Gehorsam und andere Verbrechen

 

04.07.2012, Kurt Remele

Der Grazer Ethikprofessor Kurt Remele hat am 2. Juli 2012 in der Tageszeitung DER STANDARD einen Kommentar zm Gehorsam verfasst. Darin zeigt er die Gefährlichkeit eines undifferenzierten schlichten Gehorsams auf. Hier der Text:

Für katholische Bischöfe ist der Begriff des "Ungehorsams" ein Reizwort: Wer ungehorsam ist, handle falsch, unverantwortlich und zerstörerisch - Für eine philosophische und theologische Ethik ist eine solche Gleichsetzung jedoch höchst problematisch.

Ich bin vor kurzem aus den USA zurückgekommen. Eine der letzten Zeitungsmeldungen, die ich dort gelesen hatte, betraf den Strafprozess gegen Monsignore William J. Lynn. Lynn war ein enger Berater und Mitarbeiter des im Jänner 2012 verstorbenen Kardinals von Philadelphia, Anthony Bevilacqua. Lynn ist nicht einer jener über 6000 katholischen Priester, die in den USA in den letzten sechzig Jahren sexueller Gewalttaten gegenüber Kindern und Jugendlichen beschuldigt wurden, sondern der erste katholische Geistliche, der vor Gericht stand, weil er seine Verantwortung als kirchlicher Vorgesetzter hinsichtlich priesterlicher Sexualdelikte nicht wahrgenommen hatte. Im Jahre 1994 hatte Lynn eine Liste von 35 in der Erzdiözese Philadelphia tätigen Priestern verfasst, die bereits gerichtlich verurteilt worden waren oder zumindest beschuldigt wurden, Kindern und Jugendlichen sexuelle Gewalt zugefügt zu haben. Er legte Bevilacqua diese Liste vor. Doch auf Geheiß des Kardinals ließ er die Liste verschwinden, und die geistlichen Kinderschänder behielten ihre Stellen.

Ende Juni dieses Jahres wurde der 61-jährige Lynn von einem zwölfköpfigen Geschworenengericht schuldiggesprochen, durch sein Verhalten Kinder gefährdet zu haben. Unmittelbar nach dem Urteil legte Lynn seinen Priesterkragen ab und ließ sich von Polizeibeamten in eine Gefängniszelle führen. Ihm droht eine Haftstrafe von dreieinhalb bis sieben Jahren.

Im Gerichtsprozess rechtfertigte sich Monsignore Lynn damit, dass er nur ein willfähriger Untergebener seines kirchlichen Vorgesetzten gewesen sei. Er sagte aus, dass er davon überzeugt gewesen sei, die Anordnungen des Kardinals würden Ausdruck des Willens Gottes sein, dem gehorsam Folge zu leisten sei.

In Spokane im Nordwesten der USA habe ich mich als Gastprofessor an der von Jesuiten geleiteten Gonzaga University ein Jahr lang bemüht, Studierenden die Grundlagen der christlichen Moral zu vermitteln. Ich habe ihnen erklärt, dass es zahlreiche ethische Fragen gibt, die eine reflektierte Güter- und Wertabwägung erfordern, um zu angemessenen sittlichen Urteilen zu gelangen.

Wer Gehorsam als ausschließlich oder vorrangig positiv bewertet, bei Ungehorsam aber nichts als Wut und Ekel verspürt, verkennt die moralische Komplexität der Gehorsamsproblematik und unterbietet das Reflexionsniveau einer zeitgemäßen theologischen Ethik. Sowohl Monsignore Lynns Fall als auch die Erkenntnisse der Sozialpsychologie zeigen eindeutig auf, dass Gehorsam gegenüber dem Befehl einer übergeordneten Autorität nicht nur eine schwere Sünde im theologischen Sinn, sondern auch ein Verbrechen im straf- und menschenrechtlichen Sinn sein kann. Aus ethischer Perspektive sind die Begriffe des Gehorsams und des Ungehorsams instrumental und sittlich neutral. Gehorsam ohne jede weitere Präzisierung ist nicht besser als Ungehorsam. Ungehorsam ist von vornherein nicht schlechter als Gehorsam; in manchen Fällen ist er ein Recht und sogar eine Pflicht.

Reformen sind möglich

Wir wissen heute, dass die klerikale Gehorsamsstruktur und "eine gesellschaftliche Tendenz, den Klerus und andere Autoritäten zu begünstigen" (Papst Benedikt XVI.), Hauptursachen für den sogenannten " Missbrauchsskandal" in der katholischen Kirche darstellen. "Die klerikale Kultur", stellt der ehemalige Benediktinermönch und Psychotherapeut Richard Sipe fest, der 250 Prozesse gegen Kleriker als Sachverständiger begleitet hat, "basiert auf Geheimhaltung ... Die Identifikation mit dem Machtsystem entlastet die Individuen von persönlicher Verantwortung für die Folgen ihrer individuellen Handlungen."

Trotzdem hat Sipe die katholische Kirche nicht abgeschrieben. "Worauf setze ich meine Hoffnung für die Kirche und für uns alle, die wir uns über den Schutz unserer Kinder Sorgen machen?", fragt er sich. Seine Antwort lautet: "Auf Reform. Institutionelle und persönliche Reformen sind möglich."

Die österreichische Pfarrerinitiative, die übrigens auch in US-amerikanischen Medien wiederholt Erwähnung fand, fordert kirchliche Reformen, die heute sogar von manchen Bischöfen für wünschenswert oder zumindest möglich gehalten werden. Als Vincent Nichols kurz nach seinem Amtsantritt 2009 als katholischer Erzbischof von London-Westminster gefragt wurde, ob es in der römisch-katholischen Kirche nicht ebenso wie in ihrer anglikanischen Schwesterkirche über kurz oder lang Priesterinnen und Bischöfinnen geben werde und ob es eines Tages zur Segnung homosexueller Partnerschaften kommen könnte, antwortete Nichols: "Das weiß ich nicht. Wer weiß, was die Zukunft bringen wird?"

Mit einer solch laxen Einstellung könnte der katholische Erzbischof von London in Österreich derzeit nicht einmal Dechant von Gänserndorf werden. (Kurt Remele, DER STANDARD, 3.7.2012)

Zum Autor

Kurt Remele ist am 1956 in Bruck an der Mur geboren, verheiratet und Vater dreier Kinder. Er lehrt Ethik und christliche Gesellschaftslehre an der Uni Graz.

Er studierte in Graz, an der Ruhr Universität in Bochum und in den USA an der High School in Ogden, Utha. Remele promovierte in Theologie 1989 an der Karl-Franzens-Universität in Graz und habilitierte sich 2001. Seit diesem Jahr ist er auch als Professor für Ethik und Soziallehre an der Karl-Franzens-Universität in Graz.