Brief an Paulus

Hans Plank-Halbgassen, ein Christ im dritten Jahrtausend n. Chr., an den Völkerapostel Paulus

Hans Plank-Halbgassen: „Brief an Paulus“
Der Essay „Brief an Paulus“ würdigt den Völkerapostel einmal anders: ohne Heiligenschein.

Hans Plank-Halbgassen, 1938 in Wien geboren. Wandlung vom Taufscheinchristen zum Vertreter eines aufgeklärten und mündigen Bibel- und Religionsdenkens.

Beruflicher Start als Schriftsetzer – später als Werbetexter („In Linz beginnt’s“). Gründer einer Werbeagentur, die 23 Jahre erfolgreich geführt wird.

Neben dem Berufsleben umfangreiche literarische Tätigkeit:

Veröffentlichung von Lyrik. Hörspiele und Features.

Umfangreiche Dialektwortsammlung.

Seit 2002 Intensivierung der künstlerischen Tätigkeit als Fotograf.

Fotogestaltungen mit den Möglichkeiten digitaler Bildevaluierung.

http://www.hans-plank-halbgassen.at/index_de.html

Was immer ich dir auch schreiben werde: vor allem soll es eine Anerkennung sein für die Konsequenz, mit der du dein Leben gelebt hast – sowohl vor als auch nach deinem zentralen Erlebnis auf der Reise nach Damaskus!

Dieser Brief wird dich sicher erreichen, so wie mich auch deine Briefe auf wunderbare Weise erreicht haben. Denn wenn du nicht das ewige Leben im Reich Gottes hast, an welche Gerechtigkeit und an welchen Gott sollte ich dann glauben?

Auch die rund 2000 Jahre Zeitdifferenz zwischen uns sollten keine Rolle spielen. Im Gegenteil: Die daraus entstandenen Brüche sind für mich eine aktuelle Herausforderung, unsere gegenseitigen Positionen abzustecken.

In deinen Briefen hast du immer wieder geschrieben, wie gern du dem Ruf folgst, wenn eine bekehrte Glaubensgemeinde ruft.

Das wäre bei mir gar nicht notwendig, denn ich würde sofort den nächsten Flug zu einer deiner Auftritte buchen, wo auch immer in dieser Welt sie stattfinden. In der irren Hoffnung, dir wenigstens in der langen Schlange wartender Frage- und Bittsteller meine allerdringendsten Glaubensanliegen vortragen zu können.

Die Christenheit hätte endlich die Möglichkeit, dir den Medienspektakel um den größten Auftritt deines Lebens zu ermöglichen – und einen solchen kann ich dir mit Sicherheit prophezeien. Er wäre mit Sicherheit größer als die Mega-Events des großen, alten Mannes Wojtila. In seiner Funktion als Bewahrer der Christenheit, strahlt er wie du das Charisma der Ewigkeit aus, obwohl er bereits alle Attribute der irdischen Vergänglichkeit auf sich vereinigt.

Da aber dieser Wettstreit um höchstmögliche Authentizität des Glaubens nicht stattfinden wird, habe ich meine Gedanken und Bedenken dem Schreibcomputer anvertraut.

Ja, auch Bedenken. Sie ergeben sich aus der großen Verschiedenheit unserer Persönlichkeiten und aus den schon erwähnten Zeitbrüchen.

Paulus und Petrus

Halten wir zunächst eines fest: Die christliche Kirche (und auch ich) tun gut daran, dir zweifach dankbar zu sein:

Erstens für deinen unermüdlichen Missionseinsatz in der damals bekannten Welt der Römer, was bei den damaligen miserablen Verkehrsverbindungen zu Lande und zu Wasser eine „Tortour“ für sich gewesen sein muss. Dadurch wurde auch ich als römisch-katholischer Christ getauft.

Zweitens für die Beharrlichkeit, um nicht zu sagen Sturheit, mit der du auf deiner eigenen Version der jesuanischen Botschaft beharrt hast. Du findest dich übrigens mit deinem „Ich-kann-nicht-anders“-Charakter bei Martin Luther in guter Gesellschaft. Ihr seid beide aus dem Stoff, der Glaubenspioniere nun einmal auszeichnet, um die Glaubens-PS auf den Boden zu bringen, wie Rennfahrer heute sagen würden.

Ich werde noch deutlicher: Nicht Kollege Petrus ist es. Du selbst, Paulus, bist der Fels, auf dem unsere Kirche heute steht. Jesus hat eine etwas voreilige Personalentscheidung getroffen, wie die weitere Entwicklung der Kirche belegt.

Ich kann aber Christus sehr gut verstehen, wenn er der ungekünstelten Spontaneität des Petrus diese Aufgabe übertrug.

Petrus ist für mich der menschlichste aller Apostel. Ich kann seine Empörung sehr gut nachempfinden, als ihm Jesus seine bevorstehende Verleugnung prophezeite.

Ich verstehe wunderbarer Weise aber auch das Gegenteil, wenn er aus Angst beinahe in die Hose macht und genau das tut, was Jesus voraus gesehen hat. Und dass er wieder etwas später über sich selbst bestürzt ist.

Weitblick war nie die Sache des Petrus.

Nicht einmal im Glauben war Petrus unerschütterlich: Als er, der erfahrene Fischer über den Rand seines Bootes sprang, um Jesus über die Wasseroberfläche entgegen zu eilen, da bewundere ich zunächst seinen raschen Entschluss, der seine lebenslangen Erfahrungen als Fischer ignorierte. Völlig logisch hingegen ist für mich die Tatsache, dass ihm, während des Laufes die Ungeheuerlichkeit seiner Situation zum Bewusstsein kam. Weg war der Glaube und schon ging er unter! Wie berührend, wie menschlich!

Jesus hat großmütig über seine Schwächen hinweg gesehen und ihm spontan geholfen. Vermutlich hat er sich sogar gefreut, dass ihm die Erschaffung des spezifisch Menschlichen bei Petrus so gut gelungen ist.

Du aber, Paulus, warst aus einem anderen Holz. Du hast von Anbeginn begriffen: die Spontaneität von Jesus und Petrus muss einer anderen Qualität Platz machen. Sie kann niemals die Sache der Kirche sein. Niemals

Deswegen, ich habe es bereits erwähnt, kann ich zwar Hochachtung aber keine spontane Zuneigung für deine Person empfinden. Daran ändert auch dein wunderschön poetischer Passus in 1 Kor. 13 über die Liebe nichts. Er irritiert mich höchstens durch seine Platzierung in einem in sich stimmigen Paulusbrief und passt wirklich besser zu einer Hochzeit.

Uns beide verbindet in erster Linie die rechte Gehirnhälfte, welche in unseren Briefen zum Ausdruck kommt.

Du hast damit begonnen, die lebendigen Worte Jesu aufzuschreiben, und für alle Zeiten festzuschreiben. Und indem du sie in bester pharisäischer Tradition in Worte gezwängt hast, konnte sie jeder Kirchenangehörige und Kirchenhörige handhaben. Er brauchte nicht mehr die Gesamtsicht des Herzens oder des Verstandes, was ja bekannter Maßen eine anstrengende Tätigkeit ist. Jetzt genügt ein heraus gepickter Satz, ja sogar einzelne Schlagworte, um daraus ein Argument, eine verbale Waffe zu machen.

Begegnung mit dem virtuellen Jesus

Jesus hat dein Vorhaben auf Erden nicht mehr miterlebt. Er hat dich nie persönlich gekannt – auch wenn deine Existenz in seiner Weltenplanung beschlossen war. Vielleicht war es auch gut so, dass ihr euch nie begegnet seid. Ich habe Gründe für die Annahme, dass ihr euch beide persönlich nicht sehr gut miteinander vertragen hättet.

Warum ich das glaube?

Bei Petrus brauchte Jesus nur mit dem Finger zu schnippen und schon verließ dieser samt Fischerkumpeln Frau und Kind, um seinem Ruf zu folgen. Du aber hattest bereits feste Prinzipien. Dich musste der Herr zunächst einmal mit Blitz und Donnerworten zu Boden schicken und um dein Augenlicht bringen, bevor du auf ihn hörtest.

Die anderen hätten Jesus am liebsten an seiner Himmelfahrt gehindert, um ihn weiterhin als Lehrmeister bei sich zu haben. Du aber hattest eine Menge eigener Fähigkeiten und Ideen. Ich kann mir den Einzelgänger Paulus ganz einfach nicht vorstellen als einen unter vielen Aposteln und Jüngern, die immerzu am Tropf des Herrenworts hingen. Du warst selbst der geborene Lehrmeister. Was dir fehlte, war nur eine adäquate Aufgabe.

Den Blitz, der dich am Weg nach Damaskus niedergestreckt hat, deute ich daher als deine schlagartige Erkenntnis von der riesigen Potentialität des Christentums. Seine Verbreitung war deine Aufgabe. Auf sie hast du dein Leben lang gewartet. Ihre Größe und Tragweite hat dich tagelang betäubt und blind gegen deine Umwelt gemacht. Dann aber hast du los gelegt und wurdest zum Missionsroboter und Shooting-Star, wie man heute sagen würde. Mehr noch: Dank deines analytischen Verstandes wurdest du zum ersten Theoretiker und kühnen Architekten des neuen Glaubens.

Ein realer, lebendiger Jesus an deiner Seite wäre dir dabei nur hinderlich gewesen. Was du von ihm jedoch übernahmst war die unnachgiebige Radikalität, welche die eigene physische Vernichtung mit einschloss.

Den von der damaligen Zeit besonders schmachvoll empfundenen Kreuzestod von Christus hast du ein für allemal in einen freiwilligen Liebestod umgedeutet. Du sahst ihn als Pfand für die Rettung aller Menschen, auch der verstorbenen und der noch ungeborenen.

Nach dieser Deutung ist es wohl Ketzerei zu fragen, ob die Befreiung der Menschheit aus ihrer Schuld für einen allmächtigen Gott nicht auch auf einem anderen und weniger extremen Weg möglich gewesen wäre.

Du hast dich zu dieser Frage leider niemals geäußert, obwohl sie auf der Hand liegt.

Ich gehe ihr auch nicht weiter nach, denn für jede Religion muss es auch Mysterien geben, die man nicht hinterfragen kann.

Vom Tisch war in deiner Version auch die Tatsache, dass es sich bei der Kreuzigung de facto um ein Menschenopfer handelte, das Jahwe himself schon im Alten Testament ein- für allemal verboten hat. Warum soll ein Gott aus Barmherzigkeit den Menschen gegenüber derart unbarmherzig gegen den eigenen Sohn vorgehen und ihn dadurch unglaublich ungerecht behandeln? Ein Mysterium mehr.

Du, Paulus, bist diesen schwierigen Fragen ausgewichen, denn du kanntest bereits das Gesetz erfolgreicher Massenbeeinflussung: Keep it simple and stupid!

Du warst in erster Linie ein charismatischer Theologe und autoritärer Menschenführer. Nicht unbedingt ein Philosoph, der alles von vorne nach hinten und wieder nach vorn genau durchdenkt. Oder, was ich eher vermute: Ein Philosoph, der die Widersprüche bei sich behält und sie erfolgreich verdrängt.

Entscheidend für dein Wirken war die Tatsache, dass dieser Jesus in Galiläa trotz aller Wunderspektakel leider nur lokale Bedeutung besaß. Niemand wusste davon im diskutierfreudigen Griechenland und in allen anderen Nachbarländern rund ums Mittelmeer nahm niemand von den Geschehnissen Notiz. Schon gar nicht der Cäsar in Rom, denn der suchte sich die Götter aus staatspolitischen Überlegungen aus.

Die Lehre Jesu konnte sich auch nicht verbreiten, denn Jesus hatte eine ausgeprägte Schreibphobie! Sein Ausdrucksmittel war das lebendige Wort und das erzählte Gleichnis.

Jesus verkörpert für mich die Quelle der Weisheit, die einer gegenwärtigen Situation entspringt und deshalb niemals in Worten erstarren kann.

Aber das gesprochene Wort allein genügt nicht. Es ist leider nicht zukunftsstabil. Und außerdem wollen doch die Leute seit dem Ende ihres Analphabetentums „alles schwarz auf weiß nach Hause tragen“. So hat es später Goethe, den du ja in der Zwischenzeit vermutlich kennen gelernt hast, treffsicher formuliert.

Jesu Lehre war also eine Sache – ihre Verbreitung eine andere.

Für diese Aufgabe war ein anderer Menschentyp gefragt: Einer, der das lebendige Himmelreich mit dem Humus dieser Erde vermischt. Einer, der es durch solide Balken tragfähig macht. Es war die Stunde deines Auftritts auf der Glaubensbühne.

Für dich war es keine Frage: diese wunderbaren Reden und Taten Jesu verdienten es, in ein System eingebracht zu werden. Sie verdienten es, weiter zu leben durch eine dauerhafte Nachfolgeorganisation namens Kirche.

Ab jetzt war nicht nur göttliche Inspiration gefragt – da ging es auch um eine Basis einer irdischen Organisation.

Ja, nur so konnte Jesus den Vergleich mit dem Felsen gemeint haben, auf dem er seine Kirche bauen wolle.

Als gelehrter Pharisäer war dir die Kunst der gesprochenen und geschriebenen Worte gleichermaßen vertraut. Und da erinnertest du dich, wie die Schriftgelehrten des jüdischen Volkes immer schon Offenbarungen in Gesetze umgeformt hatten. Nur so, meintest du, wäre diese Eruption der jesuanischen Menschlichkeit in einen dauerhaften Felsen umzuformen.

Eine Alternative gab es nicht. Ohne dich wäre alles nach dem Tod der Apostel sang- und klanglos versickert, wie so viele große Ideen. Institutionen jedoch, mit festen Regeln, können beliebig lang überleben.

Und ziemlich sicher hattest du damals das einzig richtige getan.

Schuld ohne Sühne

Dennoch wirft dein Verhalten für mich einige erklärungsbedürftige Punkte auf.

Zunächst einmal frage ich mich, was einen Intellektuellen wie dich bewogen hat, so blitzartig die Fronten zu wechseln.

Du hattest ja von Anfang an deine Gründe, die Anhänger diese Mannes aus Nazareth leidenschaftlich zu verfolgen, ja, sie physisch zu vernichten. Es ist bekannt, dass du bereits die Bevollmächtigung zur Verfolgung und Festnahme der Christen in der Tasche hattest.

War es einer von den machtgeilen und kleingläubigen Hohepriestern, die in Jesus und seiner Anhänger eine Bedrohung ihres Einflusses sahen? Waren ihre Argumente wirklich so stark, dich, den eigenständigen Denker, zu ihrem Werkzeug und Aktivisten zu machen?

Oder war dir dieser Jesus als Person unsympathisch, und wenn ja, warum? Was gefiel dir nicht an seinen Reden und Taten?

Was um Himmels willen veranlasste dich, die Steinigung des Stephanus und andere Verbrechen ausdrücklich gut zu heißen, ja sie sogar zu veranlassen?

Für unser heutiges Rechtsverständnis ist eine Steinigung Totschlag unter erschwerenden Umständen. Was sagte dein Gewissen dazu? Was sagte es erst recht nach deiner Bekehrung?

In unserer Zeit gibt es Tribunale, um solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch noch nach vielen Jahren aufzudecken und die Verantwortlichen abzuurteilen.

Bei dir lief das anders. (Oder sollte ich etwa schreiben: Bei dir lief das Gott sei Dank anders? Du bringst mich da ganz schön in Probleme!)

Du durftest entscheidend mithelfen, einen Weltglauben zu begründen. Du hast bis heute zahllose Generationen heran wachsender Christen darüber belehrt, dass sie alle vor Gott schuldig sind. Eher hätte es umgekehrt sein müssen. Sie hatten dir die Unschuld voraus, denn die meisten von ihnen hatten noch nie einem ihrer Mitmenschen ein Haar gekrümmt!

Ja, ich weiß schon, dass auch du den Märtyrertod erlitten hast. So wie der unter deiner Aufsicht gesteinigte Stephanus. Dennoch gibt es einen kleinen Unterschied: Dein Henker versuchte nicht nach deiner Hinrichtung, sich als moralische Instanz zu etablieren und die Menschen über ihr Sündenverhalten aufzuklären.

Doch während ich diese Gedanken in den Computer tippe, kommt mir plötzlich ein Satz von dir in den Sinn, den du gebetsmühlenartig immer wiederholt hast: Kein Mensch kann sich durch gute Taten das Himmelreich verdienen. Er erhält es nur durch die Gnade Gottes. Diesem Gedankengang kann ich mich durchaus anschließen.

Wenn das aber Gültigkeit haben soll, dann muss im Sinne der Gerechtigkeit Gottes wohl auch das Gegenteil gelten: Kein Mensch kann sich durch böse Taten um das Himmelreich bringen, wenn er nur auf den Herrn vertraut.

Das könnte der Schlüssel für dein eigenes Verhalten sein. Du achtest eben nicht nur die guten, sondern auch die bösen Taten gering und predigst die Gnade Gottes nicht zuletzt in eigener Sache, denn deine Mitschuld am Tod und an der Verfolgung von Mitmenschen blieb ja ungesühnt. (Diese Mitschuld müsste es ja sogar nach jüdischem Gesetz gegeben haben.)

Warum haben die Verantwortlichen der Kirche nie versucht, diese deine dunkle Vergangenheit wahrzunehmen oder gar aufzuarbeiten? Hier war ja die Basis deiner Persönlichkeit zu suchen, mit der du später als erfolgreicher Missionar tätig warst. Sie hätten sich ein Beispiel an der Bibel nehmen können, wie sie im Sinne der Wahrheit mit den dunklen Seiten, Fehlleistungen und Untaten von König David gelassen umgegangen ist.

Hat sein Image etwa darunter gelitten? Keineswegs. Gott hat seine Reue angenommen und sich nicht von ihm abgewendet. Die Juden preisen ihn noch heute als den hochberühmten Stammvater von Jesus und die Wahrhaftigkeit der Bibel wird nicht zuletzt durch solche „Negativberichte“ gestärkt.

Das Christentum begann mit einem Urknall

Dich hat die Kirche einfach ohne weiteres Kommentar zu deinem Vorleben als verehrungswürdigen Apostel neben den einfachen, integren Mann Petrus gestellt. Peter und Paul haben ja heute noch einen gemeinsamen kirchlichen Festtag.

Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass dein hochsensibles Gewissen zeitlebens unter den von dir inszenierten Christenverfolgungen gelitten hast. Handelt es sich dabei vielleicht um den geheimnisumwitterten „Pfahl in deinem Fleisch“, der schon immer die Phantasie der Schriftgelehrten angeregt hat?

Deine Bekehrung vom Saulus zum Paulus wurde dir von der Kirche als besondere Auszeichnung durch Gott angerechnet. Sag selbst: Sollte man sie nicht eher als längst überfällige Reaktion auf eine Lebensschuld werten?

Einmal mehr muss die Frage offen bleiben, ob die Stimme Gottes mit der Stimme des eigenen Gewissens identisch ist.

Was hat sich eigentlich ab dem Moment deiner so genannten Bekehrung für dich geändert? Hat Gott oder die Stimme deines Gewissens etwa einen neuen Menschen aus dir gemacht?

Du hast dich zwar als neuer Mensch gefühlt, weil du radikal die Fronten gewechselt hast. Ab sofort wolltest du nicht mehr Saulus sondern Paulus heißen.

Wer sich jedoch genauer einliest, dem fällt auf, dass aus Saulus kein neuer Mensch wurde. Der konsequente Eiferer gegen Jesus unterschied sich in nichts vom konsequenten Eiferer für Jesus und für den neuen Glauben. Das ging bis in extremste Bereiche. Hast du früher das Blut anderer vergossen, so war es am Ende deines an Provokationen reichen Lebens eben das eigene.

Eigentlich müsste man von diesen Äußerlichkeiten abgehen und die unglaubliche Tatsache einfach hinnehmen, dass du zu Beginn völlig gegen Jesus und diese neue Glaubensbewegung warst. Ich kann keinen einzigen Grund dafür ausmachen, der nicht durch deine Begeisterung darnach Lügen gestraft würde.

Ein Motiv bleibt, ein einziges logisches, so banal, dass ich es mir zweimal überlege, bevor ich es hinschreibe:

Du warst vorher gegen niemanden und gegen nichts. Du warst bloß ehrgeizig.

Die jüdischen Pharisäer-Kaste kannte viele, die wie du waren: jung und ehrgeizig. Da muss man sich durch besonderen Eifer auszeichnen, um beruflich Karriere zu machen. Dafür ist dir jeder Job recht gewesen.

Auch Gott stellte dir am Weg nach Damaskus laut Bibel die „Warum-Frage“: „Paulus, warum verfolgst du mich?“

Gottes Fragen sind ausschließlich rhetorische Fragen, denn er weiß die Antwort bekanntermaßen im voraus. Dennoch war sie keine überflüssige Frage, denn sie setzte bei dir einen gewaltigen Denkprozess in Bewegung.

Der Ordnung halber wäre dazuzufügen: Auch dein eigenes Gewissen könnte diese Frage sinngemäß gestellt haben. Menschen können das oft nicht unterscheiden.

Zunächst einmal dachtest du vermutlich gar nichts. Du warst einfach überwältigt.

Anstatt Rede und Antwort zu stehen, wie es sich für einen denkgewandten und wortmächtigen Pharisäer gehört, fielst du einfach vom Pferd, schreckensbetäubt und von einer Jahrtausendchance geblendet.

Diesen Moment auf der Reise nach Damaskus nanntest du später deine Bekehrung.

Was immer es auch war – es war der Urknall, der dich und das Christentum endgültig und unumkehrbar in Bewegung setzte.

Und es war im Sinne Gottes – ein Wunder der Extraklasse.

Du warst ja nicht der erste, dem Gott persönlich den Weg wies: Er zeigte sich in Form des brennenden Dornbuschs Moses und er erschien im Traum Jonas und immer wieder den Propheten. Gott war es gewohnt, dass sich Auserwählte gegen seinen Auftrag wehren. Bei Moses & Co war es nicht anders. Sie hatten ihren eigenen Job und fürchteten die Schwierigkeiten mit dem Rest der Welt.

Du aber, der gebildete und ehrgeizige Pharisäer, warst bestens konditioniert und auf der Suche nach einer adäquaten Herausforderung jenseits der mickrigen Vergänglichkeit des menschlichen Daseins.

Unsterblichkeit faszinierte dich. Du hast später immer wieder auf die Unsterblichkeit der Seele hingewiesen.

Und jetzt, am Weg nach Damaskus, tauschtest du Unsterblichkeit gegen den Einsatz des eigenen Lebens.

Risiken waren dabei inkludiert, und es gab davon genug. Allen voran das Misstrauen der jungen Gemeinde gegen ihren früheren Verfolger. Du warst das, was man später einmal als Quereinsteiger bezeichnete. Du hattest weder einen Freund noch einen Gönner im Jesus-Team.

Aber das war kein echtes Problem für dich. Du besaßest Charisma, inneres Feuer und ein übersteigertes Selbstbewusstsein, um dessen Wirkung dich vermutlich alle Apostel beneidet hatten.

Zwistigkeiten mit Petrus und seinen Anhängern waren da, um ausgetragen zu werden. (Was hätte wohl Jesus dazu gesagt?)

Dank deiner intellektuellen Fähigkeiten warst du in diesem Kreis der einfachen Aposteln rasch der führende Kopf – zumindest in den Augen der wachsenden Christengemeinde.

Petrus? Wer kannte schon außerhalb von Galiläa diesen raubeinigen Fischer und all die anderen Jesusbegleiter? Für die Mazedonier und jüdischen Spanier, für das römische Kaiserhaus, für die philosophiesüchtigen Griechen und auch für die Bewohner der Weltstadt Epheseus und für die anderen Bewohner der kleinasiatischen Küste warst du der fanatische Christenrabbi, der sich für diesen neuen Glauben lieber prügeln und einsperren ließ, als seinen Missionsauftrag zu vernachlässigen. Du warst schon bei Lebzeiten eine Legende.

Hätte es damals schon Fernsehen und Skandalillustrierte gegeben, wärest du mit einem Schlag bekannter gewesen als Christus.

Paulus fehlt die heitere Gelassenheit von Jesus

Dennoch, behaupte ich, hast du am Fall Stephanus dein ganzes Leben lang gelitten. Deswegen war auch die Gnade Gottes für dich ein zentrales Thema.

Ist dir eigentlich bewusst, Paulus, dass du dein persönliches Schuldbewusstsein dem jungen Christentum wie einen unverlierbaren Stempel aufgedrückt hast?

Die kommende Kirche hat diesen Stempel sorgsam in Verwahrung genommen. Für sie war und ist er ein bis heute wirksames Werkzeug der Disziplinierung ihrer Schäfchen.

Was Jesus auszeichnete, war seine Liebe für Leute, die vom rechten Weg abgekommen waren. Denk doch bloß an die Sünderin, an den Zöllner und an den reuigen Schächer am Kreuz!

Jesus war ein Realist wie du und beschönigte nichts. Für Sünder aber hinterließ er jederzeit ein Gefühl der Hoffnung und vor allem der Freude. Jesus war jederzeit bereit, die Gesetze des Universums auf den Kopf zu stellen um die Armen und Schuldigen ganz obenan an den gedeckten Tisch zu setzen. Genau diese Art von Liebe aber auch von Autorität strahlte er aus. Seine wundervollen Gleichnisse waren der Beweis für seine Souveränität. Es muss für alle Beteiligten ein unbeschreiblich schönes Gefühl gewesen sein, mit ihm beisammen zu sein. Mit ihm schien alles möglich und niemand zweifelte an dem Satz: „Die Letzten werden die ersten sein!“

Was er predigte, war ein Mehr an Leben, ein Mehr an Freude, ein gemeinsamer Gang in eine neue und andere Welt.

Dieses Gefühl entstand in völliger Übereinstimmung mit dem eigenen Fühlen und Wünschen. Seine Anhänger hatten ja (wie die meisten Menschen) schon immer im Grunde ihres Wesens gespürt, dass eine ausgleichende, überirdische Gerechtigkeit gab! Die Worte Jesu waren für sie die lang ersehnte Bestätigung.

Du, Paulus, bist einen anderen Weg gegangen. Die Menschen waren für dich so wie sie waren, nicht akzeptabel. (Bist du dabei von dir ausgegangen?) Du hast sie nicht dort abgeholt, wo sie standen, sondern ihnen allen zu Beginn den großen Sündenkübel übergestülpt. Für dich waren sie alle sündig und erlösungsbedürftig. Diskussion überflüssig.

Aus deinen Schriften erfahre ich, dass deine Bekehrungen Menschen zunächst einmal in eine tiefe Depression stürzten.

Ich zitiere als ein Beispiel unter vielen den Gefängnisaufseher in der Apostelgeschichte 16, 30, den du vom neuen Christenglauben erzählt hast. Er fragte dich angsterfüllt: „Was muss ich tun, um gerettet zu werden?“

Nie werden wir erfahren, was du ihm zuvor erzählt hast. Hast du ihm Sünden bewusst gemacht, die er vor eurer Begegnung noch gar nicht gekannt hat? Welche Notlage seiner Existenz hast du ihm erst suggeriert, um ihn dann daraus zu erretten? Du, der du sonst immer behauptest, dass Gott durch seinen Kreuzestod alle Menschen ein für allemal vom ewigen Tod befreit hat!

Deine Antwort müsste daher lauten: „Gar nichts musst du tun. Es gibt auch keine Notlage, aus der du dich retten musst. Freu dich einfach, denn Christus hat schon alles unter Dach und Fach gebracht.“

Du hast es ja selbst im Römerbrief immer wiederholt: Die Erlösungstat ist bereits passiert: durch den Opfertod Jesu. Die einzige Rettung besteht nicht darin, das Menschsein zu optimieren sondern auf Jesus zu vertrauen. Dieser Gehorsam wird eingefordert. Immer wieder kommt das Wort Gehorsam vor und nimmt den Menschen den von Gott garantierten freien Willen

Wer nicht gehorcht und vertrauen will ist verloren. Aber wer kann schon vertrauen und Gott lieben, wenn er vertrauen und lieben muss!

Liebe und Vertrauen lassen sich nicht einfordern. Sind sie erzwungen, so haben sie auch vor Gott keinen Wert.

Schade. Wieder bist du bei der jüdischen Vorliebe für Gesetze gelandet!

Du hältst offenbar nichts davon, dass wir im Besitz unserer von Gott gegebenen freien Entscheidungskraft Jesus freiwillig bejahen, um die Seligkeit seiner Partnerschaft zu erlangen und dadurch glücklich zu sein. Du ziehst Disziplin vor. Wir müssen einfach gehorchen, um nicht verloren zu sein.

Ich bedaure, es sagen zu müssen: Deine Gute Nachricht ist keine Frohbotschaft, sondern eine Drohbotschaft.

Aber es kommt noch schlimmer: Das Kernstück deiner Theologie, die Rechtfertigungslehre im Römerbrief begann mich zunehmend zu irritieren, je länger ich darin las.

Die Rettung der Menschen ist sicher... oder?

Freilich: Ich bin kein Schriftgelehrter, kein Bibelexeget und kein Theologe. Ich bin einer von den Milliarden Erdbewohnern, an die sich Jesus mit seiner Botschaft zu allen Zeiten wendet.

Ich habe mich jedoch wie du mit religiösen Fragen in einem jahrzehntelangen Denkprozess auseinander gesetzt und sehe es als meine Aufgabe, zwischen deinen Worten und den Geschehnissen meiner Zeit einen Zusammenhang herzustellen.

Ich glaube daran, dass diese Beschäftigung mit Gott, mit Paulus und dem Christentum Sinn in mein Leben und in meinen Tod tragen kann, und ich will diese meine Überzeugung auch gern an andere Suchende weiter geben. Je länger ich mich aber mit deinen Schriften beschäftige, desto mehr Fragen und Einwände kommen mir in den Sinn.

Du schreibst bei jeder passenden Gelegenheit, dass wir vor Gott nicht durch unsere Verdienste, sondern ausschließlich durch seine Gnade bestehen können. Auf sie können wir uns immer verlassen, denn Gottes Liebe ist bezeugt durch den Kreuzestod seines Sohnes.

Du stellst dir selbst im Römerbrief die logische Frage: Brauchen wir uns somit ab sofort nicht mehr um das Gesetz bzw. um ein Gott gefälliges Leben bemühen?

Du widersprichst natürlich sofort dieser Irrmeinung und führst das Beispiel des freigekauften Sklaven an, der darnach zwar befreit ist, aber umso mehr den Grundsätzen dessen verpflichtet, der ihn frei gekauft hat.

Zwischenfrage: Was hat sich für den Sklaven bzw. für uns Gläubige eigentlich geändert?

Du sprichst davon, dass die Sünde durch das Gesetz und durch unsere menschlichen Schwächen geradezu gefördert wurde. Diese Gefahr wurde aus dem Weg geräumt. Die Sünde wurde durch Christus und seinen Geist überwunden und wir sind gerettet.

Meine Frage: Ist uns dieses von dir gepredigte Geschenk der göttlichen Gnade und Errettung sicher?

Deine Antwort: Gott wird seinen Verheißungen nicht untreu. Die volle Verwirklichung unserer Erlösung steht aber noch aus.

Der letzte Satz beunruhigt mich. Also doch nicht sicher? Mir kommt ein revolutionärer Gedanke: Wenn unsere Verdienste vor Gott nicht zählen, dann wird ja - im Sinn einer göttlichen Gerechtigkeit – wohl auch unsere Schuld vor Gott nicht zu Buche schlagen. Sonst müsste man doch von einer Willkür Gottes sprechen.

Ich bin sicher, dass auch dieser Gedanke nicht deinen Beifall findet. Du sprichst an anderer Stelle den Menschen jedes Recht ab, sich auf Logik und irdische Gerechtigkeit zu berufen und verteidigst die volle Souveränität Gottes bei seinen Entscheidungen. Als Beispiel nennst du die biblischen Zwillinge Jakob und Esau. Gott hat laut Bibel Jakob schon im Mutterschoß auserwählt und seinen Bruder gehasst. Wieso? Wir wissen es nicht. Gott ist niemand Rechenschaft schuldig und uns Sterblichen steht kein Urteil über Gottes Erwählungen zu.

Dennoch, fügst du hinzu, bleibt Gottes Gerechtigkeit über allen Verdacht erhaben.

Dieser letzte Satz klingt mir allerdings mehr trotzig als überzeugend.

Einen Römerbrief lang hast du dich abgemüht, die menschlich verständliche Gleichung hie Leistung – hie Belohnung abzubauen. Die Bilanz deiner Lektion fällt eher dürftig aus, denn unser jenseitiges Heil erfordert laut deinen Worten volle Zuwendung und überlässt uns dennoch letztendlich einer unverständlichen Willkür Gottes:

Die Befolgung der Gesetze allein genügt nicht mehr
Wir müssen Gottes Gnade bedingungslos vertrauen, ja uns ihr ausliefern.
Wir müssen ein Leben im Geist Gottes führen – aber ohne „Rechtssicherheit“
Dafür gewinnen wir nicht Heilsgewissheit, sondern Hoffnung
Sollte uns der souveräne Gott trotzdem nicht die versprochene Rettung zuteil werden lassen, ist keine Berufung möglich.

In dieser Form der Beziehung zu Gott steht der Mensch immer mit leeren Händen vor ihm.

Lass mich diesmal doch die naivste aller Fragen stellen: Woher willst du denn wissen, dass diese Sicht die Sicht Gottes ist und nicht deine eigene?

Diesmal hältst du es ja nicht einmal für nötig, eine göttliche Erscheinung für diese unglaublichste Verhaltensänderung Gottes seit der Gesetzgebung auf dem Berg Sinai zu bemühen. Sieht so der ewige Bund Gottes aus?

Gib es doch zu, Paulus, dass es sich hier um keine Anweisungen Gottes handelt. Hier wird Dogmengeschichte geschrieben, wie das normalerweise der Papst tut, der sich ja – nach seinem eigenen Unfehlbarkeitsdogma – bekannter Maßen in lehramtlichen Fragen nicht irren kann.

Also erübrigt sich auch in deinem Fall eine Diskussion, weil statt dessen bei Paulus immer Gehorsam angesagt ist.

Wie schön, dass uns Jesus weder Gesetze noch Glaubensdogmen hinterlassen hat. Sondern Seligpreisungen und Gleichnisse.

Liebe und Tod des Jedermann

Ich möchte an dieser Stelle eine Zusatzfrage an dich richten: Hast du, Paulus, wirklich die herrlichen Verse in 1. Kor. 13 geschrieben, welche die Liebe als das A und O des menschlichen Wirkens preist?

Wenn du darauf mit einem klaren Ja antwortest, dann ist 1 Tim. 1, 19 wohl die praktische Umsetzung: „Schon manche haben die Stimme ihrer Gewissens missachtet und haben im Glauben Schiffbruch erlitten, darunter Hymenäus und Alexander, die ich dem Satan übergeben habe, damit sie durch diese Strafe lernen, Gott nicht mehr zu lästern.“

Wirklich der gleiche Autor? Beides von Paulus?

Aber dann hättest du doch diese Liebe zu Mitmenschen nicht, von der du im ersten Korintherbrief in herrlichen Versen schwärmst.

Ich kann es mir aussuchen, welchem Paulus ich glauben soll, und ich würde mich gerne für die Stelle mit der Liebe entscheiden, aber wo spiegelt sich diese Liebe in deinem Leben?

Für mich bist du vor allem unbeirrbarer Wille. Im Timotheus-Brief erweist du dich als graue Eminenz des ersten christlichen Inquisitionsgerichts. Ein Eiferer, der sich anmaßt, das letzte verdammende Gericht Gottes in eigener Regie vorweg zu nehmen.

Hast du selbst nicht immer wieder betont, dass Gott für die Sünder gestorben ist, und dass wir nicht durch eigene Leistungen zum ewigen Leben gelangen können. Und dann überantwortest du locker mit einem einzigen Satz gleich zwei Mitmenschen dem Satan – was immer du dir darunter auch vorstellst...

Muss dich Gott nochmals durch einen Blitzstrahl zu Boden strecken, damit du die unendlichen Möglichkeiten der Gnade Gottes nicht nur für den Sünder Paulus sondern auch für Hymenäus und Alexander in Anspruch nimmst.

In deinem Brief an die Römer, den Martin Luther begeistert immer und immer wieder gelesen haben soll, gibt es einen Satz, den auch ich besonders liebe: „Und was einer gegen die eigene Überzeugung tut, das ist Sünde.“ (Römer 14, 22). Das ist eine klare Botschaft, die ich nachvollziehen kann.

Aber du wolltest mit deiner sogenannten Rechtfertigungslehre ja noch viel mehr.

Du stellst immer wieder fest, dass Jesu Opfertod die absolute Rettung für alle bedeutet – ob Juden oder Heiden.

Frage: Rettung von was?

Antwort: Rettung vom ewigen Tod.

Jetzt fällt Nebel ein: Welche Art Tod meinst du? Den körperlichen Tod des Jedermann wie er jährlich in Salzburg zelebriert wird?

Du bleibst uns leider jeden näheren Hinweis schuldig.

Ich fürchte fast, du meinst es völlig realistisch: Jesus holt alle Leichname aus dem Grab und lässt sie in den Himmel auffahren - so wie er selbst auferstanden ist.

Darauf meldet sich gleich ein Bündel von Fragen:

Geschieht dies gleich nach ihrem Tod oder werden alle gemeinsam am Tag des Jüngsten Gerichts erweckt? Und was ist mit den bereits Verstorbenen von Adam an?

Ja, und werden sich die glücklichen Kandidaten ein bestimmtes Auferstehungsalter aussuchen dürfen? Und was ist mit ihren Erdenproblemen in diesem Lebensalter. Werden sie die noch einmal und ewig durchleben? Nachträgliche Änderungen möglich?

Nein, stopp, so kann es nicht gehen.

Ich kann mich doch nur dann auf die Vereinigung mit Gott freuen, wenn ich alle irdischen Vergleiche hinter mir lasse, und dazu gehört vor allem meine Körperlichkeit mit ihren Beschwernissen und Unzulänglichkeiten.

Vermutlich wird auch das ein Ende haben, worauf wir am meisten stolz sind: unsere Persönlichkeit.

Doch dann bin ich wieder ganz bei dir, Paulus, wenn du Vertrauen in Gott forderst. Das, vor allem, werden wir vor unserem Ableben immer wieder brauchen.

Wenn wir den Körper also weglassen, wird es eine Auferstehung der immateriellen Seele sein, Trägerin des göttlichen Gedankens, der uns geschaffen hat.

Wir wissen zwar nicht genau über ihre Beschaffenheit Bescheid, aber wir kennen recht gut das Gefühl ihres Unlebendigwerdens durch eine bewusst begangene Sünde. So wie wir durch die Sünde eine Trennung von Gott (= seelischer Tod) erfahren, so kennen wir sehr wohl das Gefühl der Wiederauferstehung, wenn wir uns vertrauensvoll einem liebenden Gott zuwenden.

Ich hoffe, Paulus, dass du meinen Überlegungen etwas abgewinnen kannst. Freilich wäre es mir lieber gewesen, du hättest selbst definiert, was du unter Tod und unvergänglichem Leben verstehst.

Aber das ist wohl etwas zu viel verlangt. Schließlich hat uns auch Jesus darüber nur Andeutungen hinterlassen.

Apropos – wo ist das Böse?

Weil wir schon beim Thema sind, sollten wir auch zum Thema Sünde einige Überlegungen anstellen. Wenn du davon sprichst, dass wir von Sünden und Leidenschaften, ja vom Satan persönlich auf dieser Erde umzingelt sind und einen Kampf gegen das Böse führen müssen, dann machst du dir über das Wesen des Menschen leider Illusionen.

Nicht wir sind vom Bösen umzingelt, (das in deiner Darstellung irgendwie von außen zu kommen scheint), sondern das Böse ist Teil unseres gesamten menschlichen Spektrums. Gott wollte offenbar von Anfang an, dass wir alles umschließen: Gut und Böse, Tugend und Sünde, Himmel und Hölle.

Gott selbst hat, lies es doch nach in der Genesis, nicht nur uns, sondern sein gesamtes Universum so geschaffen: Licht-Dunkel, Wasser-Land, Mann-Frau usw.

Weil Gott, der All-Eine, der ja in letzter Konsequenz Teil und Gegenteil ohne Ausnahme umfasst, seine Welt nur durch die Ausfaltung in konträre Gegensätze sichtbar bzw. für unsere Sinne erfahrbar machen konnte.

Wir können ja das Licht erst dann erkennen, wenn wir auch die Finsternis kennen. Wir erfahren ja erst das Gute, wenn wir auch das Böse kennen gelernt haben.

Die Gegensätze werden sich solange bekämpfen, bis es Gott beliebt, sie wieder in seine Wesenheit in das All-Eine zurück zu holen. Das wäre dann das Ende des Universums.

Kannst du dich daher meiner Schlussfolgerung anschließen, dass wir deshalb nie das Böse zur Gänze aus uns und aus unserer Welt irgendwie hinaus werfen (= besiegen) können? Das wäre doch genau so als würden wir künftig das Licht nur mehr ohne Schatten akzeptieren!

Du bezeichnest Adam als den ersten Gott ungehorsamen Sünder. (War es nicht vielmehr Eva?) Er hat deiner Meinung nach die Schuld aller Menschen begründet, bis sie durch Jesu Tod wieder von uns genommen wurde.

Du hast einmal erwähnt, dass deine jungen Christengemeinden für feste Nahrung noch nicht reif genug ist. Ich hoffe, du bist es, wenn ich jetzt folgendes argumentiere:

Weder Adam noch sonst ein Mensch nach ihm hatte die erklärte Absicht, eine böse Tat zu tun!

Ich wiederhole es in anderen Worten: Es gibt keinen Menschen, der jemals die Sünde um der Sünde Willen getan hat.

Du glaubst mir nicht? Du kannst die Richtigkeit dieser Behauptung an deinem eigenen Handeln checken:

War die Steinigung des Stephanus aus deiner heutigen Sicht etwas Böses?

Ohne Zweifel.

Hast du dem Totschlag des Stephanus deswegen zugestimmt, weil du etwas Böses tun oder eine Sünde begehen wolltest?

Keinesfalls.

War die Steinigung etwa keine Sünde?

Das kann nicht sein.

Wie gehen wir mit diesem Widerspruch um?

Ganz einfach: Es gibt eine Tat und die ist was sie ist. Es gibt aber auch eine Wertung dieser Tat und die ist je nach der Perspektive des Täters und des Betroffenen naturgemäß verschieden.

Jede Tat hat für den Täter Vorteile – sonst würde dieser dafür nicht einmal den kleinen Finger krumm machen. Aber so wie jeder Gegenstand auf der einen Seite im Licht seiner Vorteile glänzt, so wirft er auf der anderen Seite einen Schatten.

Die Vorteile für den Täter müssen aber immer überwiegen.

Mach dir doch die Mühe und erinnere dich, welchen Vorteil du von der Steinigung des Stephanus hattest.

Ich gebe dir ein zweites Beispiel für eine Tat, die du sicher uneingeschränkt gut geheißen hast: die Missionierung eines Juden zum Christentum. Dein Motiv dafür ist wie immer gut. Du willst ihn retten und in die Seligkeit Gottes führen.

Tatsache aber ist, dass der Bekehrte Schwierigkeiten mit seiner bisherigen jüdischen Religionsgemeinschaft bekommt. Er setzt sich in Widerspruch zu seinen Eltern, zu seiner Frau. Er wird aus der bisherigen Gemeinschaft ausgeschlossen. Möglicherweise wird er unter der römischen Herrschaft zum Blutzeugen und verliert sein Leben. Wolltest du, wollte er das alles wirklich?

Stellen wir also fest, dass Böses nie eindeutig böse und Gutes nie eindeutig gut ist. Die Bewertung ist niemals objektiv und hängt vom eigenen Standpunkt ab.

Unser Gebet müsste sein:

Herr gib uns die Fähigkeit, nicht nur unseren Standpunkt zu sehen. Zeige uns durch unser Gewissen, wann eine beabsichtigte Tat in deinem Sinn vom Guten ins Böse kippt und warne uns rechtzeitig, wenn sie zur Sünde wird!

Eva und das Unzüchtige

Ich komme nochmals auf Eva zurück. Hat sie nicht als erste die Verlockung der Sünde angenommen und den Apfel dann an Adam weiter gereicht? Sie und nicht Adam hat die Schuld in die Menschheit getragen. Das wird doch nicht deinem analytischen Verstand entgangen sein!

Aber wir wissen ja, dass du Frauen im Gegensatz zu Jesus nicht als gleichwertige Geschöpfe Gottes ansiehst.

Und so finden wir dich nach deinem geschichtlichen Versuch eines reflektierten christlichen Fundaments auch gleichzeitig als – verzeih mir, aber es muss raus - kleinlichen Spießbürger und hierarchiebewussten Macho wieder, der den Frauen in Glaubensdingen jede Fähigkeit abspricht und sie auffordert, zu schweigen und sich generell dem Mann unterzuordnen.

Und wie, Paulus, wenn der Mann nun ein Säufer und Dummkopf ist? Wenn er, wie Alexander oder Hymenäus Gott lästert? Auch dann einfach unterordnen und den Mund halten?

Du schreibst ferner in 1 Kor, 1, 7: „...der Mann ist das Abbild Gottes und spiegelt die Herrlichkeit Gottes wider. In der Frau spiegelt sich nur die Würde des Mannes.“

Entschuldige bitte, aber das ist die eingebildetste Gockelei, die mir jemals untergekommen ist, und sie findet ihre Entsprechung höchstens im zeitweiligen Verhalten der Kirche bis herauf in unsere Tage. Bestimmt nicht in den Gebräuchen deiner Zeit.

Ich erwähnte es schon einmal an früherer Stelle: Ein charismatischer Mensch wie du braucht Scheuklappen, um seine Ansichten kraftvoll zu fokussieren und um den Boden für die Kirche zu bereiten.

Aber gelingt es dir wirklich, die großen Frauengestalten wie Ruth, Rebekka, Judith, Abrahams Frau Sarah und ihr entscheidendes Wirken in der Heilsgeschichte einfach auszublenden?

Ist es deiner geschätzten Aufmerksamkeit wirklich entgangen, dass Jesus selbst sich nicht scheute, mit einer minder geachteten heidnischen Samariterin ein theologisches Gespräch über das Wasser des Lebens zu führen? Dass er einer stadtbekannten Sünderin erlaubte, ihm mit ihrem langen Haar die Füße zu waschen, anstatt es mit deiner Ansicht im 1. Korintherbrief zu halten: „Die Frau hat langes Haar erhalten, um es zu verhüllen.“ (11,15) oder „Deshalb muss die Frau als Zeichen ihrer Bevollmächtigung ein Kopftuch tragen und damit der Ordnung genügen, über die die Engel wachen.“ (11,20).

Das Kopftuch als Beschäftigungstherapie für Engel? Sind das wirklich Originalzitate eines Paulus?

Wieder einmal schleicht sich bei mir der Verdacht ein, dass bei dir anonyme Co-Autoren am Werk waren, über die du dich jetzt noch ärgern oder genieren musst. Ich hoffe es für dich.

Stark individuell geprägt ist auch deine Warnung vor einem unzüchtigen Leben.

Hast du das Thema Gotteslästerung in deinen Schriften nur einmal erwähnt, so kehrt die Unzucht als Verdammungsgrund bei dir immer wieder.

Das Gegenteil davon heißt Zucht, das Verb züchtigen – was für unsympathische Vokabel. Sollen sie vielleicht das Seelenheil retten? Du erwähnst in diesem Zusammenhang den Leib des Menschen, auch deinen eigenen Leib. Die Metapher vom „Pfahl in deinem Fleisch“ drückt erlittene Qualen aus. Sie ist eher eine satanische als himmlische Vorstellung. Unser Leib trägt aber ein himmlisches Ursprungsetikett.

Ist er etwa nicht ein Meisterwerk göttlicher Schöpfung? Dürfen wir uns etwa nicht daran erfreuen und Gott loben?

Du könntest jetzt vielleicht einwenden: Ihr habt es ja viel leichter, ihr habt alle euren Sigmund Freud studiert, übrigens auch ein Judenchrist, aber viel zu frei denkend.

Ziemlich sicher hätte dir Freud gesagt, dass du den menschlichen Leib überforderst, wenn du ihn als Tempel Gottes bezeichnest.

Gott hat ihn uns geschenkt, damit wir aus seinen Schöpfungsgedanken in diese materielle Welt heraus treten und durch sein Funktionieren lebenstauglich werden. Und da Gott nicht nur an Einzelwesen wie an Eva oder an Paulus gedacht hat, sondern die fruchtbare Vermehrung der gesamten Menschheit im Sinn hatte, stattete er den Leib auch mit geschlechtlichen Begierden aus. Und er wollte sogar, dass auch unser Verstand den Trieben untergeordnet ist. (Was uns ja nur ansatzweise bewusst wird.) Er selbst hat alles so geschaffen, wie es ist.

Merkst du nun, wie abgehoben dein Vergleich mit dem Tempel Gottes ist? Dein Schwung im Dienst an der guten Sache reißt dich immer wieder zu Kopfgeburten hin, die mit der menschlichen Existenz nicht zu vereinbaren sind.

Ich schreibe das nicht, um dich zu kränken oder gar herab zu setzen. Dazu bin ich nicht berechtigt. Es geht mir nur darum, dir einen Hinweis zu geben, warum dich etwa die Korinther nach deiner ersten Missionsreise so sehr enttäuscht haben. Ihr Leib ist und bleibt nun einmal die Triebfeder ihrer gesamten Existenz. Jeder Versuch, ihn wie den Satan persönlich zu bekämpfen, führt nur zur peinlichen Verlogenheit, zur Prüderie und zur letztendlichen Niederlage.

Das hast du selbst sehr genau gewusst. In einem toleranten Moment und mit einem Seufzer der Resignation hast du den Männern ihre Ehefrau als das kleinere Übel genehmigt.

Wie sicher war sich Paulus?

Du warst einmal mehr der Zuchtmeister der Menschheit und hast ihnen vorenthalten, dass sie mit ihrer Sexualität und ihren Partnern jede Menge Freude haben dürfen. Eine legitime Freude, die auch Gott gefällt.

Deine Vorstellung von Freude war anders: Du freutest dich etwa, weil deine schriftliche Rüge an die Korinther so viel Betroffenheit und Schmerz ausgelöst hatte. Du schriebst: „Es war ein Schmerz von der Art, die Gott gebrauchen kann.“ (2 Kor. 4, 10.) Das ist für mich nicht nachvollziehbar, denn Gott ist kein Handwerker, der von deinen Hilfeleistungen profitiert.

Warum nimmst du die menschliche Natur nicht als einen von Gott gegebenen Standard? Der Kampf gegen die menschlichen Triebe ist ja nur dann berechtigt, wenn er das Gebot der Nächstenliebe verletzt und damit die Gesellschaft schädigt. Tut er das nicht, so wird es zum Kampf gegen die Absicht des Schöpfers. Die von dir geforderte Triebbekämpfung ist eine Sünde gegen die Natur und zur Sünde gegen den Geist Gottes.

Was innerhalb unseres körperlichen Verlangens durch Gott verboten ist, dient dem sozialen Zusammenleben. Der Inzest beispielsweise ist nicht erst seit Moses verboten. Das Geschlechtsleben jedes einzelnen aber ist Privatsache und nicht von öffentlichem Interesse.

Wenn du persönlich der Meinung bist, Gott besser durch Enthaltsamkeit zu dienen, dann werde ich der erste sein, der deine freie Entscheidung als besondere Leistung würdigt und sie gegen jeden Spott verteidigt.

Bei deiner Bereitschaft zur Hingabe an Gott zeigst du ebenfalls keine Freude an deinem Leib und bewegst dich an der Grenze des guten Geschmacks: „Ich erleide fortwährend das Sterben Jesu an meinem eigenen Leib.“ (2 Kor. 4, 10)

Starke Worte auch für einen, der gar nicht dabei war und zur Zeit der Kreuzigung noch die Argumente der Jesus-Ankläger befürwortete!

Im zweiten Korintherbrief bezeichnest du dich einige Male als verrückt und unzurechnungsfähig, um dich im Anschluss selbst drei lange Kapitel zu loben und dein Amt zu verteidigen: „Ich rede jetzt wirklich wie ein Verrückter: Womit andere prahlen, damit kann ich auch prahlen.“ (2 Kor. 11, 21) Und du prahlst dann auch hemmungslos drauflos – einmal sogar als martialischer Feldherr: „Ich zerstöre feindliche Festungen. Ich bringe falsche Gedankengebäude zum Einsturz und reiße den Hochmut nieder... Jeden Gedanken, der sich gegen Gott auflehnt, nehme ich gefangen und unterstelle ihn dem Befehl Christi“.

Schlussendlich rumort wieder der alte Saulus in dir und du schwärmst von einem Endsieg, der nicht mehr viel mit deinem Gottesauftrag zu tun hat: „Ich stehe bereit, alle Widersetzlichen zu bestrafen, sobald ihr als Gemeinde zum vollen Gehorsam gefunden habt.“ (2 Kor. 10, 4-6)

Merkwürdig. Jetzt, wo du sogar das nahe liegende Jesuswort: „Richtet nicht, damit ihr nicht selbst gerichtet werdet“ offenbar völlig verdrängt oder vergessen hast, glaube ich dich wieder zu verstehen.

Das ist nicht die Sprache der Würde und des hohen Amtes, nein: Das ist nicht die selbstsichere Sprache des Überzeugten, sondern die Sprache der persönlichen Unzulänglichkeit. So wie Gott mit der Berufung des Moses einen Stotterer betraut hat, so hat er mit der Verbreitung des Christentums einen Mann betreut, der immer wieder an sich selbst zweifelt und der diesen Zweifel immer wieder in sich selbst niederkämpfen muss. Und da ist ihm jedes Mittel recht und er behauptet: „Ich habe sogar mehr getan als alle anderen Apostel zusammen (1Kor. 15, 10). Die Angst vor dem Versagen ist bei dir immer gegenwärtig und verrät auch einen Gegensatz zu den „anderen Aposteln“.

Nicht die selbstsichere Überlegenheit war deine Triebfeder, sondern die Angst vor den Ansprüchen Gottes beziehungsweise deines eigenen sensiblen Gewissens. Die ständige Furcht vor den Rückfällen deiner jungen Christengemeinden, vor eloquenten Irrlehrern und gewissenlosen Machthabern, vor gesellschaftlichen Realitäten.

Deine Aufgabe war von Anfang an eine mission impossible. Einer allein gegen den Rest der Welt!

Das Scheitern deines übermenschlichen Auftrags wäre programmiert gewesen – alles andere ein Wunder.

Aber eben dieses Wunder glaubtest du in deinem Besitz: Die Beauftragung eines Christenhassers namens Saulus durch Gott persönlich. Du selbst ein lebendiges Zeichen seiner unerforschlichen Gnade.

Paulus, der Manager Gottes

Das war alles, was du in der Hand hattest und du klammertest dich an diesen Strohhalm. Mit einer Verwegenheit ohnegleichen machtest du ihn zur tragfähigen Achse. Mit all deinen Fähigkeiten und Unfähigkeiten hast du den revolutionären jesuanischen Glaubenskern zu einem Weltglauben ausgebaut und in ein System gebracht.

Da warst du in deinem organisatorischen Element.

Du gingst dabei wie ein moderner Unternehmer vor: Zuerst hast du das Produkt Christentum zugkräftige Argumente ausgearbeitet und dann hast du Marketing betrieben. Du hast eine beispiellose Werbekampagne mit viel Personal Promotions abgewickelt und ein „Vertriebsnetz“ mit Testimonials aufgebaut, das quer durch die ganze damals bekannte zivilisierte Welt reichte.

Vor allem aber zeigte dir dein Organisationsgenie die Bedeutung des heidnischen „Marktes“. Hier, und nicht im Judentum, lag die Zukunft des jungen Glaubens. Du erkanntest aber auch ganz klar: Das Haupthindernis war die Beschneidung und die jüdischen Speisevorschriften. Sie verhinderten eine Bekehrung auf breitester Basis.

Das eine Problem wurde durch Petrus gelöst. Ihm kam in dieser Frage ein von Gott gesandter Traum zu Hilfe, der die Speisenvorschriften relativierte.

Dir aber, Paulus, war die Aufhebung der Beschneidung vorbehalten. Es ist nicht überliefert, dass dir ein göttlicher Traum dabei zu Hilfe kam. Es geschah in deiner unternehmerischen Verantwortung. Das war die „Big Idea“, welche das Christentum im wahrsten Sinn des Wortes aus dem jüdischen Ghetto befreite und die Marktchancen globalisierte.

Gleichzeitig geht die unumkehrbare Abspaltung vom Judentum auf dein Konto, welche die jüdische Seite vor allem in unserer Zeit noch viel Substanz kosten sollte!

Zur Abschaffung des Beschneidungszwanges war viel Mut und Weitsicht notwendig, die Petrus vermutlich nie aufgebracht hätte. Gegen den Willen aller anderen Apostel hast du diesen radikalen Bruch mit der Vergangenheit sofort im Alleingang durchgeführt und erst hinterher mit allen anderen Aposteln diskutiert.

Ich stelle mir lebhaft ihre anfängliche Empörung vor: Was, der körperlich sichtbare Bund mit Jahwe sollte plötzlich auch ohne Symbol gelten? Woher nahm dieser Neueinsteiger und Querdenker Paulus eigentlich die Legitimation für eine solche Entscheidung?

Ihre Erinnerung an Jesus war noch frisch. Ihr Meister, selbst ein Jude, hätte sein Veto eingelegt, darin waren sie ganz sicher. Er hätte den Juden Paulus zurück gepfiffen. Sie hatten noch seine Worte im Ohr: Jesus sei nicht gekommen, um ein Jota an dieser Lehre zu ändern. Und jetzt das!

Dennoch, Paulus, du hast es geschafft! Meine Gratulation zu deiner Überzeugungskraft! Dass du dich damals durchgesetzt hast, dafür gebührt dir heute zu Recht der uneingeschränkte Titel Kirchenvater, sowie von allen Christen dieser Welt einschließlich meiner Wenigkeit großer Dank!

Wenn Beschneidung und Speisevorschriften relativiert wurden, dann war die Trennung vom Judentum fix. Ab sofort hatten nicht nur Heiden sondern auch Juden eine klare Entscheidung zu treffen. Mit dem „Mitnehmglauben“ war damit ein für allemal Schluss.

Und Jesus?

Jesus würde das heute, im Rückspiegel von 2000 Jahre Kirchengeschichte vermutlich genau so sehen und gut heißen.

Der Petersdom in Rom sollte damit eigentlich Paulusdom heißen, denn ohne dein Wirken würde es ihn nicht geben.

Paulus – Vorbeter unserer Kirche

Womit wir jetzt beim letzten Kapitel meines überlangen Briefs angelangt sind: Bei der christlichen Kirche als Institution, die aus deinen Bemühungen hervor gegangen ist.

Ihre lange Geschichte zeigt, dass von ihren höchsten Repräsentanten immer behauptet wurde, die Worte des Herrn zu verkünden. Damit ist bereits die erste Ähnlichkeit mit deinem Auftreten beschrieben.

Ich will dir und den Kirchenmännern in deiner Nachfolge gern abnehmen, dass diese Behauptung selbstverständlich Teil eurer Beruf(ung)sethik ist und daher immer auch eurer innersten Überzeugung entspricht.

Dennoch ist eins nicht zu übersehen: Nur Christus hat sich ausschließlich um die Substanz seiner Religion gekümmert.

Du hast die Substanz bereits auf die Gemeinschaft der jungen Kirche hin getrimmt und neue, notwendige Maßnahmen getroffen: Die Einrichtung einer Kirchenhierarchie etwa. Die Unterordnung der Frauen. Der allgemeine Gehorsam. Die Überbewertung des Leibes als Sündenfalle. Die Unterbewertungkriegerischer Aktivitäten. Inquisitorische Verurteilungen.

Die Kirchenmänner in deiner Nachfolge waren´s zufrieden und entwickelten in der Folge ihre eigene institutionale Schlauheit.

Um ihre weibliche Klientel etwa nicht ganz zu verschrecken, stilisierte man Maria zu einem Frauenideal, ohne dass sie je Frau sein durfte. Der Einsatz des Heiligen Geistes und der irdische Begriff der „Josefsehe“ beförderte sie „unbefleckt“ von der Jungfrau- zur Mutterschaft. Die viel wahrhaftere Bibel selbst sagt uns, dass sie in der Folge Mutter mehrerer Kinder war. Aber das wissen nur aufmerksame Bibelleser. Von der Kirche wurde es immer schamhaft verschwiegen und Exegeten bemühen sich seither, diese Tatsache umzudeuten und wegzudiskutieren.

Als ideale Heilige stand sie wunderbarer Weise als Jungfrau und Mutter gleichzeitig auf einem für Frauen unerreichbaren Sockel. Nicht zuletzt dank dieser Wundergloriole wirkte sie in seltener Eintracht mit allen Heiligen und Märtyrern als mächtige Fürsprecherin für alle, denen Christus die Erfüllung ihrer Bitten nicht und nicht erfüllen wollte. Ist das nicht die Rückkehr des hellenistischen Götzenhimmels?

Deine Idee von der Männerkirche hat sich bis heute gut gehalten. Sie beweist, dass der Wandel der Kirche noch lange nicht zu Ende sein kann.

Überflüssig zu sagen, dass Jesus mit dem anderen Geschlecht ganz anders umging. Du weißt es.

Als ihm die stadtbekannte Sünderin mit ihrem langen Haar die Füße wusch, dann hätte er sie zuerst in deinem Sinn auffordern müssen, ein Kopftuch aufzusetzen. Aber ging es dir eigentlich um Jesus?

Jesus war ein Visionär, der Nachfolger wollte und auch bekam.

Du warst für die Praxis unserer gemeinsamen Kirche, dieser zutiefst irdischen Institution zuständig. Und die muss einfach anders aussehen.

Du hast der Kirche den Weg bereitet: Du hast die Herde zum Gehorchen aufgefordert und die Kirche als Retter des Menschen positioniert. Sie hat ihre Lektion gründlich gelernt.

Man muss die Menschen – anders als Jesus - zuerst in das Bewusstsein eines tiefen Sündenpfuhls hinein stoßen, um sie dann daraus erretten zu können. Ist doch sonnenklar, oder?

Die Kirche ging noch einen Schritt weiter als du. Sie sagte sich: Nichts auf der Welt ist umsonst. Schon gar nicht die Rettung der Seele.

Vor allem müssen die Gläubigen in die Kirche kommen, um das Wort Gottes (und ihrer irdischen Repräsentanten) zu vernehmen. Man kann ihnen auch Buße für ihre Sünden auferlegen, die man sich vorher beichten lässt. Der Gehorsam gegen Gott wurde ganz sanft in einen Gehorsam gegenüber der kirchlichen Gebote umgewandelt. Die Kirche ist ja schließlich der Repräsentant Gottes auf dieser Erde. Und wie im Kleinen, so in der großen Politik. Sie hat gekrönte Häupter gefügig gemacht, indem sie deren windigen Machtansprüche mit der Legitimität Gottes abstützte um davon höchst irdisch zu profitieren.

Das „Heilige“ vor dem „Römische Reich Deutscher Nation“ war mit Sicherheit der teuerste Titel, den es je in der langen abendländischen Geschichte gegeben hat...

Diese allzu weltliche Autorität, mein Brieffreund Paulus, kündigt sich bereits durch deine Auftritte an. Die Folgen daraus haben nichts mehr mit Jesus und seiner Lehre zu tun.

Was bleibt

Was bleibt also?

Wie ich es am Beginn des Briefes bereits erwähnte: Uneingeschränkte Bewunderung für deine Gesamtleistung. Bewunderung für deine Kunst der Rhetorik und für deine suggestiven Worte. Bewunderung für alle Leiden und Beschwerden, die du bedingungslos für deine Botschaft auf dich genommen hast.

Du bist für mich das erste Beispiel, dass Glaube in uns und nicht außerhalb entsteht.

In jeder Zeit und in jedem Menschen entsteht er neu und in individueller Ausprägung.

Es sollte uns deshalb auch nicht wundern, dass dein verkündigter Glaube und der des Jesus so verschieden bei mir ankommen.

Du hast manches anders gewichtet, was Jesus gesagt hat, und wesentliches aus deiner eigenen Gedankenwerkstatt hinzu gefügt. Ein paulinisches Christentum unter dem Markenetikett Christus.

Ich hoffe für dich: Du hast aus innerstem Herzen daran geglaubt, deiner Berufung gerecht zu werden.

Mehr kann niemand tun.

Ich möchte hier schließen: Mein Brief an dich wurde viel länger, als ich ursprünglich vor hatte und doch gibt es so viel, was wir noch nicht besprochen haben. Bereiche wie die globale Wirtschaft und weltweite Solidarität, die Gentechnik und die Ökologie etwa. Sie werden unsere Menschlichkeit weit mehr auf die Probe stellen als unser Geschlechtsleben. Christentum sollte deshalb immer in Bewegung bleiben. Vielleicht durch einen neuen Paulus?

Eine Bitte in diesem Zusammenhang: Verzeih mir, wenn ich in manchen Dingen übers Ziel geschossen habe oder wenn meine Quellen über dein Leben getrübt waren und vieles in Wirklichkeit anders war.

Aber was ist schon wahr und wirklich auf dieser Erde?

Lasset uns beide zum Abschluss Gott danken, dass er in seiner unendlichen Voraussicht dir den Ruhm zuteil werden ließ, seinen Heilsplan voran zu treiben. Dafür sei er für immer und ewig gepriesen. Amen.

„Dass das Schiff des Christentums einen Gutteil des jüdischen Ballastes über Bord warf, dass es unter die Heiden ging und gehen konnte, das hängt an der Geschichte dieses einen Menschen, eines sehr gequälten, sehr bemitleidenswerten, sehr unangenehmen und sich selbst unangenehmen Menschen.“

Friedrich Nietzsche, Morgenröte