Zurück zur Quelle

Überlegungen von Peter Trummer

Christ in der Gegenwart 24/2022, S. 3-4
Zurück zur Quelle
Es ist angesagt, über die Zukunft der Eucharistie nachzudenken!
Überlegungen von Peter Trummer
Selbst Karl Rahner gestand einmal, dass er erst durch einen evangelischen Pastor auf das Modell der „sibirischen Messe“ gekommen war. Der hatte ihn gefragt: „Stellen Sie sich vor, ein paar nach Sibirien verbannte Christen würden dort einsam und ohne einen geweihten Priester leben. Können diese Leute wirklich nicht miteinander das Abendmahl des Herrn feiern? Glauben Sie im Ernst, dass Gott in diesem Fall sagen wird: Ihr von aller Welt verlassenen Christen, die ihr an der Passion meines Sohnes in bitterster Weise real teilnehmen müsst, es tut mir leid, aber ich kann euch nicht helfen. Es gibt ein Gesetz, iuris divini (göttlichen Rechts,), wonach das Abendmahl Jesu nur mit einem ordinierten Priester als Vorsteher gefeiert werden kann; da kann ich auch nichts machen. Ich werde euch auf andere Weise segnen und euch helfen; aber es tut mir leid: eine Eucharistiefeier gibt es bei euch eben nicht.“

Karl Rahner war in seinem Urteil sehr klar. „Da sind getaufte Christen, sie leben in einer Situation ihrer Existenz, zu der der ausdrückliche christliche Glaube, die Schrift, die Bezogenheit auf die Kirche ... gehören, sie sprechen die Worte des Gedächtnisses des Todes des Herrn, sie haben eine gemeinsame Feier in Gebet und christlicher Liebe. Und so empfangen sie - auf jeden Fall - die res sacramenti der Eucharistie.“ Rahner erklärte, er könne sich nicht vorstellen, dass Gott den in den Straflagern Feiernden die Gnade vorenthalten würde, nur weil sie keinen geweihten Priester hätten.
Doch warum reden wir hier überhaupt von Gnade? Wenn wir gedanklich einen Schritt zurücktreten, kommen wir zu weit grundsätzlicheren Fragen: Wer sagt denn eigentlich, dass wir Gott gnädig stimmen müssen? Kann von Gnade die Rede sein, wenn sie nur durch bestimmte Kanäle fließt? Ist es nicht eher unsere Einbildung, dass Gott ob der bösen Welt gar nicht anders könne, als zornig zu werden? Auch Bibelübersetzungen bedienen solche Phantasien, wenn sie von der Leidenschaft Gottes als „Zorn“ reden oder sein Handeln aus dem Recht heraus unbedacht „Rache“ oder „Vergeltung“ nennen (vgl. Hebr 10,30; Röm 12,19).
Selbst die Theologie ist nicht davor gefeit, die eigene Weitsicht ins Unendliche hochzurechnen und für Gott zu halten. Doch auch die beste Rede über (oder richtiger: von) Gott ist immer mehr falsch als richtig; denn niemand hat Gott je gesehen (Joh 1,18). Ich mei-ne: Ob eine religiöse Ansage einigermaßen stimmig ist, zeigt sich einzig in ihren konkreten Auswirkungen. Wenn auch nur ein einziger Mensch durch sie zu Schaden käme, kann dabei nicht vom Schöpfer des Alls die Rede gewesen sein, sondern dann wurden eigene Machtinteressen religiös überhöht.
Die verhängnisvolle Verbindung der Gewalt mit dem Heiligen hat der französische Philosoph Rene Girard (1923-2015) modellhaft so erklärt: Irgendwann im archaischen Kampf aller gegen alle passierte ein Totschlag, und im allgemeinen Erschrecken darüber entstand die Deutung, dieses Menschenopfer habe den Zorn der Götter besänftigt. Damit war der Opferkult geboren.
Dies mochte ein erfolgreiches „Geschäftsmodell“ werden, das Problem der Gewalt hat er aber nicht gelöst. Denn der Zorn der Götter spielt in Wahrheit in uns. Also kann von Gotteserkenntnis nur in dem Maß die Rede sein, wie wir die eigenen Projektionen zurücknehmen und den Höchsten nicht mehr manipulieren wollen. Ein solcher Aufklärungs- und Läuterungsprozess lässt sich bereits in der Bibel verfolgen. Sie kennt viele Opfer, aber ebenso eine radikale Kritik, vor allem hinsichtlich der Kinderopfer (vgl. Gen 22).
Am höchsten jüdischen Feiertag, dem Jom Kippur, wird zwar noch der Sündenbock in die Wüste geschickt (vgl. Lev 16), aber die zentrale Liturgie ist ganz und gar kein Opfer mehr. Es wird dort nichts „gesühnt“, es fließen keine Ströme von Blut wie bei den sprichwörtlich „100 Rindern“ (Hekatomben). Vielmehr verspritzt der Hohepriester mit seinem Finger siebenmal einige Tropfen Blut im (leeren) Allerheiligsten und am Altar davor. Womit (vor dem Hintergrund des altorientalischen Bluttabus) die Anwesenheit Gottes angedeutet wird. Diese rituelle (oder besser schon sakramentale) Vergewisserung ist nach dem Sündenbekenntnis des Hohepriesters sinnvoll und entlastend, aber es gibt keinerlei mechanische Verbindung zwischen seinem Tun und dem göttlichen Wohlwollen. Visualisiert wird das Ganze mit der Bildvorstellung: Gott deckt die Schuld zu. Die Idee funktioniert auch ohne Blut. Zumindest ist das Judentum mit der Zerstörung des Tempels und dem Ende aller Priesteropfer erstaunlich gut zurechtgekommen.
Und genau zu dieser Zeit lässt auch der Judenchrist Matthäus - übrigens als einziger der Evangelisten - Jesus beim Abendmahl den Becher mit Rotwein („Traubenblut“), analog zum Jom Kippur, als mein Bundesblut... zur Vergebung der Sünden (Mt 26,28) deklarieren. Auch das ist kein Opfer, sondern das genaue Gegenteil: Jesus hat sein ganzes Leben für seinen ohne Opfer gütigen und gastfreundlichen Abba-Gott eingesetzt und ist bereit, das mit seinem Blut für uns und die ganze Welt zu bezeugen. Ihm plötzlich ein Opfer nachsagen zu wollen ist mehr als ehrenrührig. Gemeint ist vielmehr: Alle aus dem Becher Jesu Trinkenden gehen verbindlich eine „Blutsverwandtschaft“ mit ihm und untereinander ein, können die bedrückenden Fragen der Schuld endgültig loslassen, sie weder den anderen „nachtragen“ noch ständig Gott um Vergebung bitten.
Doch überall lauert die Opferfalle. Schon im Gloria der Eucharistiefeier heißt es zweimal „Du nimmst hinweg die Sünden der Welt“, während der Täufer auf Jesus als das Lamm Gottes hinweist, das die Sünde der Welt aufhebt (vgl. Joh 1,29). Die Sünde ist damit nicht einfach weg, aber Jesus hat uns wenigstens so weit den Rücken gestärkt, dass wir uns nicht mehr länger verkrümmen müssen, sondern trotz der Schuld noch aufrecht und aufrichtig vor Gott stehen können. Von einer „Sühnetheologie“ ist gerade im Johannesevangelium nicht die leiseste Rede. Trotzdem lesen die Übersetzungen anderes heraus: „Der gute Hirte gibt sein Leben hin für die Schafe“ (Einheitsübersetzung), nach Luther „lässt“ er es, obwohl eindeutig dasteht: Er setzt ein (Joh 10,11).
Auch bei der „Versöhnung“ ist nicht leicht zu erkennen, was wirklich gemeint ist. Das mag der Grund sein, weshalb Paulus nur ein einziges Mal (vgl. Röm 3,25) auf die für Nichtjuden kaum verständliche Versöhnungsliturgie anspielt und stattdessen eine totale Veränderung (kat-allag: vgl. 2 Kor 5,18jf.) ausruft. Sie besteht in der Einsicht, dass Gott nicht in Verfehlungen rechnet. Das zu verkünden ist der Dienst des Apostels und seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Aber sie können nur für Christus (und nicht „an Christi statt“) gesandtschaftlich tätig sein und uns bitten, endlich auch religiös Seelenfrieden zu
machen. Denn so paradox es klingen mag: Nicht wir müssen den Zorn Gottes versöhnen, sondern uns mit seiner Güte aussöhnen. Das fällt uns gar nicht leicht, weil uns das Gute, zu dem wir uns verpflichtet fühlen, oft so wenig behagt, dass wir wenigstens „die anderen“ von Gott bestraft sehen wollen. Doch da tut sich nicht der Himmel auf - sondern tiefste seelische Abgründe: Unser Über-Ich-Gott entpuppt sich als Götze, der ein Sohnesopfer braucht, um von Sünden freizusprechen. Und dafür hassen wir zudem das Judentum! Aus der vermeintlichen Religion der Liebe war, ohne dass wir es bemerkt hätten, fast schon diabolische Gewalt geworden.
Die Bibel stammt aus anderen Zeiten und Kulturen, welche die Welt ganz anders beschreiben als wir heute. Vor allem ihre Bildsprache und Symbolik ist uns oft so schwer zugänglich, äußerst missverständlich. Das Hebräische setzt ganz auf das Verb, die Handlung (also auf das Zeitwoit, aber nicht auf die Zeit, das tempus). Der Westen sieht dagegen in den abstrakten Namen (nominee) die Hauptsache. Nach der Bibel ist die Eucharistie ein Tun, nämlich Danksagen, Brotbrechen und Miteinanderessen. Das Abendland hingegen erklärt den Priester zum „zweiten Christus“, der Brot in den „Leib Christi“ verwandelt, führt um dessen richtige Definition jahrzehntelange Glaubenskriege und rechtfertigt bis heute Ausschlüsse vom Tisch des Herrn (1 Kor 10,21). Das kann Jesus nicht wirklich gemeint haben.
Die frühe Kirche hat die Eucharistie ohne Priester gefeiert, und zwar überwiegend als Brotbrechen. Zumindest nennt Lukas (übrigens als einziger unter den Evangelisten) nur dafür einen Wiederholungsauftrag Jesu (vgl. 22,19). Für den Becher berichtet kein Evangelium einen solchen, denn der hat seinen ursprünglichen „Sitz im Leben“ im jährlichen Pessachmahl, und ist als verbindlicher Vertragsschluss nicht wirklich wiederholbar. Einzig Paulus als der älteste Textzeuge kennt einen doppelten Gedächtnisauftrag Jesu. Den Tischsegen zu sprechen war eindeutig die Aufgabe der Gastgeberinnen und Gastgeber, zu denen man als Gast eingeladen werden, sich dies aber nicht als Recht herausnehmen konnte. Das haben wohl auch die umherziehenden Apostel (mit ihren Frauen) respektiert. Drei Jahrhunderte gab es keine Kirchen, fünf Jahrhunderte ist das Abendmahl ikonographisch nicht belegt. Die zahlreichen Katakombenfresken stellen nur das Mahl der Sieben (analog zum „Frühstück am See“ in Joh 21) dar. Die beigestellten Körbe des Überflusses verweisen auf die wunderbaren Speisungen der Evangelien.
Auch diese Bilder sind Eucharistietexte, wurden aber im Streit um das (priesterliche) Messopfer völlig vergessen. Das Johannesevangelium jedoch erzählt gar nicht von einer Einsetzung der Eucharistie, sondern an ihrer (synoptischen) Stelle von der Fußwaschung (vgl. Joh 13). Es hat das Thema Eucharistie bereits mit der Speisung der 5000 und der anschließenden Brotrede (vgl. Joh 6) abgehandelt. Diese Bildgeschichte ist in den Evangelien (einschließlich der Dubletten in den beiden ersten) sogar sechsfach bezeugt, wird zwar vor Ostern verortet, beschreibt aber die eigene kirchliche Gegenwart. Lange galt sie als Brotvermehrung, als Naturwunder des historischen Jesus. Tatsächlich jedoch vermittelt sie die-Botschaft: Wenn Christinnen und Christen im Namen Jesu (auch in Kleingruppen, sprich: Hauskirchen, wie Mk 6,40 andeutet) Brot brechen und miteinander essen, dann entsteht nicht Not, sondern Fülle, dann ist Jesus als der eigentliche Gastgeber in ihrer Mitte.
Ebenso kann Paulus mitten im Seesturm vor allen (mit ihm zusammen 276, überwiegend nichtchristlichen) Reisenden das Brot brechen, so dass alle guten Mutes werden (vgl. Apg
27,34-37). Das Brotbrechen hat alle gestärkt und zur allgemeinen Rettung beigetragen. Die frühchristliche Zwölfapostellehre (Didache) belegt zudem ein Eucharistieformular ohne Einsetzungsbericht. Die assyrische Kirche feiert bis heute ohne einen solchen, und das mit offizieller, wenn auch halbherziger römischer Zustimmung. Das Dilemma mit der priesterlichen „Vollmacht“ ist also doch nicht so groß, wie wir vielleicht meinten.
Wir brauchen es auch gar nicht aufzulösen. Wir selbst sind gefragt, aus dem Schlaf der Sicherheit und damit aus den Toten aufzustehen (vgl. Eph 5,14). Wir tragen die Verantwortung, wie wir unseren Glauben leben und weitergeben. Das kann nicht einfach von oben kommen, sondern braucht sehr viel mehr Vorbereitung von unten, weil die Feiernden zuerst selbst Übereinstimmung erzielen müssen, worum sie eigentlich bitten wollen, damit die Nähe Jesu spürbar werden kann (vgl. Mtl8,19f). Das kann ein Priester alleine gar nie schaffen. Doch solange unsere Gottesdienste eher einer Audienz am Kaiserhof als einer liebevollen Zwiesprache mit dem Vatergott Jesu gleichen, werden sie die Herzen der Menschen kaum berühren. Auch sind wir gerade vor Gott nie nur „unter uns“, den Insidern,
Gleichgesinnten. Wir beten zum Gott aller Menschen, müssen ihnen allen Rede und Antwort stehen, was in einem multikulturellen, interreligiösen und religionsfreien Umfeld ziemlich herausfordernd ist. Doch kein Mensch darf sich in unserem Glauben vergessen, abgewertet oder gar bedroht fühlen. Was den Außenstehenden unverständlich ist, darf auch im Gottesdienst nicht laut werden (vgl. 1 Kor 14,23ff.). Da braucht es noch viel Einsicht und Mut, um alle Menschen zu einer logischen/vernünftigen Verehrung (vgl. Röm 12,1) einzuladen.
Es wird auch in Zukunft priesterliche Menschen brauchen, heute in erster Linie wohl Frauen und dann erst Männer, die bereit sind, für andere vorzusorgen, ohne leiten, vorstehen oder zurechtweisen zu wollen (wie die Übersetzungen glauben machen). Nach der Erfahrung der Synagoge sind dies vor allem ältere Menschen, sogenannte Presbyteroi beiderlei Geschlechts. Doch das sind keine Priester (obwohl sie sich semantisch von dort herleiten), haben jedenfalls keinerlei kultische Funktion. Schon das Taufen ist nicht so ganz seines, bekennt Paulus; er möchte nur für das Evangelium priesterlich tätig sein (vgl. 1 Kor 1,17; Röm 15,16). Auch das kann bekanntlich ein sehr anstrengender Job werden, wenn sich destruktive Gottesbilder, Spaltungstendenzen, Geschäftemacherei oder rücksichtslose Freiheiten innerhalb einer christlichen Gemeinschaft bemerkbar machen. Der Konflikt und seine Lösung liegen meist in der Eucharistie: Wie halten wir es mit dem Miteinanderessen (vgl. Gal 2 und 1 Kor 11)? Nur im bedingungslosen und zugleich rücksichtsvollen Brotbrechen mit allen kann der nachösterliche Jesus erkannt werden (vgl. Lk 24,35). Nur mit ihm kann auch die Kirche noch auf(er)stehen.
PETER TRUMMER lehrte Neues Testament an der Universität Graz. Zuletzt erschien von ihm: „Den Herzschlag Jesu erspüren. Seinen Glauben leben“ (Verlag Herder, Freiburg 3. Aufl. 2022)
Vgl.: https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Trummer