmten Raumes statt. Es sind jedoch noch immer wesentliche Restbestände ehemaligen Zusammenwirkens vorhanden. Als Beispiel sei hier die Mitwirkung des Staates bei der Beschaffung finanzieller Mittel seitens der Kirche genannt. Weiters ihr Recht, trotz geltender Freiheit der Wissenschaft darüber zu entscheiden, wer als Lehrkraft an den katholisch-theologischen Fakultäten staatlicher Universitäten zuzulassen ist.
Es ist offensichtlich, dass der Staat beim Einräumen solcher Sonderrechte von einem untadeligen Charakter der Kirche ausgeht, deren Situation er als einwandfrei geordnet voraussetzt. Es besteht auch eine immer wieder sichtbar werdende Hemmung, die innerkirchliche Situation politisch oder rechtlich zu beurteilen, da dies den Frieden zwischen Staat und Glaubensgemeinschaft beeinträchtigen könnte. Man vermeidet, sich „da einzumischen“. Dabei wirkt auch das Bestreben, früher bestandene Animositäten zwischen politischen Kräften und der Kirche keinesfalls wieder aufleben zu lassen.
Heute ist allerdings die Frage sehr ernsthaft zu stellen, ob diese Haltung gegenüber der r. k. Kirche noch gerechtfertigt ist. Es ist ja sowohl im innerstaatlichen als auch im internationalen Bereich üblich geworden, dass die Regierungen beurteilen, ob alle jene Gebilde, denen sie gegenüberstehen und mit denen sie kooperieren, in jeder Hinsicht korrekt vorgehen. Dabei hat die Wahrung der Grund- und Menschenrechte besondere Bedeutung. Auf der nationalen Ebene schreibt daher die Rechtsordnung Institutionen aller Art, die das Leben der Bürger und Bürgerinnen maßgeblich zu beeinflussen in der Lage sind, vor, bestimmte rechtliche und demokratische Standards einzuhalten.
Notwendige Beurteilungen
Dies ist nicht als Einschränkung des allseits zu wahrenden Rechts auf Autonomie anzusehen, sondern entspricht einer bestimmten Form staatlicher Verantwortung. Sosehr auch den Menschen die Möglichkeit gewahrt bleiben muss, sich frei zu vereinigen und Tätigkeiten aller Art zu entfalten, muss dies alles innerhalb eines gesetzlich festgelegten Rahmens stattfinden, der Willkür, Missbrauch und Verletzung unverzichtbarer Rechte ausschließt. Dies betrifft alle wichtigen Lebensbereiche wie insbesondere Politik, Wirtschaft und Kultur.
Auch im internationalen Bereich hat sich dieses Prinzip durchgesetzt. Durch zahlreiche völkerrechtliche Vertragswerke verpflichten sich die Staaten gegenseitig, die Grundsätze einer humanen Gesellschaftsordnung zu beachten. In jüngerer Zeit ist es auch zur Etablierung von internationalen Gerichtsinstanzen gekommen, welche eine schwere Verletzung von Menschenrechten ahnden. In der globalen Gemeinschaft gilt der Grundsatz, dass Staatsmacht als Voraussetzung ihrer vollen Anerkennung von der jeweiligen Bevölkerung einwandfrei legitimiert sein muss. Jüngst war auf der Weltebene wieder die Frage zu klären, ob Kräfte, die gegen autoritäre Systeme kämpfen, als Repräsentanten der Bevölkerung zu beurteilen wären.
Im Verhältnis zur Kirche, die ja auch Völkerrechtssubjekt ist, unterbleibt hingegen jede Prüfung, ob gravierende Mängel bestehen, die festzustellen wären und zu Konsequenzen im Umgang mit ihr führen müssten. Eine objektive Betrachtung lässt nun erhebliche Bedenken entstehen, ob diese Zurückhaltung weiterhin vertretbar ist. Es geht dabei nicht darum – was zu betonen ist –, Freiheit von Kirche und Glauben irgendwie in Frage zu stellen, sondern darum, ob Religionsgemeinschaften insgesamt unter Berufung auf Glaubensinhalte allgemein verbindliche Verhaltensregeln missachten dürfen.1
Bei Betrachtung all dessen erhebt sich die Frage, ob es seitens der Staaten etwa einfach hingenommen werden kann, dass die von der Kirche erlassene eigene Rechtsordnung die Menschenrechte ihrer Bürger verletzt. Der Codex Iuris Canonici ist als eine in Gesetzesform gegossene Glaubensordnung anzusehen, welche wesentliche Rechte und Pflichten der Kirchenangehörigen regelt. Dabei zeigt sich absolut Kritikwürdiges. So wird u. a. von der kirchlichen Rechtsordnung bestimmt, dass Personen, die sich für den Priesterberuf entscheiden, das garantierte Recht auf Familiengründung einbüßen oder dass Frauen gegenüber Männern geringere Rechte besitzen.2
Dem bisher Dargelegten folgend ist zu fragen, ob die Leitung der weltumspannend agierenden Kirche überhaupt als von ihren Rechtsunterworfenen dazu legitimiert betrachtet werden kann, derartige Vorschriften zu erlassen. Hier legt eine objektive Beurteilung der bestehenden Verhältnisse nahe, dass die ausgeübte kirchliche Rechtsautorität offensichtlich einer tauglichen und allseits zu respektierenden Stütze gänzlich entbehrt. Das vatikanische Regime weist nämlich heute deutliche Merkmale eines strikt autoritären Systems auf, dem es an unverzichtbaren Elementen einer menschengerechten Regierungsform mangelt.
Im von jeder Einflussnahme abgeschirmten Obrigkeitssystem des Vatikans fehlen wirksame Formen von Mitwirkungsrechten der Rechtsunterworfenen beim Zustandekommen und beim Vollzug der Normen zur Gänze. Es existieren keine unabhängigen Kontrolleinrichtungen und keine ausreichenden Rechtsbehelfe, die in Anspruch genommen werden können, wenn ein Mitglied Entscheidungen der kirchlichen Instanzen als Unrecht empfindet. Kein faires Verfahren steht in solchen Fällen zur Verfügung, das sich an den sonst überall geltenden Rechtsgrundsätzen orientiert. Dies, obwohl es nach kirchlicher Auffassung eine natürliche und allseits zu beachtende Ausstattung der Person mit Rechten gibt, zu deren Beachtung die Staaten ermahnt werden!
In Anspruch genommene Macht
Die Ämter der Kirche werden im Rahmen einer lückenlosen Entscheidungskette besetzt, an deren Spitze eine Einzelperson steht, die in keiner Weise an irgendwelche Regeln gebunden ist. Das Oberhaupt der im weltlichen Bereich auftretenden Institution Kirche verfügt über eine unbeschränkte Entscheidungsbefugnis einschließlich eines überall hin reichenden Durchgriffsrechtes.3 Es gibt keinen Schutz gegen Willkür und Machtmissbrauch. Die Kirche hält sich also selbst nicht an das Subsidiaritätsgebot, dessen Beachtung sie gegenüber den weltlichen Mächten aber einfordert.
Die in der zivilisierten Welt sonst nirgendwo mehr vorzufindende Allmacht wird religiös begründet. Jesus Christus, auf den sich die Kirche beruft, hätte einem seiner Jünger eine solche Befugnis übertragen. Diese unbegrenzte Macht wirke „stellvertretend“ für Gott und stehe aufgrund geistlicher Nachfolge allen Päpsten zu. Die herrschende Lehre der Wissenschaft geht allerdings davon aus, dass dieser Anspruch einer unanfechtbaren Begründung entbehrt. Eine derartige Ermächtigung stünde sogar im diametralen Gegensatz zur Lehre Jesu, der für seine Nachfolge jede Herrschaftsausübung ausschloss.4
Eine kritische politische Analyse dieser historisch entstandenen und in jüngerer Zeit sogar deutlich verstärkten Machtzusammenballung muss sogar zu einem höchst beunruhigenden Ergebnis führen. Die kirchlichen Leitungsstrukturen, wie sie sich heute darstellen, lassen deutliche Parallelen zu faschistischen Diktaturen erkennen.5 Das Kirchenregime verwirklicht das Führerprinzip in absoluter Form, in ihm dominieren eindeutig antiliberale und antidemokratische Elemente. Dazu kommt auch eine wahrzunehmende rücksichtslose Unterdrückung jeder Kritik etwa in Form von Rede- und Lehrverboten bzw. der Funktionsentkleidung.
Nun könnte all dem entgegengehalten werden, dass dieses Leitungssystem vom Kirchenvolk bejaht würde. Dies wäre immerhin vom Staat zu beachten. Jede einigermaßen bemühte Prüfung muss aber zu dem Schluss kommen, dass ein solcher Konsens des Akzeptierens keineswegs (mehr) existiert. Eine große Zahl von Menschen verlässt die Kirche nicht nur wegen ihrer Glaubenslehre, sondern weil sie diese als Institution ihrer Art ablehnen. Was die Verbleibenden betrifft, darf keinesfalls übersehen werden, dass wesentliche Teile des Kirchenvolkes das herrschende Regime energisch missbilligen und ihm die Gefolgschaft verweigern. Dies erfolgt naturgemäß in einer gewaltlosen Form und hätte andernfalls die Aufmerksamkeit der Staatsverantwortlichen längst hervorgerufen.
Bei einer unumgänglich gewordenen kritischen Betrachtung der Vorgänge in der Kirche müsste jede Regierung vor allem auch zu einem weiteren bedeutsamen Schluss kommen: Die in ihrem Verantwortungsbereich als kirchliche Autoritäten auftretenden Bischöfe können nicht mehr als Repräsentanten des der Kirche angehörenden Teils der Bevölkerung angesehen werden. Die Entwicklung, wie sie von den Päpsten nach dem II. Vatikanischen Konzil konsequent verfolgt wurde, hat zu einer weitgehenden Entmündigung der Bischöfe und zu ihrer totalen Unterstellung gegenüber dem Vatikan geführt.
Die Bischöfe müssen bei ihrem Amtsantritt einen Eid ablegen, sich den absolut freien Entscheidungen des Papstes bedingungslos zu beugen. Es hat sich in jüngerer Zeit mehrfach erwiesen, dass Rom diese Pflicht zu uneingeschränktem Gehorsam bedenkenlos durchsetzt. Der aktuelle Fall des slowakischen Amtsträgers Róbert Bezák zeigt wie schon bei Ähnlichen zuvor, dass jedes und offenbar selbst geringfügige Abweichen von den Vorgaben des Vatikans zur sofortigen Absetzung führt. Diese erfolgt ohne Angabe der dafür vorliegenden Gründe und erweist sich damit eindeutig als Willkürakt.
Schutzverpflichtung des Staates
Den Staaten stehen sohin die Bischöfe nicht als Repräsentanten der gläubigen Bevölkerung gegenüber, sondern als gegängelte Vertreter einer totalitären ausländischen Macht, die in die Intereressens- und Rechtssphäre der einzelnen Länder eingreift. Regierungen und Volksvertretungen demokratischer Rechtsstaaten wären sohin in Wahrnehmung ihrer Schutzverpflichtung gegenüber ihren Bürgern und Bürgerinnen verpflichtet, auf die geschilderten Verhältnisse zu reagieren. Sie müssten das Verhältnis von Staat und römisch-katholischer Kirche, so wie es jetzt geregelt ist, überdenken.
Zur Beseitigung der wahrzunehmenden gravierenden Missstände bieten sich zwei mögliche Wege an. Zum einen könnte sich der Staat dazu entschließen, alle besonderen rechtlichen und faktischen Unterstützungen der Kirche zu beenden. Das würde bedeuten, sich auf jene Förderungen zu beschränken, die allen Religionsgemeinschaften angesichts ihrer wichtigen und nach wie vor bestehenden Funktion insbesondere der Kirchen im humanitären, karitativen, erzieherischen und volksbildnerischen Bereich sehr wohl gebühren.
Die andere Möglichkeit wäre, die rechtliche Sonderstellung der katholischen Kirche Roms aufrecht zu erhalten, aber dabei sicherzustellen, dass diese als Partner der Republik die heutigen Standards aller Grund- und Freiheitsrechte einhält. Dazu würde auch gehören, darauf zu achten, dass nur solche Personen zu Bischöfen ernannt werden, die unser demokratisches rechtsstaatliches System uneingeschränkt bejahen und die von jenen akzeptiert werden, welche sie anzuleiten haben. Sie wären, sofern sie das Vertrauen der Gläubigen genießen, gegebenenfalls dann auch vor willkürlicher Amtsbehinderung zu schützen.
Zusammenfassend sei festgestellt, dass aufgrund der geschilderten Situation ganz offensichtlich ein Handlungsbedarf der staatlichen Instanzen in der Form besteht, dass sie ihr Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche gewissenhaft zu überprüfen hätten.
Volksanwalt i. R. Dr. Herbert Kohlmaier
Wien, im Dezember 2012