Die Mitbestimmung der Gläubigen

 

Erwin Koller, Präsident der Herbert-Haag-Stifung für Freiheit in der Kirche hat nachstehenden Beitrag geschrieben, der in der Zeitschrift Journal21 am 7. Februar 2014 erschienen ist.

Kirche verträgt sich nicht mit Demokratie – wirklich? Die besten Traditionen seit frühester Christenheit geben eine andere Auskunft.

Muckst das katholische Kirchenvolk irgendwo auf dem Erdkreis auf und wehrt sich gegen obrigkeitliche Zumutungen, reagieren Bischöfe und Kardinäle mit der ewiggleichen Behauptung: Kirche verträgt sich nicht mit Demokratie. Bei einem genaueren Blick auf Theologie und Geschichte der Kirche erweist sich eine solche Behauptung im wörtlichen Sinn als häretisch, weil sie aus der grossen Tradition nur das herausnimmt, was ihr behagt.

Kein Bischof darf aufgezwungen werden

Was machten die Apostel, als in Jerusalem die Zahl der Jünger kräftig zunahm und ihnen die Besorgung von Mahlzeiten und anderen Diensten über den Kopf wuchs? Sie hiessen ihre Anhänger, geeignete Männer zu suchen und zu wählen und legten ihnen dann die Hände auf (Apg 6). Und zumindest von einem der sieben, Stephanus, wissen wir, dass sich dieser demokratische Vorgang gar nicht so schlecht bewährt hat.

Was machten die Mailänder, als sie im 4. Jahrhundert mitten in einer kirchlichen Zerreissprobe über die Frage, wer Jesus war, einen tüchtigen Bischof brauchten? Sie wählten den Gouverneur der Stadt, den noch nicht einmal getauften Ambrosius. Ohne diese demokratische Wahl wäre die westliche Kirche um einen ihrer vier grossen Kirchenlehrer ärmer. Freilich konnten sich die Mailänder Christen auf den Kirchenvater Cyprian von Karthago stützen, der schon im 3. Jahrhundert für kirchliche Entscheidungen postulierte: „Nichts ohne den Bischof – nichts ohne den Rat des Presbyteriums – nichts ohne die Zustimmung des Volkes“.

Mitwirkung aller Betroffenen

Wie reagierten die Päpste auf solche Formen der Mitbestimmung? Coelestin I. vertrat im 5. Jahrhundert das Prinzip: „Kein Bischof darf aufgezwungen werden.“ Leo der Grosse legte wenig später fest: „Wer allen vorstehen soll, muss auch von allen gewählt werden.“ Etwa ein Jahrtausend lang war die Wahl der Amtsträger durch Klerus und Volk unbestritten. Noch im 13. Jahrhundert erklärte Innozenz III. das uralte Rechtsprinzip auch für die Kirche für verbindlich: „Quod omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari debet. – Was alle betrifft, muss von allen beraten und verabschiedet werden.“
Und wie funktionierten Synoden und Konzilien? Bischöfe debattierten, stritten, rangen um die rechte Lehre, stimmten ab und fassten verbindliche Beschlüsse. Dass Kaiser und Päpste intrigierten und oft trickreich Einfluss ausübten, kann dem Prinzip nichts antun, dass hier Verantwortung demokratisch-synodal wahrgenommen wird.

Und schliesslich: Wie wurden Päpste ernannt? Machenschaften gab es auch da zuhauf, doch das Ideal einer demokratisch korrekten Wahl durch das Konklave – das einzige nicht-monastische Wahlverfahren in der Kirche – war nie bestritten.

Die Gläubigen im kirchlichen Verfassungsrecht

Nimmt man Bischofsräte, Seelsorgeräte und Pfarreiräte hinzu, ist unbestreitbar, dass demokratische Mechanismen und Gebräuche in der Geschichte der katholischen Kirche einen ehrenwerten Status haben. Selbst das Kirchenrecht von 1983 hält in Kanon 208 unmissverständlich fest: „Unter allen Gläubigen besteht, und zwar aufgrund ihrer Wiedergeburt in Christus, eine wahre Gleichheit in ihrer Würde und Tätigkeit, kraft der alle je nach ihrer eigenen Stellung und Aufgabe am Aufbau des Leibes Christi mitwirken.“ Die Gläubigen haben die Kleriker als Hauptpersonen in der Verfassung der Kirche abgelöst und den zentralen Platz eingenommen. Hauptdarsteller auf der Bühne des kirchlichen Verfassungsrechts sind nicht mehr wie im Kirchenrecht von 1917 die Kleriker, sondern die Gläubigen (2). Deren Glaubenssinn (sensus fidelium) ist ein wichtiges Kriterium für die hierarchische Führung der Kirche.

Natürlich haben sich daneben vor allem seit dem Hochmittelalter hierarchische, absolutistische, gelegentlich leider sogar totalitäre Strukturen immer mehr breit gemacht und in den Papst-Dogmen des 1. Vatikanischen Konzil (1869–70) ihren Gipfel erreicht. Doch sie gelten zu Unrecht als das Mass aller Dinge. Das bezeugt das 2. Vatikanische Konzil (1962–65) in der Kirchenkonstitution. Das grosse Kapitel über die Kirche als Volk Gottes steht bewusst vor dem Kapitel über die hierarchische Verfassung der Kirche, das war eine hart erkämpfte Wende und Neuausrichtung im Selbstverständnis der Kirche.

Wider die Verächter der Demokratie in der Kirche

Die Verächter der Demokratie verfolgten seit je ihre bekannten Strategien, so auch in der Kirche. Die erste besteht in der Abwertung der Parlamente als Schwatzbuden und der Volksabstimmungen als gefügige Instrumente in der Hand von Demagogen. Doch vor Missbrauch ist kirchliche Hierarchie so wenig gefeit wie die Herrschaft des Volkes. Ausserdem wissen gute Demokraten, dass nicht alles dem Mehrheitsentscheid zu opfern ist. Es gibt unumstössliche Prinzipien des menschlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens, die nicht hintergehbar sind, etwa elementare Menschenrechte, das Tötungsverbot, der Persönlichkeitsschutz, die Gewissensfreiheit, die Gleichheit aller vor dem Gesetz. Sie werden in Demokratien oft durch die Vorschrift qualifizierter Mehrheitsbeschlüsse geschützt, in der Schweiz durch das Ständemehr bei Verfassungsabstimmungen und durch die Verpflichtung der Gerichte auf die Europäische Menschenrechtskonvention.

Erneuerung zum Wohl der Kirchen

Auf das Selbstverständnis der Kirche übertragen heisst das: Die biblische Offenbarung als Quelle und Norm christlicher Existenz kann nicht zur Debatte stehen. Doch nicht alles in der Kirche hat diesen irreversiblen Status. Fast jeder Neutestamentler lehrt inzwischen, dass Jesus das Reich Gottes verkündete, nicht aber eine Kirche gründete. Konsequent zu Ende gedacht bedeutet dies: Die Kirche hat einen göttlichen Auftrag und insofern eine nicht zur Disposition stehende Verfassung. Doch die Kirche selber oder besser: die Kirchen sind Kinder verschiedener Epochen und Kulturen und darum auch veränderbar. Warum also sollten Herausforderungen der Zeit an eine kirchliche Struktur nicht mit der soliden Erfahrung eines demokratischen Prozesses, der stetige Reflexion und Argumentation verlangt, bewältigt werden?

Ähnlich hat sich ja auch sonst eine demokratische Kultur in der gesellschaftlichen Organisation des Zusammenlebens und der Macht zu bewähren. Davon kann die Kirche nur profitieren. Zumindest beweisen uns die derzeit vorherrschenden absolutistischen und oft erstarrten Strukturen nicht die bessere Einsicht oder gar die Unfehlbarkeit eines auserwählten (eben klerikalen) autokratischen Personals. Noch zugespitzter formuliert es der Jesuit Michel de Certeau, bekanntlich ein Lieblingsautor von Papst Franziskus: „Gott gab es vor der Kirche, und er scheint sie zu überleben.“ 2)

Das unschlagbare Vorbild der frühen Zisterzienser

Die zweite Strategie gerade frommer Gegner einer Mitbestimmung des Gottesvolkes in Belangen menschlichen Ermessens in der Kirche besteht darin, dass man diese als eine Konzession an den modernen Zeitgeist abwertet. Echte Religiosität würde das doch ganz gewiss nicht brauchen. Auch dieses Argument beruht auf einem Irrtum und kann vor der Geschichte nicht bestehen. Sonst hätte sich die Regel des heiligen Benedikt nicht bis heute bewährt: Der Abt wird von den Mitbrüdern gewählt. „Entscheidend für die Wahl und Einsetzung seien Bewährung im Leben und Weisheit in der Lehre, mag einer in der Rangordnung der Gemeinschaft auch der Letzte sein“ (Kap. 64).

Es ist denkwürdig, dass sich demokratische Elemente am ehesten in den katholischen Orden erhalten haben. Ein unschlagbares Beispiel dafür sind die frühen Zisterzienser, wie der spanische Publizist und Schriftsteller Jose Jimenez Lozano in einer interessanten Studie nachweist (3). Bernhard von Clairvaux fühlt sich unwohl inmitten des monastischen Reichtums und der feudalen Machtstruktur des satt und träge gewordenen Benediktinerordens. Seine Anstrengungen gelten darum nicht nur der Vereinfachung mönchischer Lebensformen und Klostergebäude, er zielt auch auf möglichst wenig Machtausübung bei der Organisation des Lebens.

Klöster als Vorbild für die ‚Magna Charta‘

Im Jahr 1115, noch zu seinen Lebzeiten und genau hundert Jahre bevor die Fürsten von England den König auf die Grundrechte der ‚Magna Charta‘ verpflichten konnten, treten die Zisterzienser zur ersten internationalen Versammlung zusammen: zum ‚Parliamentum‘, das Normen erlässt, ändert und aufhebt, einen Generalabt wählt und seine Macht kontrolliert. Doch auch dieses Parliamentum oder Generalkapitel hat keine absolute Macht: Die einzelnen Mönchsgemeinschaften können sich ihm widersetzen, wenn sie den Sinn ihrer Opposition zu begründen vermögen. Die individuelle und kollektive Weigerung aus Gewissensgründen wird zugelassen, und so gestaltet sich die monastische Regierungsform nach drei demokratischen Prinzipien:

Allgemeines Wahlrecht und verbindlicher Mehrheitsbeschluss,

Beteiligung an der Regelung der Angelegenheiten durch Diskussion und Abstimmung,

Delegation von Leitungsgewalt, die später noch um den ‚Recall‘ erweitert wird: Die Amtszeit eines Gewählten, dessen repräsentative Amtsführung als nicht korrekt gilt, kann um die Hälfte verkürzt werden.

Das Ringen um politische Freiheit

Hinter zisterziensischen Klostermauern wurde schon sehr früh um politische Freiheit im Abendland gerungen. Ihre Kapitelsäle erlebten Stunden intensivster Wahlleidenschaft und wurden Zeugen ernsthaften Bemühens um freie Stimmabgabe und saubere Wahlprüfung. In der Praxis des britischen Parlaments findet sich einiges von den zisterziensischen Verfahrensweisen, so etwa das „pedibus ire in sententiam“, bei dem man abstimmt, indem man den Sitzungssaal verlässt.

Noch längst nicht alle Demokratien bringen sämtliche damals geübten Techniken einer gesicherten, freien Stimmabgabe zur Anwendung: die nur dem Gewissen verpflichtete, von Pressionen freie Abstimmung; die Vorschrift, dass sich niemand offen oder verdeckt selbst zur Wahl aufstellen darf; den Kompromiss angesichts des unentschiedenen Ausgangs einer Wahl, weil er dem Frieden mehr dient; das Verbot einer Wahlpropaganda, welche die Vorzüge eines Kandidaten gegenüber dem anderen herausstreicht; und keine Wahl, von der man annehmen muss, dass sie vollzogen wird, um einem Mächtigen zu schmeicheln. (4)

So könnte also die Kirche auch stolz sein, dass sie einmal Lehrmeisterin der Demokratie war, statt sie zu verachten. Es ist höchste Zeit, dass sich die katholische Kirche dieser Tradition zu erinnert und im 21. Jahrhundert darauf aufbaut.
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Anmerkungen:


1) Vgl. H. Müller: Zur Rechtsstellung der Laien in der römisch-katholischen Kirche, in: ZevKR 32 (1987), 467 – 479, 473, zitiert nach Sabine Demel: Laien in der Kirche. Vortrag bei der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz am 30.11.2007.


2) Siehe Iso Baumer: Auf den Spuren von Michel de Certeau. Eine für Papst Franziskus prägende Gestalt. Stimmen der Zeit 2/2014, 86 – 96, hier 90.


3) Jose Jimenez Lozano: Die andere Kargheit: das Ideal der Zisterzienser, in: Kastilien. Eine spirituelle Reise durch das Herz Spaniens. Freiburg/CH, Stuttgart 2005, 81 – 91.


4) Vgl. Lozano a.a.O. 80f.

Der Beitrag ist am 7. Februar 2014 im Journal 21 in der Schweiz erschienen