08.01.2012, Beatrix Kickinger
Gedanken zu Joh 11, 17-27
In der Bibel zu lesen ist immer ein kleines Abenteuer, wie ein Rätsel, bei dem die Antworten da stehen und die Fragen gesucht werden. Wenn wir die Bibel in die Hand nehmen und darin lesen, haben wir es nicht nur mit einem Text zu tun, der erzählt, wie es damals war, als Jesus lebte. Wir finden in dem Text einerseits Berichte von seinem Denken und Handeln, andererseits spiegeln sich in dem Text auch die Theologie und die geschichtliche Situation des Schreibers wieder. Auch ist der Evangeliumstext vor allem eine Einladung zum Glauben.
Er will das Verständnis seiner Hörer und Leser erreichen, sodass klar wird, wer Jesus eigentlich für die Menschen ist. Dies müssen und dürfen wir berücksichtigen, wenn wir diese Bibelstelle lesen. Geschichtlich gesehen ist das Johannes- Evangelium etwa um 100 nach Christus geschrieben, 70 Jahre nach Tod und Auferstehung Jesu. In dieser Zeit entwickelte sich der Predigtdienst der Apostel und Apostelinnen, die Paulus in seinen Briefen erwähnt, das erste Apostelkonzil hat bereits stattgefunden, der Zugang zum christlichen Glauben ohne Umweg über das Judentum wurde entschieden. Es haben sich Gemeinden in vielen Orten des römischen Reiches gebildet, und in diesen Gemeinden haben sich erste Strukturen entwickelt, die liturgischen Ordnungen des Wortgottesdienstes und des Herrenmahls, die gemeinsame, diakonische Fürsorge für die Armen in der Gemeinde, u.v.m. Das ist die kirchliche Situation in der Johannes sein Evangelium an seine Leser schreibt.
In diesem Evangelium kommt nun Martha vor, eine Frau, von der erzählt wird, dass sie nach dem Tod ihres Bruders Lazarus Jesus entgegengeht und ihm Vorhaltungen macht: „Wenn du dagewesen wärst, wäre mein Bruder nicht gestorben!“, mit der Jesus daraufhin ein ausführliches theologisches Gespräch über die Auferstehung führt. Im Gespräch mit ihr wird für die Leser des Johannes abgehandelt, wie Leben und Auferstehung zu verstehen ist und wer eigentlich das Leben ist.
Dass Johannes Martha in seinen Text aufnimmt, ist nicht selbstverständlich. Er hätte diese Fragen genauso gut zwischen Jesus und Petrus oder Jakobus besprechen lassen können. Er entscheidet sich für Martha. Warum? - Sie könnte zunächst einmal eine historische Figur sein und die Begebenheit einen historischen Kern haben. Martha kommt in den synoptischen Evangelien ebenfalls vor, als eine mit Jesus befreundete Frau. Sie könnte wirklich gelebt und Jesus gekannt haben. Die Erzählung zeigt den unbefangenen und offenen Umgang, den Jesus mit Frauen hatte: er nimmt sie als Gesprächspartnerinnen und Menschen sehr ernst.
Jesus reagiert auf Marthas Verzweiflung mit seiner Selbstoffenbarung, die im Johannesevangelium die Form der „Ich bin Worte“ hat: „Ich bin die Auferstehung und das Leben, … und jeder der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben. Glaubst du das?“ Und Martha reagiert in diesem besonderen Text mit dem Bekenntnis: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Messias bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll.“ Nur noch ein einziges Mal gibt es im NT ein Messias-Bekenntnis, das ist das Bekenntnis des Petrus, der Jesus als Messias bekennt und die berühmte Reaktion Jesu hervorruft: „Du bist Petrus, (der Fels im Glauben), und auf diesen (starken Glaubens-) Felsen will ich meine Kirche bauen.“ Dieses andere Messias-Bekenntnis ist für uns Katholiken der biblische Grund für das Petrusamt in der Kirche: So einen Glauben wollen wir als Kirche symbolisiert sehen im Papsttum. Einen soll es geben, der uns und der Welt zeigt, dass die Kirche auf festen Glauben gründet und in diesem Glauben einig ist. Das heißt, diese Stelle gibt dem Papsttum eine biblische Begründung. Und umgekehrt: Diese Stelle hatte für die Ämter in der Kirche die allergrößte Wirkungsgeschichte.
Das Messias-Bekenntnis der Martha hatte diese Wirkungsgeschichte nicht. Zu viele patriarchale Einflüsse haben dies verhindert. Wenn sie in dieser wichtigen Rolle im Evangelium vorkommt, muss man annehmen, dass Johannes dieses Messiasbekenntnis seiner Martha sehr bewusst in den Mund legt. In seiner christlichen Welt erlebt er Frauen in leitender, sammelnder, einigender, führender Position. Eine Frau wie Martha hat in der jungen Kirche des Johannes eine wichtige Rolle gespielt, sie hat das Evangelium erzählt und erläutert, vielleicht die Fürsorge organisiert, die theologischen Fragen diskutiert, kurz eine Gemeinde geleitet. Das bedeutet, Johannes hat Frauen, wie sie, um das Jahr 100 n.Chr. in leitender Funktion erlebt, und konnte seine Martha entlang dieser Frauen gestalten. Johannes war sicher kein Feminist. Er hatte keineswegs die Frauenrechte und die Gleichstellung der Frauen im Sinn. Er sah sich vielmehr aus dem Leben der jungen Kirche veranlasst, dieses wichtige Wort einer Frau in den Mund zu legen. Die christlichen Gemeinden unterschieden sich in ihren Ordnungen von dem patriarchalen Umfeld, in dem sie lebten und Johannes baute dies in sein Evangelium ein. Hätte er anders gehandelt, wäre er in seiner Gemeinde auf Unverständnis gestoßen. Er wusste sich damit treu den Ideen und dem Leben Jesu, und er wusste, dass er seine Hörer auf diese Weise erreichen konnte. Sie konnten und wollten die Botschaft von der Messianität Jesu aus dem Mund einer Frau hören. Und so war sie den Lesern und Hörern des Evangeliums verständlich. Johannes konnte seine Aussageabsicht auf diese Weise am besten erreichen.
Dürfen wir uns also wünschen, dass auch Frauen für die christlichen Gemeinden und für die Kirche ein Symbol der Einigkeit des Glaubens an Jesus sein können und sollen? Ich meine, diese Bibelstelle liefert uns dazu eine gute Begründung.
- Jesus, als unser Vorbild, hat wichtige theologische Fragen mit Frauen besprochen und auf ihr Wort gehört.
- Unabhängig von der Wirkungsgeschichte sind die beiden Messiasbekenntnisse von Petrus und von Martha einander ebenbürtig als Zeugnisse großen Glaubens.
- Die frühe Kirche kannte Frauen in leitender Funktion.
- Die Botschaft von der Messianität Jesu ist so wichtig, dass auf das Gespür und Bedürfnis der Hörer und Leser Rücksicht zu nehmen ist, denn Glauben zu wecken ist unser Dienst an den Menschen, alle anderen Rücksichtnahmen kommen erst in zweiter Linie.
Es geht uns heute, so wie dem Evangelisten Johannes, darum, dass die Botschaft ankommt, diese Botschaft der Martha, die Johannes als lebenswichtig ansieht. Denn er schreibt in Joh 20,31 (und wiederholt damit ihre Worte), „… diese Zeichen hier sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.“
Beatrix Kickinger
Zur Autorin:
Beatrix Kickinger ist Theologin und hat diese Predigt im Rahmen eines Donnerstagsgebets für neue Wege in der Kirche in der Pfarre Hütteldorf gehalten.