16.03.2012, Peter Neuner
Diesen Vortrag hielt Prof. Dr. Peter Neuner vor der Vollversammlung des Katholischen Laienrates Österreichs am 11. März 2012 im Don Bosco Haus in Wien.
Welche Mühe die katholische Kirche traditioneller Weise mit der Anerkennung des gemeinsamen Priestertums aller Getauften hat, zeigt wohl am besten das vielbändige Kirchenlexikon aus dem Jahr 1884. Es bietet unter dem Stichwort Laien nur den Verweis: „Laien siehe Clerus“. Und in dem Verweisartikel Clerus wird man dann aufgeklärt: „Ein Laienpriestertum kann im Ernste von Niemandem behauptet werden. Es ist ein Zeichen großer Geschmacklosigkeit und exegetischer Verirrung, aus 1 Petr 2,5.9 ein solches construieren zu wollen. Es ist klar, dass hier nur von einem uneigentlichen, höchstens secundären Priesterthum der Gläubigen die Rede ist“ . 1)
Schauen wir uns zunächst die Bibelstellen genauer an, auf die sich die Lehre von einem solchen, angeblich „uneigentlichen, höchstens secundären Priestertum“ beruft.
I. Der neutestamentliche Befund.
Zunächst ist festzustellen, dass der Begriff „Priester“ und Termini, die von ihm abgeleitet sind, wie Priesterschaft, Priestertum, priesterlich handeln, im NT nur sehr vereinzelt vorkommen und dass sie nirgendwo ein Amt oder einen Dienst oder ein besonderes Charisma in der christlichen Gemeinde bezeichnen 2). Das griechische Wort „hiereus“, dem das lateinische „sacerdos“ und das deutsche „Priester“ entsprechen, kommt in den Evangelien und in der Apg 14 mal vor und bezeichnet fast ausschließlich Amtsträger im Judentum, ausgenommen lediglich Apg 14,13, wo der Zeuspriester in Lystra als Priester tituliert wird. Die Bezeichnung Priester bezieht sich also fast ausschließlich auf den jüdischen Bereich, innerhalb der christlichen Gemeinden spielt er in den Evangelien keine Rolle. Darin spiegelt sich wohl die Tatsache wider, dass der historische Jesus dem Jerusalemer Tempelkult kritisch gegenüberstand. Die sog. Tempelreinigung ist dafür Beweis. Es spricht nichts dafür, dass Jesus selbst seine Sendung vom jüdischen Tempelkult und seinen Priestern her verstand.
In der ntl. Briefliteratur finden sich nun allerdings einige Stellen, die Begriffe aus dem Umfeld von „hiereus“ für die christliche Botschaft verwenden. Im Hebräerbrief wird Christus als Priester bzw. Hoherpriester bezeichnet. Im ersten Petrusbrief heißt es: „Lasst euch als lebendige Steine zu einem geistigen Haus aufbauen, zu einer heiligen Priesterschaft“. Und: „Ihr seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm“ (1Petr 2, 9). Diese Vorstellung klingt auch an in Offb. 1,6; 5,10; 20,6. Was ist hier jeweils gesagt?
a) Die Gemeinde als königliche Priesterschaft nach 1 Petrus.
Der erste Petrusbrief ist von einem uns unbekannten Verfasser geschrieben, er stammt wohl aus dem Ende des ersten Jahrhunderts und richtet sich an mehrere Gemeinden in Kleinasien. Hintergrund des Schreibens waren Verfolgungen, denen die Christen ausgesetzt waren. In dieser Situation mahnt der Brief zu Standhaftigkeit und Treue im Glauben. Im Mittelpunkt dieser Ermahnung steht der Satz: „Seid heilig, denn ich bin heilig“ (1,16). Das ist ein Zitat aus dem atl. Buch Levitikus (19,2), das für die jüdische Frömmigkeit von zentraler Bedeutung war. Die Angesprochenen sollen sich in der Verfolgung als Heilige erweisen. Diese Existenz als Heilige, die hier angemahnt wird, wird mit Vorstellungen umschrieben, die der jüdischen Denkwelt entnommen sind. Aus den Psalmen (Ps 118,22) und aus dem Propheten Jesaias (28,16) greift der Verfasser das Bild vom Eckstein auf und bezeichnet Jesus Christus als lebendigen Eckstein. Auf ihm ist der neue Tempel errichtet. In Weiterführung dieses Bildes erscheinen die Gläubigen als lebendige Steine, aus denen der Tempel besteht. So wie im AT die Priester im Tempel den Dienst am Opfer und der Versöhnung des Volkes vollziehen, so sollen die Glaubenden nun im neuen Tempel die heilige Priesterschaft bilden.
Wir haben es hier offensichtlich mit einer metaphorischen Sprache zu tun. Der 1. Petrusbrief bewegt sich in einer Bildwelt, die sich an atl. Vorstellungen orientiert. Diese darf aber nicht als Seinsaussage verstanden werden. Es ist eine Grundregel biblischer Hermeneutik, dass metaphorische, bildhafte Aussagen keine Seinsaussagen sind, sondern als literarische Verstehenshilfen oder als katechetische Illustrationen interpretiert werden müssen. Es geht im Petrusbrief nicht um die Einordnung der Glaubenden in den Stand der Priester, sondern darum, sie zu Treue und Standhaftigkeit zu ermutigen.
Diese seelsorgliche Ermahnung bestimmt auch die zweite Stelle im Petrusbrief: „Ihr seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das sein besonderes Eigentum wurde“ (2,9). Hier ist Bezug genommen auf Ex 19,6: „Ihr aber sollt mir als ein Reich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören“. Es geht um Heiligkeit, um Treue im Glauben, zu dem mit alttestamentlichen Bildern und Vergleichen aufgerufen wird. Die Aussagen vom priesterlichen Volk in 1 Petr. sind am AT orientiert, greifen den dort geläufigen Priesterbegriff auf und übertragen ihn im Sinne der Heiligkeitsforderung auf die christliche Gemeinde. Priesterlich ist in diesem Bild Synonym für Heiligkeit.
Deutlich ist: Königliche Priesterschaft ist im Petrusbrief, ebenso wie in der Apg, die Gemeinde als Ganze, die Ermahnung zu Beharrlichkeit und Heiligkeit gilt allen ihren Gliedern. Es gibt in den Gemeinden, an die dieser Brief gerichtet ist, sehr wohl bereits Amtsträger. Sie werden „Älteste“, Presbyter genannt und der Verfasser des Briefes bezeichnet sich selbst als „Ältester wie sie“, als „Mitältester“ (5,1). Doch dieses Amt des Ältesten wird nicht als priesterlich charakterisiert, obwohl das Wort Priester bereits eingeführt ist. Der Presbyter, der hier spricht, versteht sich jedenfalls nicht als hiereus, er ist nicht Priester in unserem Verständnis, ebenso wenig wie die angesprochenen Ältesten sich als solche sehen sollen.
b) Christus als Hoherpriester im Hebräerbrief
Im Hebräerbrief kommt der Begriff Priester 6 mal vor, zumeist als Zitat aus Ps 110,4: „Du bist Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedecks“ (5,6; 7,17; 7,21). Dieser Psalm gehört zu den Königspsalmen, er weist auf die davidische Königsvorstellung zurück und sieht nun Christus in der Rolle des Priesterkönigs. In ihm ist das Königtum Davids zu seiner Vollendung gekommen. Dabei ist vor allem seine Vollmacht im Blick. Christus ist, so soll hier gesagt werden, Vollender des Königtums Davids, er ist der Weltenherrscher, der Pantokrator.
Christus wird im Hebräerbrief Brief als Hoherpriester (archiereus) tituliert. Dieser Begriff begegnet im NT häufig und bezeichnet fast durchwegs den jüdischen Hohenpriester. Diese Bezeichnung wird im Hebräerbrief auf Jesus übertragen. Vergleichspunkt ist dabei die Aussage, dass der jüdische Hohepriester jedes Jahr am Versöhnungstag das Opfer darbringen muss für seine eigenen Sünden und für die Sünden des Volkes. Jesus dagegen hat ein einziges Opfer dargebracht, er tat es ein für allemal. Das zeichnet ihn vor allen Priestern aus. Die Aussage des Hebräerbriefs lautet: Er ist der einzige wahre Hohepriester und er ist es für alle Zeit.
Auch diese Verwendung des Priesterbegriffs im Hebräer-Brief muss vor dem Hintergrund des jüdischen Denkens verstanden werden. Auch hier haben wir es mit metaphorischer Sprechweise zu tun, die vor dem Hintergrund jüdischen Denkens die einzigartige Stellung Christi deutlich machen will. Sinnspitze dieser Stelle ist, dass im Werk Jesu die Opfer der Menschheit erfüllt und zu ihrem Ende gekommen sind. Nun kann es kein Opfer mehr geben. Und auch das Priestertum ist an sein Ende gekommen, weil Christus Hoherpriester in Ewigkeit ist.
Als Ergebnis dieses kurzen Überblicks über die biblischen Aussagen müssen wir also zunächst einmal feststellen, dass das Neue Testament keine Grundlage dafür bietet, einzelne Glieder der Gemeinde oder ihre Amtsträger als Priester zu verstehen. Im Petrusbrief wie in der Apokalypse ist das Priestertum der Gemeinde als Ganzer zugesprochen und daraus wird gefolgert, dass alle, die zu ihr gehören, entsprechend ihrer Berufung leben sollen. Die Amtsträger in der Gemeinde werden dezidiert nicht als Priester bezeichnet. Der Hebräerbrief beschränkt das Priestertum des Neuen Bundes allein auf Christus. Er ist der einzige wahre Priester, neben ihm kann es keine weiteren Priester mehr geben. Eine Deutung des Amtsträgers als Priester, die Vorstellung von einer Sonderstellung, die ihn aus der Gemeinschaft der Glaubenden heraushebt, dass ihm besondere und ihm allein vorbehaltene Vollmachten zukommen, all dies lässt sich vom NT her schwerlich begründen.
Es ist vom ntl. Befund her angebracht, in der Verwendung des Priesterbegriffs recht zurückhaltend zu sein. Das gilt zunächst für den sogenannten Amtspriester, es gilt aber auch für das gemeinsame Priestertum aller Getauften. Wir haben es in den einschlägigen Aussagen des NT primär mit moralischen Ermahnungen zu tun, nicht mit der Zuweisung einer besonderen Qualität der so Bezeichneten, aus der sich besondere Vollmachten ableiten ließen.
c) Amtsvorstellungen im NT
Damit stellt sich die Frage, wie es zum heutigen Sprachgebrauch kam, für den das eingangs zitierte Lexikon ein besonders sprechendes Beispiel ist. Hier stehen wir vor dem Problem, dass wir über das gemeinsame Priestertum nicht sprechen können, ohne uns auch auf das Amt in der Kirche zu besinnen. Die Amtsstrukturen waren in biblischer Zeit noch recht offen, sie entfalteten sich im Zusammenhang der Einbindung der Kirche in die fortdauernde Geschichte. Am Anfang herrschte die Erwartung, dass das Reich Gottes unmittelbar bevorstand. Amtsstrukturen wurden bedeutsam, als die Kirche sich auf Dauer in der Welt und in der Geschichte einrichtete und dabei Strukturen entwickeln musste, die der Treue zum Ursprung dienten.
In den frühesten Stufen der Entwicklung der Ämter können wir zwei Modelle ausmachen, das in Jerusalem und das der paulinischen Gemeinden. In Jerusalem hatten zunächst die Apostel unbefragte Autorität. Sie gewährleisteten die Kontinuität der jungen Kirche mit der Botschaft Jesu. Sie waren „von Anfang an bei ihm“, sie waren die Augen- und Ohrenzeugen seines Wirkens. Von der ersten Gemeinde in Jerusalem heißt es in der Apg, dass sie in der Lehre der Apostel blieb. Grundamt ist das Apostolat. Neben den Aposteln stehen in Jerusalem die Ältesten, die Presbyter. Diese Institution ist aus der jüdischen Synagogenordnung übernommen. Presbyter nahmen dort Disziplinargewalt wahr, vertraten die jüdische Gemeinde und waren dabei streng dem Gesetz und der Tradition verpflichtet. Die Presbyter gehörten in der jüdischen Gemeinde nicht zu den Priestern, sondern waren „aus dem Laienstand genommen“ 3).
Nun gab es in der Gemeinde in Jerusalem auch griechisch sprechende Gruppen. Auch für sie waren die Apostel die wichtigste Autorität. Neben ihnen wurde ein Sieben-Männer-Kollegium eingerichtet, dessen Mitglieder in der späteren Überlieferung als Diakone bezeichnet wurden, eine Terminologie, die sich in der Apg noch nicht findet. Diese Männer wurden nicht allein für den Tischdienst bei den Hellenisten, also zur sozialen Betreuung der Notleidenden eingesetzt, wie es zunächst scheint, sondern sie waren offensichtlich auch Verkünder der neuen Botschaft. Die bei weitem umfangreichste Predigt, die das NT überliefert, stammt von Stephanus in Apg. 7.
Wir können also sagen, in Jerusalem finden wir Apostel. Daneben gab es für die hellenistischen Juden das Sieben-Männer-Kollegium und für die aus dem traditionellen Judentum Kommenden die Ältesten, die Presbyter. Der Begriff Presbyter hatte dabei eine religiöse Vorprägung, die aus der Ordnung der jüdischen Gemeinde übernommen wurde, allerdings nicht am Stand der Priester anknüpfte.
Anders waren die Amtsstrukturen bei Paulus und insgesamt in den Gemeinden, die aus dem Heidentum kamen. Hier ist die Gemeinde in Korinth exemplarisch, die nach dem Zeugnis des Paulus durch Charismen bestimmt war. Doch auch die paulinischen Gemeinden waren nicht ganz ohne Amt und Autorität. Paulus selbst tritt seinen Gemeinden mit der uneingeschränkten Autorität des Apostels gegenüber. In den Schlussermahnungen des Korintherbriefes liest man von Angehörigen des Stephanas, die sich in den Dienst der Gemeinde gestellt haben. „Ordnet Euch ihnen unter, ebenso ihren Helfern und Mitarbeitern“ (1Kor.16,15). Paulus bescheinigt ihnen, dass sie das Werk des Herrn verrichten wie er selbst. Auch wenn die Paulusbriefe in der Ausgestaltung dieser „Ämter“ bei ersten Ansätzen bleiben und die Gemeinde in Korinth zweifellos vor allem charismatisch bestimmt war, völlig ohne Amt und Autorität war sie dennoch nicht.
Dies gilt noch mehr von Gemeinden, in denen Paulus nur kurze Zeit weilte, und die durch von ihm beauftragte oder auf anderem Weg als dazu befähigt erwiesene Gemeindeleiter geordnet wurden. Die Grußformel des Philipperbriefes lautet: „Paulus und Timotheus, Knechte Jesu Christi, an alle Heiligen in Christus Jesus, die in Philippi sind, mit ihren episkopoi und diakonoi“ (Phil 1,1). An erster Stelle steht die Gemeinde, der Brief ist an die Gemeinde als Ganze geschrieben. Innerhalb dieser Gemeinde gibt es nun aber bestimmte Verantwortliche, die eigens genannt werden. Sie werden als episkopoi und diakonoi bezeichnet, beide Begriffe erscheinen im Plural. Offensichtlich gab es ein Gremium von Männern, die für die Gemeinde Verantwortung trugen. Beide Begriffe hatten keine religiöse Vorprägung, sie waren weder im Judentum noch in den hellenistischen Religionen geläufig. Episkopos ist der Aufseher, der Diakonos ist der Diener, der Helfer. Es gab also in der paulinischen Gemeinde Leute, die das Gemeindeleben zu leiten und zu lenken hatten und es gab Helfer, die sie dabei unterstützten. Von einer priesterlichen Prägung dieser Ämter ist bei Paulus nirgendwo die Rede.
In späteren Schriften des NT, besonders in den Briefen an Titus und Timotheus sind diese beiden ursprünglichen Amtsstrukturen bereits zusammengeflossen. Die Charismen, die bei Paulus im Zentrum gestanden hatten, tauchen nicht mehr auf. Titus und Timotheus sind Vorsteher einer Gruppe von Gemeinden, sie üben wohl eine überregionale Funktion aus. Neben ihnen stehen nun presbyteroi und diakonoi, beide Begriffe erscheinen im Plural, während der espikopos nun im Singular genannt wird. Es ist daraus wohl zu schließen, dass unter einem episcopos mehrere presbyteroi und diakonoi wirken. Andere Ämter, wie etwa die der Propheten, der Lehrer, die wir in früheren Schriften verschiedentlich finden, spielen nun keine Rolle mehr.
Diese Dreigliederung des Amtes sollte sich in der frühen Kirche durchsetzen und für die katholische und die orthodoxe Kirche verbindlich werden. Dabei können wir feststellen, dass zwei dieser Ämter, der episkopos und der diakonos rein weltliche Bezeichnungen ohne religiöse Vorprägung trugen. Sie wurden offensichtlich gewählt, um die christliche Botschaft von den Religionen der Umwelt zu unterscheiden. Etwas anders ist es mit dem Begriff des presbyteros. Er ist aus der jüdischen Denkwelt übernommen, also religiös vorgeprägt. Doch keiner dieser Amtsbegriffe ist sazerdotal geprägt.
II. Die frühchristliche Entwicklung
In frühchristlicher Zeit sollte das Amt mehr und mehr Bedeutung bekommen. Es waren insbesondere Kontroversen mit häretischen Strömungen, vor allem mit der Gnosis, die dazu führten, dass die Amtsträger und unter ihnen vor allem die Bischöfe eine besondere Bedeutung als Träger, eventuell gar als Garanten der ursprünglichen Botschaft bekamen. Die Bischöfe wurden als Nachfolger der Apostel gesehen und an ihrer Amtsnachfolge wurde die apostolische Botschaft festgemacht. In diesem Rahmen wurde das Amt als priesterlich qualifiziert. Darüber gilt es etwas genauer nachzudenken 4).
Die metaphorische Verwendung des Priesterbegriffs schon im NT sollte Schule machen. Als in den Auseinandersetzungen mit Irrlehren die Amtsträger immer wichtiger wurden, als man sie als Repräsentanten der Gemeinde und dann auch als Vertreter Christi verstand, als sie in seinem Namen zu reden und zu handeln beanspruchten, wurde ihnen in Übernahme der Verwendung im Hebräerbriefs auch der Titel Priester bzw. Hoherpriester zuerkannt. Nochmals: Das war eine zunächst allegorische Sprechweise. So wie es im AT einen Hohenpriester und viele Tempelpriester gegeben hatte, so ähnlich sollte es nun auch im Volk Gottes des Neuen Bundes sein. Doch es war zunächst eine Allegorese, wenn nun die Amtsträger, zunächst nur die Bischöfe, später dann auch die Presbyter als sacerdotes bezeichnet wurden.
Eher etwas vereinzelt steht in der frühen Kirche die Aussage Tertullians, der unter Berufung auf die Apokalypse formuliert: „Da gehen wir gründlich in die Irre, wenn wir glauben, Laien sei erlaubt, was Priestern nicht erlaubt sei. Sind nicht auch wir Laien Priester?“ 5). Tertullian folgerte daraus nun allerdings keine besonderen Vollmachten für Laien, sondern forderte von den Laien die Einhaltung der gleichen Vorschriften, die auch für den Klerus galten, und verbot ihnen deshalb eine zweite Heirat nach dem Tod eines Ehepartners. Doch als selbstverständlich ist hier vorausgesetzt, dass dann, wenn kein Priester zur Verfügung steht, diese Funktion wahrnehmen kann. Mit dieser Praxis begründet Tertullian seine Forderung des Verzichts auf eine zweite Heirat.
Ein entscheidender weiterer Schritt ist mit der Konstantinischen Wende eingetreten. Konstantin schloss sich der christlichen Botschaft an, selbst wenn er sich erst auf dem Sterbebett taufen ließ. Das war zu seiner Zeit, also bevor die Kindertaufe üblich wurde, nicht ungewöhnlich. In seiner politischen Praxis war er jedoch bemüht, gemeinsame religiöse Feiern durchzusetzen, durch die die Einheit des Reiches befestigt werden sollte.
Exkurs: Das bekannteste Beispiel ist die Einführung des Festes der nativitas, der Geburt. Am 25. Dezember feierte man damals in Rom das Jahresfest des Gottes Mithras, aber auch das Fest des Sol invictus, des unbesiegten Sonnengottes, der aus den längsten Nächten des Jahres mit neuer Kraft erstieg. Auf diesen Tag legte Konstantin nun auch das Fest Christi als des wahren Gottessohnes, der schon von Geburt an dem göttlichen Vater wesensgleich war (homoousios). Das war die Aussage des Konzils von Nizäa im Jahr 325. Dieses Bekenntnis zum rechten Glauben sollte ebenfalls in der Feier der nativitas, also am 25. Dezember liturgisch gefeiert werden. Daraus entwickelte sich unser Weihnachtsfest, das ursprünglich kein Geburtstag war, sondern die Feier des rechten Bekenntnisses zum von Geburt an wesensgleichen Gottessohn. Selbst wenn die Religionen mit dieser Feier der nativitas unterschiedliche Inhalte verbanden: entscheidend war für Konstantin die gemeinsame Feier. Sie sollte seine Untertanen über alle religiösen Grenzen hinweg verbinden.
Die Bemühung um religionsübergreifende Strukturen, die die Ära Konstantins prägte, sollte auch für die Deutung des kirchlichen Amtes Bedeutung erlangen. Aus dem allegorischen Vergleich des Amtsträgers in der christlichen Gemeinde mit dem Tempelpriester in Jerusalem wurde mehr und mehr eine Übertragung auch von Inhalten des Verständnisses vom Priesters und seiner Stellung in den Religionen auf die christliche Kirche. So wie es in allen Religionen des Vorderen Orients Priester gab, die Opfer darbrachten, um die Götter mit der Menschheit zu versöhnen, so sollte es auch in der christlichen Kirche sein. Das Verständnis des Herrenmahls als Opfer wurde zur Brücke für diese Entwicklung. Unser Wort Priester leitet sich vom griechischen Presbyteros her, hat allerdings gegenüber dem Ältesten in der jüdischen und der frühchristlichen Gemeinde eine völlig andere Bedeutung angenommen. Als anständige Religion brauchen auch die Christen ihr Opfer und dazu haben sie ihre Priester. Und so wie in den Religionen die Priester eine Mittlerstellung zwischen Gott und den Menschen einnahmen, so nun auch die Amtsträger in der christlichen Kirche. In der Anerkennung als legitime Religion, wurde das Christentum als Religion unter Religionen verstanden und die Kirche übernahm Strukturen, die die heidnischen Religionen prägten. Episkopoi und persbyteroi wurden die Priester, die sie ursprünglich nicht sein sollten.
Ein wichtiger Schritt in dieser Sacerdotalisierung erfolgte in der Überzeugung, der Amtsträger handle bei der Feier der Sakramente „an Christi statt“. In der Auseinandersetzung mit dem Donatismus, der lehrte, dass unwürdige Amtsträger die Sakramente nicht gültig spenden konnten und von Häretikern Getaufte bei ihrer Aufnahme in die rechte Kirche darum nochmals getauft werden müssten, berief man sich auf das Wort Augustins: „Mag Petrus taufen, Christus ist es, der tauft; mag Paulus taufen, er ist es, der tauft; mag Judas taufen, er ist es, der tauft“ 6). Das besagte keineswegs eine Überbewertung des Amtsträgers, vielmehr trat dieser ganz hinter Christus als dem eigentlichen Spender der Sakramente zurück. Doch damit wurde es möglich, dass die Charakterisierung Christi als Priester im Hebräerbrief nun auf den Episkopos und den Presbyteros übertragen wurde und sie als „sacerdotes“ verstanden wurden. So „konnte es nur eine Frage der Zeit sein, bis auch die zunächst allein Christus selbst und dem Volk Gottes als ganzem zugeschriebenen priesterlichen Funktionen in besonderer Weise dem kirchlichen Amt bzw. den kirchlichen Ämtern zugesprochen wurden“ 7).
Damit waren die Weichen gestellt für das eingangs vorgestellte Priesterbild. Seit dem 12. und 13. Jh. wurden die Priester nicht mehr für ein Amt in einer konkreten Gemeinde bestellt, sondern man hat sacerdotes gleichsam auf Vorrat geweiht, die dann vom Bischof in eine bestimmte Gemeinde gesandt wurden. Die Priesterweihe wurde im 2. Jahrtausend als Sakrament verstanden, das dem Geweihten einen unverlierbaren Charakter verleiht und ihn von den einfachen Gläubigen unterscheidet. Die Priester wurden als eigener Stand gesehen, der den Laien gegenübersteht und ihnen überlegen ist. Die Kirche war zu einer Zwei-Klassen-Gesellschaft geworden. Neben dem Priester, der mehr und mehr zum eigentlichen Christen avancierte, standen die Laien, die dadurch definiert waren, dass sie Nicht-Priester waren und nicht zum Klerus gehörten. Der Priester wurde verstanden als Mann der Sakramente, der aus der Gemeinschaft der Gläubigen herausgehoben ist, Mittler ist zwischen Gott und den Menschen und dem allein die Vollmacht der Wandlung und der Sündenvergebung zukommt. Damit musste man das Priestertum, das nach dem 1. Petrusbrief alle Gläubigen innehaben, als „uneigentlich“ abqualifizieren. Es war bestenfalls noch das „allgemeine“, das dem eigentlichen Priestertum gegenüberstand. Priestertum unterschied nun die Amtsträger von den Laien, es erschien kaum noch als die allen gemeinsame Berufung.
III. Luther und die Reformation
In der evangelischen Lehre wird das Amt in der Kirche nicht als priesterlich bezeichnet. Auf der Ebene des Priestertums sind nach Luther alle Getauften gleich. Luther betonte insbesondere die Bedeutung der Taufe. Durch sie werden wir zu Christen und eine höhere Würde als die des Getauften kann es nicht geben. Alle Getauften haben direkten Zugang zu Gott, können sich an ihn wenden und brauchen keinen Mittler, weder Heilige noch besondere Priester. Grundsätzlich ist jeder zu allen Handlungen in der Kirche bevollmächtigt, insbesondere zum Bekenntnis des Glaubens und zur Verkündigung der Botschaft, zur Sorge für das Heil des Nächsten. So sind Eltern die ersten Priester für ihre Kinder. In Luthers Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ heißt es: „Was aus der Taufe gekrochen ist, das mag sich rühmen, dass es schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht sei“ 8). Es war für Luther entscheidend, dass die Kirche keine Zwei-Klassen-Gesellschaft ist. Es gibt keine höhere Würde als die, getauft zu sein.
Dies hat Luther polemisch gegen die römische Kirche formuliert. Aber er stand bald in einem Zwei-Fronten-Krieg. Er kritisierte nicht nur die Kirche Roms, sondern auch die sog. Schwärmer. Diese betonten die Erleuchtung eines jeden Christen durch den Heiligen Geist, der allen zuteil geworden sei, so dass alle gleich seien im Verständnis der Botschaft Jesu und ihrer Verkündigung. Jeder, der den Geist empfangen hat, kann alle Aufgaben und Dienste in der Kirche verrichten, kann predigen und die Sakramente verwalten. Gegen diese Vorstellung wandte sich Luther nicht weniger scharf als gegen die traditionelle Vorstellung vom Priester. So fährt er in der oben zitierten Stelle, wonach jeder, der aus der Taufe gekrochen ist, Priester sei fort: „obwohl nicht einem jeglichen ziemt, solch Amt zu üben“. Wenn auch alle gleich sind in Bezug auf das Priestertum, so nicht in Bezug auf das Amt, das nur einige ausüben. Hier gibt es durchaus Differenzierungen innerhalb der Gemeinde. Es gibt auch in der lutherischen Tradition Amt und Auftrag zur Sakramentenverwaltung und zur Wortverkündigung. Das kann und darf auch bei Luther nicht jeder. Das ist gegen die Schwärmer formuliert. Aber dieses Amt deutet Luther nicht als spezifisch priesterlich. Hinsichtlich des Priestertums sind alle Getauften einander gleich, nicht aber hinsichtlich des Amtes.
Luther wollte zur Reform der Kirche beitragen, doch das Ergebnis seiner Predigt und des Kirchenbannes, dem er und seine Anhänger verfielen, war die Bildung von eigenen Gemeinden, die sich auf ihn beriefen und die sich zu seinem Schrecken „Lutheraner“ nannten, wo er doch nur Christen hatte im Glauben bestärken wollen. In dieser Situation war es unausweichlich, dass Luther sich um die Ordnung dieser Gemeinden bemühte, schon um sie nicht in Anarchie abgleiten zu lassen. Diese Herausforderungen veranlassten ihn nun, das kirchliche Amt stärker zu betonen, als in den Frühschriften der Reformation. Ich zitiere aus der Schrift „Von den Konziliis und Kirchen“ (1539), wo Luther Kennzeichen der wahren und rechten Kirche aufzählt. Hier heißt es nach der Benennung von Wort, Taufe, Abendmahl und Sündenvergebung als Kennzeichen der Kirche: „Zum fünften kennt man die Kirche äußerlich dabei, dass sie Kirchendiener weihet oder beruft oder Ämter hat, die sie bestellen soll; denn man muß Bischöfe, Pfarrer oder Prediger haben, die öffentlich und sonderlich die obgenannten vier Stück oder Heiltum geben, reichen und üben, von wegen und im Namen der Kirchen, viel mehr aber aus Einsetzung Christi ... Er hat gegeben etliche zu Aposteln, Propheten, Evangelisten, Lehrern, Regierern etc…. Es muss einem allein befohlen werden und allein lassen predigen, taufen, absolvieren und Sakrament reichen, die andern alle des zufrieden sein und dreinwilligen. Wo du nun solchs siehest, da sei gewiß, daß da Gottes Volk und das christlich, heilig Volk sei“ 9). Es gehört also nach Luther zur Kirche, dass sie ein Amt hat und dass dieses in der Einsetzung durch Christus gründet.
Das Augsburger Bekenntnis, die wichtigste unter den Bekenntnisschriften der Lutherischen Kirchen, stellt fest: „Vom Kirchenregiment wird gelehrt, dass niemand in der Kirchen öffentlich lehren oder predigen oder Sakrament reichen soll ohne ordentlichen Beruf“ 10). Im lateinischen Text heißt es: „nisi rite vocatus“, wenn er nicht ordentlich dazu berufen und bestellt ist. Und dies geschieht nach weithin übereinstimmender lutherischer Lehre in der Ordination durch Handauflegung und Gebet. Das Amt stammt zu Folge Luther nicht aus der Gemeinde, sondern ist ihr vorgegeben, es kann nicht vom gemeinsamen Priestertum her bestimmt und abgeleitet werden. Amt ist eine Aufgabe in der Kirche, die von diesem unterschieden werden muss.
Es ist also durchaus problematisch, wenn in evangelischen Kirchen unter Berufung auf das gemeinsame Priestertum gefolgert wird, dass darum auch jede und jeder die Vollmacht habe, in der Gemeinde das Wort Gottes zu verkündigen und die Sakramente zu reichen. Dazu ist nach lutherischem Verständnis die Beauftragung durch Ordination gefordert. Wenn sich in lutherischen Kirchen manchmal die Praxis eingeschlichen hat, nicht ordinierte Lehrvikare im Vorgriff auf ihre Ordination mit der Feier des Herrenmahls zu beauftragen, oder wenn bei religiösen Freizeiten die Anwesenden einen aus ihrem Kreis bestimmen, dieser Feier vorzustehen, ist das letztlich nicht mit dem lutherischen Verständnis von der Kirche vereinbar. Als sich in oberdeutschen Städten derartige Praktiken zeigten, hat sich Luther in Schärfe dagegen gewandt. Und als er gefragt wurde, was man tun solle, wenn kein rechter Pfarrer am Ort sei, hat er den betroffenen Gemeinden geraten, lieber zu den Papisten als zu den Schwärmern zu gehen.
Für uns gilt es jedenfalls festzuhalten: Aus der Tatsache des allgemeinen Priestertums hat Luther nicht die Vollmacht hergeleitet, dass jeder und jede Getaufte auch jegliche Aufgaben in der Kirche wahrnehmen dürfte. Öffentliche Verkündigung und Sakramentenverwaltung sind nach seiner Überzeugung an das Amt gebunden. Darum hat Luther auch alles daran gesetzt, dass die Gemeinden ordinierte Pfarrer bekamen. Das stellte ein erhebliches Problem dar, weil sich ihm in der Frühzeit der Reformation noch keine Bischöfe anschlossen, die nach überkommener Ordnung hätten ordinieren können. Luther hat darum in Berufung auf die frühe Kirche ein Notrecht entwickelt, dem zufolge auch Pfarrer und nicht allein Bischöfe die Vollmacht zur Ordination haben. Es haben also Pfarrer zum kirchlichen Amt ordiniert. Denn eine amtsfreie Kirche war für Luther – im Gegensatz zu mancher Kritik, die an ihm geübt wurde – nicht vorstellbar.
In der Bewertung dieser Entscheidungen Luthers konnte das ökumenische Dokument „Das geistliche Amt in der Kirche“ gemeinsam formulieren: „In der Lehre vom gemeinsamen Priestertum aller Getauften und vom Dienstcharakter der Ämter in der Kirche und für die Kirche besteht heute für Lutheraner und Katholiken ein gemeinsamer Ausgangspunkt“ 11). Es gibt in der Gemeinde nicht allein die allen gemeinsame Berufung, der zufolge alle gleich sind. Es gibt aber auch das besondere Amt. Dieses ist ein Dienst in der Kirche und am gemeinsamen Priestertum aller. Aber es vollzieht ihn nicht einfach aus einer Delegation durch die Gemeinde, sondern im Auftrag Christi. Das Amt ist, wie das genannte Dokument mehrfach betont, „nicht bloße Delegation 'von unten', sondern Stiftung (institutio) Jesu Christi“ (Nr. 20).
IV. Das Konzil von Trient
Das Konzil von Trient wollte eine Antwort geben auf die Herausforderungen durch die Reformation, vor allem im Bereich der Lehre von der Kirche. Dabei muss man feststellen, dass dazu die nötigen Vorarbeiten noch nicht geleistet waren, viele Fragen im Bereich des kirchlichen Amtes waren offen und wurden auch innerhalb der katholischen Kirche und ihrer Theologen kontrovers diskutiert. Das führte dazu, dass sich das Konzil eine begrenztere Aufgabe stellte, nämlich die Fragen zu beantworten, die man durch die Reformation als in Zweifel gezogen ansah. Alles, was die Reformatoren nicht in Frage gestellt hatten, wurde bewusst ausgeklammert: nicht weil man es nicht lehren sollte, sondern weil kein Anlass dafür bestand, es konziliar festzuschreiben. So hat das Konzil von Trient, wie die Akten beweisen, über das gemeinsame Priestertum zwar intensiv diskutiert, kam aber zu dem Ergebnis, darüber keinen Entscheid formulieren zu müssen, da es ja von niemandem bezweifelt sei 12).
Doch in der Folgezeit wurde diese Selbstbeschränkung vergessen. Man sah in den Lehraussagen des Konzils von Trient die katholische Glaubensüberzeugung umfassend dargestellt und was Trient nicht gesagt hatte fiel in den Katechismen und in der katholischen Dogmatik weg. In der Konsequenz reduzierte sich die Theologie des Amtes auf die Frage, was der Priester kann und was ihn damit vom Laien unterscheidet. Dieser Unterschied wurde gesehen in der besonderen Vollmacht, die in der Priesterweihe verliehen wird. Das Priestertum wurde nicht mehr als gemeinsam, sondern als Amtsträger und Laien unterscheidend verstanden. Die damit begründete Sonderstellung des Priesters wurde mit teilweise höchst problematischen Formulierungen umschrieben. Der Catechismus Romanus, der die Beschlüsse von Trient für die Gemeinden aufbereiten wollte, schrieb, das Priesteramt sei „ein solches, dass man sich kein höheres ausdenken kann, daher sie mit Recht nicht nur Engel, sondern auch Götter genannt werden, weil sie des unsterblichen Gottes Kraft und Hoheit bei uns vertreten“ 13). Und noch zum Beginn des 20. Jahrhunderts schrieb Papst Pius X.: „Zwischen einem Priester und einem gewöhnlichen rechtschaffenen Menschen soll ein Unterschied sein wie zwischen Himmel und Erde“ 14).
So kam es, dass in der Folge die Lehre vom allgemeinen Priestertum als typisch evangelisch, die vom besonderen Priestertum als typisch katholisch erschien, wobei man auf beiden Seiten geneigt war, sich vom typisch Anderen zu distanzieren und es als das Fremde abzulehnen. So genügte es vielfach in evangelischen Augen, sich vom Katholischen abzusetzen und für Katholiken galt als gut katholisch, was nur anti-protestantisch war. In der Lehre vom gemeinsamen Priestertum führte das dazu, dass man, wie eingangs illustriert, die Aussage des 1. Petrusbriefs an den Rand schob und alle Versuche, sie ernst zu nehmen, diskreditierte.
V. Das II. Vatikanum
Das Zweite Vatikanische Konzil hat sich die Aufgabe gestellt, diese Polarisierung zu überwinden. Es hat die Lehre von der Kirche formuliert und in diesem Rahmen auch ausführlich über das allen Getauften gemeinsame Priestertum gehandelt. So heißt es in der Kirchenkonstitution: „Durch die Wiedergeburt und die Salbung mit dem Heiligen Geist werden die Getauften zu einem geistigen Bau und einem heiligen Priestertum geweiht, damit sie in allen Werken eines christlichen Menschen geistige Opfer darbringen und die Machttaten dessen verkünden, der sie aus der Finsternis in sein wunderbares Licht berufen hat (vgl. 1 Petr 2,4-10). So sollen alle Jünger Christi ausharren im Gebet und gemeinsam Gott loben (vgl. Apg 2,42-47) und sich als lebendige, heilige, Gott wohlgefällige Opfergabe darbringen (vgl. Röm 12,1); überall auf Erden sollen sie für Christus Zeugnis geben und allen, die es fordern, Rechenschaft ablegen von der Hoffnung auf das ewige Leben, die in ihnen ist (vgl. 1 Petr 3,15) ... Die Gläubigen (hingegen) wirken kraft ihres königlichen Priestertums an der eucharistischen Darbringung mit und üben ihr Priestertum aus im Empfang der Sakramente, im Gebet, in der Danksagung, im Zeugnis eines heiligen Lebens, durch Selbstverleugnung und tätige Liebe“ (LG 10). Das gemeinsame Priestertum ist mit dem Christsein identisch.
Das gemeinsame und das besondere Priestertum sind nach der Aussage des Konzils „einander zugeordnet: das eine wie das andere nämlich nimmt je auf besondere Weise am Priestertum Christi teil“ (LG 10). Ausgangspunkt ist das gemeinsame Priestertum. Das besondere ist als Dienst am allgemeinen zu sehen und darum von diesem her zu interpretieren. Ein Dienst definiert sich nun einmal von dem her, dem er zu dienen hat. Das besondere Priestertum ist folglich von dem Auftrag her zu interpretieren, den es für die Realisierung des gemeinsamen Priestertums zu erfüllen hat.
In der Konkretisierung dieser Zuordnung fährt das Konzil an dieser Stelle dann fort, gemeinsames und besonderes Priestertum „unterscheiden sich dem Wesen und nicht bloß dem Grade nach“. Man darf nicht verschweigen, dass sich an dieser Formulierung heute neue klerikalistische Tendenzen festmachen, die wieder einen metaphysisch begründeten Wesensunterschied zwischen Priester und Laien behaupten. Dagegen ist zu sagen, dass das Konzil den Begriff „Wesen“ hier im Sinne der besonderen Aufgabenstellung des Priesters versteht, wie gleich der folgende Satz in der Kirchenkonstitution beweist, wo es heißt, dass es Aufgabe des besonderen Priestertums ist, das Volk Gottes in der Feier der Sakramente zu bilden und es durch das Wort zu leiten. Das ist sein besonderer Auftrag, der ihm spezifisch ist und der sein Wesen prägt.
Der Text „Das geistliche Amt in der Kirche“ gibt eine einleuchtende Interpretation: „Das kirchliche Amt ist nicht aus der Gemeinde ableitbar; es ist auch nicht eine Steigerung des gemeinsamen Priestertums, der Amtsträger ist als solcher nicht in einem höheren Grad Christ. Das Amt liegt vielmehr auf einer anderen Ebene; es hat das Priestertum des Dienstes, das dem gemeinsamen Priestertum dienend zugeordnet ist“ 15). Das Amt in der Kirche, so ist als Aussage des Konzils festzuhalten, ist also nicht eine Steigerung des gemeinsamen Priestertums und des Christseins. Der Priester ist nicht mehr Christ, als jeder Getaufte. Seine Besonderheit besteht in dem Auftrag, den er im Rahmen der Gemeinde und für sie wahrnimmt. Das Wort vom besonderen Priestertum bezeichnet eine Relation, nicht eine Sonderstellung des Amtsträgers. Das Konzil hat jedes Amt als Dienst verstanden und es damit von denen her definiert, denen es zu dienen hat.
VI. Ergebnis
Die Botschaft vom gemeinsamen Priestertum steht nicht im Zentrum der biblischen Botschaft, der Tradition der Kirche oder auch der Aussagen des II. Vatikanums. Es ist in der Schrift verwendet als Metapher als Mahnung zu Heiligkeit und Treue. Sie gilt allen, die an Christus glauben. Der Weg vom Presbyter zum Sacerdos, wie er in Etappen seit der Konstantinischen Wende beschritten wurde, wird heute von den meisten Theologen kritisch betrachtet. Er barg zweifellos die Gefahr, dass außerchristliche Opfer- und Priesterbilder, die sich nicht selten mit magischen Vorstellungen und Praktiken verbanden, in die Kirche einschlichen. Sie führten zu einem Klerikalismus, der das Amt nicht mehr als Dienst an der Kirche und in ihr versteht, sondern die Kirche vom Amt her in den Blick nehmen will.
Die Deutung des Amtes als priesterlich ist berechtigt in dem Sinne, dass in der Kirche als Ganzer das Werk Christi lebendig bleibt. Sein dreifaches Amt als König, Prophet und Priester bestimmt die Kirche als Ganze. Daran haben auch die Anteil, die ein besonderes Amt ausüben. In ökumenischer Verantwortung konnte man formulieren: „Wenn Amtsträger in der katholischen Tradition als Priester bezeichnet werden, dann in dem Sinn, dass sie im Heiligen Geist Anteil erhalten an dem einen Priestertum Jesu Christi und es vergegenwärtigen“ 16). Nach Christus gibt es keinen Priester mehr, er hat das Opfer dargebracht und er ist der Mittler zwischen Gott und den Menschen. Doch dieses einmalige, nicht wiederholbare Priestertum Christi muss in der Kirche gegenwärtig bleiben. In der fortlaufenden Geschichte vergegenwärtigt die Kirche als Ganze sein Wirken, das biblisch - unter vielen anderen Bildern - auch als priesterlich illustriert wird. Das ist kein neues Priestertum, sondern die reale Gegenwärtigsetzung dessen, was Christus ein für allemal getan hat. Die Kirche als Ganze ist priesterlich: Ort und Werkzeug der Verbindung von Gott und den Menschen. Daran haben auch und in besonderer Weise jene teil, die in der Kirche eine besondere Aufgabe übernommen haben. Ihr Priestertum besteht darin, dass sie vergegenwärtigen und sichtbar machen, was Christus ein für allemal getan hat. Das Konzil von Trient hat dies als Gegenwärtigsetzung, als representatio, des Priestertums Christi bezeichnet.
Nach den Aussagen des Zweiten Vatikanums haben die Laien teil am dreifachen Amt Christi, also auch an seinem priesterlichen Amt (LG 31). Doch auch in diesem Zusammenhang gilt es, den Begriff Priestertum nicht überzustrapazieren. Es wäre nicht richtig, aus der Tatsache des gemeinsamen Priestertums zu folgern, dass auch alle Aufgaben, die sich im Laufe der Geschichte mit dem Amt verbunden haben, einem jeden Christen zugesprochen sind. Genau gegen dieses Missverständnis hat sich Luther gewandt und es sollte in ökumenischer Verantwortung kritisiert werden, wo immer es sich heute zeigt. Es ist gemeinsame Überzeugung der christlichen Kirchen, dass die Beauftragung zu Gemeindeleitung und damit zu Wortverkündigung und Sakramentenverwaltung durch Ordination verliehen wird, nicht durch Delegation. Zur christlichen Gemeinde gehört das Amt, es ist für Kirche konstitutiv. Karl Rahner hat von einer Grundamtlichkeit der Kirche gesprochen, die mit ihrem Wesen gegeben ist und die amtliche Dimensionen überall dort freisetzt, wo sich Kirche ereignet. Doch Handlungsmöglichkeiten in extremen Ausnahmesituationen können nicht Maßstab sein für die gängige Praxis.
Wie dieses Amt in der Kirche sich konkret gestaltet, dafür gibt es in der Geschichte durchaus unterschiedliche Modelle, längst nicht alle sind in der Gegenwart realisiert. Hier hat die Kirche offensichtlich weiten Gestaltungsspielraum. Eines aber darf sie wohl nicht: Bedingungen für das Amt aufzustellen, die dazu führen, dass christliche Gemeinden keine Amtsträger mehr haben. Seit der Reformation hat man den Protestanten – weithin zu Unrecht - vorgeworfen, dass sie Kirche ohne Amt realisieren wollten und so die Sakramente tendenziell preisgegeben hätten. Noch das II. Vatikanum sprach von einem defectus ordinis, einem Mangel im Weihesakrament oder gar dessen Fehlen (Ökumenismusdekret Nr. 22). Manchmal habe ich den Eindruck, der Vorwurf eines defectus ordinis müsste heute vor allem der katholischen Kirche gemacht werden. Einer solchen Entwicklung sollten die Verantwortlichen tunlichst wehren.
Anmerkungen:
1) Wetzer und Welte, Kirchenlexicon Bd. 3, Sp 546.
2) Im ganzen Abschnitt beziehe ich mich auf W. Kirchschläger, Gemeinsames Priestertum aller Getauften, Vortrag vor dem Verein Tagsatzung im Bistum Basel vom 23. Januar 2010, veröffentlicht in Internet.
3) J. Gnilka, Die frühen Christen, Freiburg-Basel-Wien 1999, S. 281.
4) Vgl. hierzu auch P. Neuner, Der Laie und das Gottesvolk, Frankfurt 1988.
5) Texte zur Theologie, Bd. Ekklesiologie, Nr 43.
6) Texte zur Theologie, Bd. Sakramentenlehre Nr. 71.
7) G. Greshake in: TRE Bd. 27, S. 423.
8) Luthers Werke, Münchener Ausgabe Bd I S.88.
9) Münchner Ausgabe, Ergänzungsreihe Bd. 7, S. 117.
10) Augsburger Bekenntnis Nr. XIV.
11) Gemeinsame römisch-katholische / evangelisch-lutherische Kommission, Das geistliche Amt in der Kirche, Paderborn-Frankfurt 1981, Nr.15
12) Siehe hierzu E. Schillebeeckx, Das kirchliche Amt, Düsseldorf 1981, S. 105
13) Römischer Katechismus nach dem Beschlusse des Konzils von Trient Nr. II, 7,2.
14) Zitiert nach G. Greshake, in TRE a.a.O. S. 427.
15) A.a.O., S. 21, Anm. 23.
16) Das geistliche Amt in der Kirche, Nr. 21.
Zur Person:
Peter Neuner wurde 1941 in München geboren, schloss seine Grundschulen 1960 mit dem Abitur ab. Danach begann er mit dem Studium der Philosophie und Theologie in München und Freising.
1966 wurde er zum Priester geweiht. Von 1966 bis 1968 war er Kaplan in Traunstein.
Sein Promotionsstudium absolvierte er von 1972 bis 1980 als Assistent am Institut für Ökumenische Theologie, an der Ludwig-Maximilian Universität München (LMU).
1976 promovierte er zum Dr. theol. und 1978 erfolgte seine Habilitation zum Dr. theol. habil.
Ab 1980 war er Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Passau. 1985 wurde er Professor für Dogmatik an der Ludwig-Maximilian Universität München. Ab Oktober 2000 - 2006 war er Professor für Dogmatik und Ökumenische Theologie an der Ludwig-Maximilian Universität München.
2000-2006 Direktor des Ökumenischen Forschungsinstituts, Kath.-Theol. Fakultät, Universität München
Sprecher des Vorstands des Zentrums für Ökumenische Forschung an der LMU
1989-1991; 1997-1999 Dekan der Kath.-Theol. Fakultät, Universität München
1998-2002 Leiter der Arbeitsgemeinschaft der Dogmatiker und Fundamentaltheologen des deutschen Sprachraums
2002-2005 Vorsitzender des Katholisch-Theologischen Fakultätentages
Im April 2006 erfolgte seine Pensionierung.
Gremien und Kommissionen:
Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste
Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Katholischen Akademie in Bayern
Mitglied des Deutschen Ökumenischen Studienausschusses, seit 2000 Vorsitzender
Mitglied des China-Zentrums, Sankt Augustin bei Bonn
Beteiligter Hochschullehrer am Graduiertenkolleg der Hochschule für Philosophie München