Salzburger Nachrichten v. 09.12.2014
Bis zu seinem 49. Lebensjahr glaubte Pierre Stutz, er könne seine sexuelle Orientierung aus seinem Leben ausklammern. "Aber das war zum Glück nicht möglich", sagt der ehemalige Priester.
Der Schweizer Pierre Stutz ist Mystiker, geistlicher Begleiter und Buchautor. In den SN erzählt er seinen Lebensweg in der Kirche.
SN: Es gab in Ihrem Leben viele Brüche und Aufbrüche. Was hat Ihnen immer wieder Kraft gegeben, neu anzufangen?
Stutz: Es sind zwei Spuren. Das eine ist die Sinnsuche, die Gottsuche. Da bin ich immer wieder Anfänger, das kann ich nie in der Hand haben. Ich entdecke etwas, ich komme an, aber nicht, um mich zur Ruhe zu setzen.
Das Zweite ist ein Leidensdruck, der mich in massive Grenzerfahrungen gebracht hat.
SN: Zunächst haben Sie den Sinn im Priesterberuf gesucht.
Im Alter von 15 Jahren haben meine Eltern mich gezwungen, in ein katholisches Internat zu gehen, weil ich in Französisch eine Niete war. Ich kam zu den christlichen Schulbrüdern nach Neuchâtel. Ich sehe noch den ersten Tag vor mir: 180 männliche Jugendliche, die alle Französisch hassen. Das blanke Entsetzen.
Ein Schlüsselerlebnis war dann, dass ein Ordensmann sagte, wir würden im Religionsunterricht aktuelle Filme anschauen. Wir suchen den Bezug zum eigenen Leben und zum Lebensbruder aus Nazareth. Das war für mich die absolute Erleuchtung. Da habe ich Religion als Befreiung erfahren - und bin zum Entsetzen meiner Eltern in den Orden eingetreten.
SN: War das die Befreiung vom Elternhaus?
Ja, und von einem engen Katholisch-Sein. Wir waren in dem Orden vier junge Brüder, und wir haben gemeint, wir könnten nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil die ganze Kirche verändern. Aber binnen zwei Jahren sind die anderen drei ausgetreten. Ich blieb allein als Jüngerer zurück. Ich habe also mit 24 meine geistige Heimat verloren und bin nach Luzern gegangen, um Theologie zu studieren. Ich wurde Jugendseelsorger und bin aufgeblüht. Mich hat dieser Lebensbruder aus Nazareth überzeugt. Sein Verwurzelt-Sein in Gott führt in die Menschenfreundlichkeit, und in den Widerstand. Seither will ich dieser Spur folgen. Das war ein Teil davon, dass ich Priester wurde.
SN: Und der andere Teil?
Das war - aber das kann ich jetzt erst im Nachhinein sagen - meine Flucht vor der Annahme meiner sexuellen Orientierung. Mit 15, in diesem Knabeninternat, hatte ich gespürt, ich bin schwul. Aber das konnte ich nicht sagen, das war für mich sofort alles nur verboten.
SN: Sind Sie vor Ihrer Homosexualität in den Zölibat geflüchtet, in die völlige Absage an jede sexuelle Beziehung?
Ein Teil war dieser Verdrängungsmechanismus: Wenn ich Priester werde und den Zölibat lebe - und das habe ich getan -, dann ist meine sexuelle Orientierung für mich kein Thema mehr. Ich war damit auch die Frage los, warum ich keine Freundin habe. Ich bin also mit bestem Wissen und Gewissen Priester geworden. Aber das geht nicht zusammen. Ich habe meine Homosexualität nicht auf Dauer leugnen können. Auch nicht durch ein zölibatäres Leben. Das habe ich zum Glück nicht geschafft.
SN: 1991, mit 38 Jahren, haben Sie dann das offene Kloster gegründet, mit Männern und Frauen, mit Familien. Wann war der Punkt, wo Sie sagten, ich habe es zum Glück nicht geschafft?
Ich bin in meiner Not der Mystik begegnet, konkret einem Wort von Johannes Tauler (ein Mystiker des 14. Jh., Anm.): Es steht jetzt an, dass du deinem Leben auf den Grund gehst. Dass du deiner Angst vor Liebesentzug auf den Grund gehst. Dass du deiner Flucht vor dir selbst auf den Grund gehst. Das war für mich eine Offenbarung. Zum ersten Mal war mir ganz klar: Ich muss mich meiner sexuellen Orientierung stellen. Ich habe zwei Jahre Therapie gemacht und zehn Jahre in dem offenen Kloster mitgelebt in dem Bewusstsein: Ich bin schwul, ich entscheide mich aber weiterhin für ein zölibatäres Leben. Die Gemeinschaft hat mich erfüllt. Aber heimlich war immer der Wunsch da, in einer Partnerschaft zu leben.
Auch meine Bücher fanden großen Anklang. Aber je erfolgreicher ich wurde, desto depressiver wurde ich. Das hat niemand verstanden. Alle haben gesagt: Du hast doch alle deine Träume gelebt! - Und ich war nicht fähig zu sagen, ich bin homosexuell. Ich wollte ein guter Christ sein. Homosexualität war Sünde.
SN: Mit 49 haben Sie sich für ein Coming-out entschieden. Was war der Anstoß?
Ein Gedanke der Mystik: Bleib nicht in der Opferrolle stecken, lerne, zu dir zu stehen. Ich brauchte diesen Rückhalt aus der Mystik. Aber ich brauchte auch wieder diesen Leidensdruck. Ich bin nur gebückt herumgeschlichen - und habe in meinen Büchern geschrieben: Geh aufrecht! Diese Spannung war nicht auszuhalten. Meine einzige Rettung war das Schreiben. Ich habe im Jahr 2002 das Buch geschrieben "Verwundet bin ich und aufgehoben", das eines meiner Schlüsselbücher geworden ist. Ich habe es nur in der Nacht geschrieben, nur aus Verzweiflung. Ich wollte ein letztes Mal erreichen, dass dieser Kelch - das Coming-out - an mir vorübergehen möge. Aber dann ist kurz vor dem Erscheinen das Gegenteil passiert. Ich habe meinem Team mitgeteilt, dass ich homosexuell bin, und dem großen Freundeskreis des Klosters einen Brief geschrieben, warum ich weggehe. Dieser Brief an 800 Menschen wurde auf der letzten Seite des Buches abgedruckt.
SN: Wer bis 49 einen solchen Weg geht, möchte vielleicht mit der Kirche nichts mehr zu tun haben. Was klingt heute bei Ihnen mit Kirche an?
Ich war nahe dran, auszutreten. Aber von der Mystik her sage ich für mich selbst: auftreten, nicht austreten. Das gehört zu meiner widerständigen Ader. Ich bin nicht bereit, das Moralin-Katholische zu akzeptieren, ich will aufzeigen, wie man anders katholisch sein kann, sehr spirituell und homosexuell.
SN: Sie tun das ohne Aggression?
Ich habe seit dem Coming-out - Sie sind einer der Ersten, mit denen ich rede - bewusst keine Interviews gegeben, weil ich nicht auf die Frage der Homosexualität reduziert werden wollte. Inspiriert von der Mystik habe ich erkannt: Wenn die Eltern, der Bischof mir den Segen nicht geben, ist die Gefahr groß, bitter zu werden, wenn ich ein Leben lang darauf warte.
SN: Sanktionen in kirchlichen Häusern, in denen Sie Kurse halten, gab es nicht?
Mir war klar, dass ich mein Priesteramt niederlegen und ganz neu anfangen musste. Ich hatte auch Angst vor einem massiven Bruch, dass ich in der Kirche keine Plattform mehr haben würde. Aber dieser Bruch hat nicht stattgefunden. Mit einer einzigen Ausnahme: Kardinal Joachim Meisner verfügte, dass ich in der Erzdiözese Köln keine Kurse mehr halten durfte.
SN: Hat sich, mit Ausnahmen, in der Kirche etwas getan zur Homosexualität?
Ich bin mehrheitlich in kirchlichen Institutionen tätig und bin akzeptiert. Ich habe 2003, ein Jahr nach meinem Coming-out, meinen Lebenspartner kennengelernt. Seither sind wir zusammen. Das ist das Einzige, was ich offiziell sage. Alles andere ist meine Privatsphäre. Ich kämpfe nicht militant. Daher war es für die Institution Kirche wohl einfach, mir eine Plattform zu geben. Aber dazu kommt, dass sich in den Pfarreien sehr viel getan hat. Ich kenne Frauenpaare, ich kenne Männerpaare, die in Pfarrgemeinderäten tätig sind. Da passiert ein Wandel. Das ist ein Lichtblick.
Aber in der Lehre ist die Haltung der Kirche gegenüber Homosexuellen noch immer unglaublich verletzend. Die Kirche sagt einerseits, ihr sei die Treue wichtig. Dann komme ich und sage, ich will in Treue mit meinem Partner leben - und dann sagt mir die Kirche glatt ins Gesicht, das sei nicht gottgewollt. Da könnte ich nur noch schreien. Das ist einer der Gründe, warum so viele homosexuelle Menschen von der Kirche schwer verletzt sind und mir sagen, das sei schizophren, was ich täte.
SN: Kardinal Christoph Schönborn würde Ihnen sagen, dass er Sie als Mensch sehr schätzt, aber Ihrer Partnerschaft nicht zustimmen könne.
Ich bin überzeugt, dass die Kirche in der Frage der Homosexualität irrt. So wie sie irrt in der Frage der wiederverheirateten Geschiedenen, und wie sie irrt darin, dass Frauen nicht Priesterin werden können. Aber ich trete nicht aus, ich kämpfe für eine andere Kirche. Die ist wohl weit weg. Aber es gab 1989 den Mauerfall ...
SN: Wer gibt den Segen, wenn er von den Eltern, vom Bischof nicht kommt?
Gott hat mich so wunderbar homosexuell geschaffen. Ich wollte das nicht, es war nicht meine Idee. Heute kämpfe ich für die gleichgeschlechtliche Liebe, weil ich zutiefst überzeugt bin, dass sie gesegnet ist. Sonst könnte ich es nicht machen, ich als Gottsucher.
Gott sei Dank lernte ich immer wieder Menschen kennen wie den Benediktiner, der mich therapeutisch begleitet hat. Oder die Klostergemeinschaft von Münster-Schwarzach, die nach meinem Coming-out gesagt hat: Erst recht sollst du zu uns kommen und Kurse leiten. Aber ich muss damit leben - das bleibt eine große Wunde -, dass die Leitung meiner Kirche, die für mich auch Heimat ist, noch immer nicht weiter ist, als dass sie sagt, man müsse Homosexuellen mit Mitleid und Respekt begegnen. Das ist für mich sehr verletzend.
Aber ich nehme mir die Freiheit des Christenmenschen. Mystikerinnen und Mystiker - denken Sie an Teresa von Ávila - haben dieses Freiheitselement in die Kirche gebracht.