Kirche als Versöhnungsgemeinschaft

 

30.07.2011, Eberhard Schockenhoff

Für die Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zum Kommunionempfang

In der Herder Korrespondenz, Nummer 62 vom August 2011, auf den Seiten 389-394, stelltEberhard Schockenhoff das Problem der wiederverheirateten Geschiedenen im gegenwärtigen kirchlichen Leben dar. Es stellt einen pastoralen Notstand vor, dessen Ausmaß zu selten wahrgenommen wird. In der Frage einer möglichen Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zu den Sakramenten bündeln sich dabei Fragestellungen mehrerer theologischer Disziplinen. Die Einladung zur vollen Teilnahme am eucharistischen Mahl wäre auch für die Kirche selbst von großer Bedeutung.

Wenn der Papst im Herbst dieses Jahres nach Berlin, Erfurt und Freiburg kommt, wird er auf allen Stationen seiner Reise von einem Bundespräsidenten begleitet, der sich in der Öffentlichkeit zu seinem katholischen Glauben bekennt. Dennoch wird dieser bei den großen öffentlichen Eucharistiefeiern mit dem Papst, an denen er teilnehmen wird, einen Akt des öffentlichen Bekenntnisses zu Jesus Christus nicht mit vollziehen können, dem eine besondere symbolische Bedeutung zukommt: Er wird an den Papstgottesdiensten teilnehmen, ohne die Kommunion empfangen zu dürfen. Denn Christian Wulff hat nach der Scheidung von seiner ersten Frau wieder geheiratet und befindet sich daher in einer Lebenssituation, die „in objektivem Widerspruch zu jenem Bund der Liebe zwischen Christus und der Kirche (steht), den die Eucharistie sichtbar und gegenwärtig macht“ (Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben „Familiaris consortio“ vom 22. November 1981, Nr. 84, Abs. 4).

Die Sanktion eines dauerhaften Ausschlusses vom Kommunionempfang und den Sakramenten der Buße und Krankensalbung teilt der Bundespräsident mit einer unübersehbar großen Zahl getaufter Katholiken, die als wiederverheiratete Geschiedene in Verhältnissen leben, die kirchenrechtlich als „irregulär“ qualifiziert werden. Schon die sich aus einer vorsichtigen Schätzung ergebenden Zahlen – mehrere Millionen katholischer Christen – belegen, dass das Problem der wiederverheirateten Geschiedenen im gegenwärtigen kirchlichen Leben einen pastoralen Notstand darstellt, dessen Ausmaß nur selten wahrgenommen wird.

Zwar sind die wiederverheirateten Geschiedenen von der Kirche ausdrücklich dazu aufgerufen, an ihrem Leben teilzunehmen, indem sie das Wort Gottes hören, regelmäßig beten, ihre Kinder im christlichen Glauben erziehen, die Kirche in ihren sozialen Anliegen unterstützen und auch regelmäßig mit ihrer Gemeinde den Sonntagsgottesdienst feiern. Da ihnen aber zu Lebzeiten des ersten Ehepartners die volle Eucharistiegemeinschaft verwehrt ist, bleiben sie von dem ausgeschlossen, was das Zweite Vatikanische Konzil als die eigentliche Quelle und den Höhepunkt des gesamten christlichen Lebens bezeichnet. Ist es daher verwunderlich, dass viele sich als Christen zweiter Klasse gebrandmarkt fühlen und der Kirche den Rücken kehren?

Fragestellungen mehrerer theologischer Disziplinen

Die Frage einer möglichen Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zu den Sakramenten benennt nicht nur ein Problem der praktischen Seelsorge, auf das die Kirche bislang keine zufriedenstellende Antwort gefunden hat. Wie in einem Brennglas verbinden sich darin Fragestellungen mehrerer theologischer Disziplinen, die seit vielen Jahrzehnten diskutiert werden, ohne dass erreichte Ergebnisse zu praktischen Konsequenzen führen.

Von grundlegender Bedeutung ist zunächst die exegetische Perspektive, die sich nicht ohne weiteres auf einen einheitlichen Nenner bringen lässt. Einerseits stellt Jesus die Unauflöslichkeit der Ehe und das Erfordernis ehelicher Treue in aller wünschenswerten Entschiedenheit heraus, wie die synoptischen Evangelien übereinstimmend berichten (vgl. Mk 10,11 par). Er greift hinter die kasuistischen Regelungen der jüdischen Scheidungsgesetzgebung auf die ursprüngliche Schöpfungsordnung zurück, in der die Ehe von Gott als eine unverbrüchliche Lebensgemeinschaft von Frau und Mann gewollt ist.

Der von den späteren Zusätzen der jüdischen Halacha befreite Blick darauf, wie es im Anfang war, und die Einschärfung des ursprünglichen Gotteswillens sind vor dem Hintergrund der zentralen Botschaft Jesu vom Anbruch des Reiches Gottes zu sehen. Die Worte Jesu zur Ehe und Ehescheidung wollen, ähnlich seinen Aufforderungen zum grenzenlosen Verzeihen, zum Racheverzicht oder zur Feindesliebe in der Form prophetischer Mahnreden die Implikationen aufzeigen, die sich aus dem Kommen der Gottesherrschaft für das Leben in der Ehe ergeben.

Auch wenn manche Exegeten das Logion Jesu über die Ehescheidung formkritisch als eschatologisches Gottesrecht bezeichnen, darf diese Redegattung nicht einfach mit dem Anspruch einer kirchenrechtlichen Norm gleichgesetzt werden. Vielmehr ist die Differenz zu beachten, auf die Joseph Ratzinger bereits im Jahr 1969 hinwies: „Da Jesus hinter die Ebene des Gesetzes zurückgreift auf den Ursprung, darf sein Wort selbst nicht wieder unmittelbar und ohne weiteres als Gesetz angesehen werden“ (Zur Theologie der Ehe, in: Gerhard Krems, Reinhard Mumm [Hg.], Theologie der Ehe, Regensburg/Göttingen 1969, 81–115, hier: 83).

Zudem ist bei Markus, Matthäus und Paulus mit unterschiedlichen Akzentsetzungen eine gegenläufige Tendenz zu beobachten, die das unbedingte Verbot der Ehescheidung im Blick auf besondere Härtefälle und Ausnahmesituationen wieder einschränkt. Die neutestamentlichen Gemeinden sahen sich zu dieser Anpassung der Eheunterweisung Jesu offenbar durch sein Wort vom Binden und Lösen (vgl. Mt 16,19; 18,18) bevollmächtigt, durch das sie die Sonderregelungen begründeten, die in ihnen schon bald als gültig angesehen wurden. In den heidenchristlichen Gemeinden, die aufgrund der Missionstätigkeit des Apostels Paulus entstanden, kommt es zu einer Adaption der Weisung Jesu auf bestimmte Notsituationen, in denen diese nicht als ausnahmslos verpflichtend angesehen wurde. Dabei sieht sich Paulus, wo er seinen Gemeinden konkrete Ratschläge für das Leben in der Ehe gibt, keineswegs generell befugt, von der klaren Richtschnur eines Herrenwortes abzuweichen: „Den Verheirateten gebiete nicht ich, sondern der Herr: Die Frau soll sich vom Mann nicht trennen (…) und der Mann darf die Frau nicht verstoßen“ (1 Kor 7,10).

Dennoch gestattet Paulus in bestimmten Fällen die Scheidung einer gültigen Ehe, dann nämlich, wenn die Initiative zur Scheidung vom anderen Partner ausgeht. In diesem Fall ist der unschuldig Geschiedene frei für eine neue Ehe. Ebenso gesteht Paulus dem gläubigen Partner die Scheidung einer Ehe mit dem ungläubigen zu, der sich von ihm trennen will. Der gläubige Partner ist dann nicht wie ein Sklave gebunden, sondern zu einem „Leben in Frieden“ (1 Kor 7,15) berufen.

Wie Paulus, so anerkennen auch Markus und Matthäus, dass es Ausnahmefälle geben kann, in denen das Wort Jesu zur Ehescheidung nicht verpflichtet. Markus konzediert entgegen dem eindeutigen Verbot Jesu die Trennung von einem Partner, mit dem das Zusammenleben unerträglich geworden ist (vgl. Mk 10,11); Matthäus gesteht nach einer von vielen Exegeten geteilten Deutung der so genannten „Unzuchts-Klausel“ dem unschuldig geschiedenen Teil darüber hinaus auch die Wiederheirat zu (vgl. Mt 5,32; 19,9). Es steht allerdings nicht zweifelsfrei fest, ob in den urchristlichen Gemeinden, in denen das Wort Jesu zur Ehescheidung um seiner Lebbarkeit in Ausnahmesituationen willen abgewandelt wurde, tatsächlich die Erlaubnis zur Wiederheirat oder nur die Möglichkeit einer Trennung vom Ehepartner gegeben war. Die spätere kirchenrechtliche Praxis, die Ehe mit einem Ungläubigen in „favorem fidei“ (= zugunsten des Glaubens) aufzulösen, hat die entsprechende Paulusstelle jedenfalls so verstanden, dass sie eine erneute Eheschließung zugesteht, was heute von den meisten Exegeten im Blick auf die Gesamttendenz der Verkündigung Jesu bestätigt wird.

Insgesamt belegt das biblische Zeugnis zur Problematik von Ehe und Ehescheidung ein Doppeltes: Die biblischen Schriftsteller haben das Wort Jesu von der Unauflöslichkeit der Ehe und seine Forderung nach unbedingter ehelicher Treue als alleingültigen Maßstab für das Leben in der Ehe fest-gehalten und doch zugleich anerkannt, dass es Ausnahmesituationen von dieser Norm geben kann, in denen eine Trennung vom Ehepartner auch für Christen legitim ist. In solchen Härtefällen gab Paulus den Betroffenen den Ratschlag, unverheiratet zu bleiben (vgl. 1 Kor 7,11), doch sah das urchristliche Gemeindeethos sehr wahrscheinlich auch die Möglichkeit der Wiederheirat vor. Die Adaption der Weisung Jesu auf besondere Notsituationen wollte das Verbot der Ehescheidung nicht prinzipiell infrage stellen, sondern seine Praktikabilität auch angesichts der extremen Belastungen bewahren, die durch die Untreue eines Partners oder ein anderes menschliches Fehlverhalten entstehen können.

Ein ähnliches Ringen um eine grundsätzliche Treue zur Weisung Jesu, die zugleich Raum für flexible Ausnahmeregelungen in Härtefällen kennt, prägt auch die kirchliche Praxis in den ersten Jahrhunderten. Die vorherrschende Grundrichtung, die durch das Verbot von Ehescheidung und Wiederhei-rat bestimmt ist, bringt dennoch die Nebenlinie einer pragmatischen Duldung von Zweitehen unter Christen nicht völlig zum Verschwinden. Diese unterhalb der eigentlichen Grundnorm kirchlicher Lehre und Praxis möglichen Sonderregelungen stellen den Anspruch des Evangeliums an das Zusammenleben in der Ehe nicht in Frage. Sie bezeugen vielmehr das glaubwürdige Ringen darum, der spannungsvollen Einheit des biblischen Zeugnisses auf der Ebene des alltäglichen Gemeindelebens und seiner konkreten Konflikte gerecht zu werden.

Ohne das Verbot von Ehescheidung und Wiederheirat prinzipiell in Frage zu ziehen, stellen vor allem die östlichen Kirchenväter – stellvertretend seien Origenes und Basilius der Große genannt, im Westen finden sich ähnliche Überlegungen beim Ambrosiaster und bei Hilarius von Poitiers – Reflexionen darüber an, warum die Gemeinden sich zur Duldung einer an sich schriftwidrigen Praxis befugt sehen. Die Abweichung von der Norm des Evangeliums kann aus Nachsicht mit der Schwäche der Menschen erfolgen oder sie wird als das unter den gegebenen Umständen geringere Übel angesehen, das die Kirche toleriert, um Schlimmeres zu vermeiden.

Die genannten patristischen Texte sind von exemplarischer Bedeutung für die gegenwärtige Kirche. Sie spiegeln den bereits im neutestamentlichen Gemeindeethos zu beobachtenden Versuch wider, die Lehre Jesu von der Unauflöslichkeit der Ehe in Beziehung zu den Lebensumständen derjenigen getauften Christen zu setzen, deren erste Ehe zerbrochen ist.

Mit Joseph Ratzinger lassen sich die beiden Ebenen des patristischen Überlieferungsbefundes auf folgende Weise auseinanderhalten: „Unterhalb der Schwelle der klassischen Lehre, sozusagen unterhalb oder innerhalb dieser eigentlich die Kirche bestimmenden Hochform, hat es offensichtlich immer wieder in der konkreten Pastoral eine geschmeidigere Praxis gegeben, die zwar nicht als dem wirklichen Glauben der Kirche ganz konform angesehen, aber doch auch nicht schlechthin ausgeschlossen wurde“ (Zur Frage nach der Unauflöslichkeit der Ehe, in: Franz Henrich, Volker Eid [Hg.], Ehe und Ehescheidung, München 1972, 35–56, hier: 40). Aus diesem in sich komplexen Traditionszeugnis zog der gegenwärtige Papst damals für die Suche nach heutigen Lösungen den Schluss, dass eine geregelte Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zu den Sakramenten „voll auf der Linie der kirchlichen Überlieferung“ (55) läge.

Wenig glaubwürdige kanonistische Fingerübungen

Die gegenwärtig in Kirchenrecht, Dogmatik und theologischer Ethik erörterten Vorschläge zur Verbesserung der Lage geschiedener und wiederverheirateter Menschen in der katholischen Kirche lassen sich in zwei Haupttypen zusammenfassen. Eine Reihe von Vorschlägen möchte die Möglich-keit ausloten, dass auch die lateinische Kirche nach dem Vorbild der Orthodoxie eine zweite kirchli-che Eheschließung zu Lebzeiten des ersten Partners gestattet. Diese könnte entweder eine zweite Verbindung im Zeichen der Buße und der Bitte um Nachsicht mit der menschlichen Schwäche sein, so dass diese Zweitehe zwar kirchlich anerkannt, der ersten sakramentalen Ehe jedoch nicht gleichgestellt wäre. Sie müsste daher auch liturgisch in deutlich zurückgestufter Form besiegelt werden, damit eine Verwechslung mit der sakramentalen Ehesymbolik ausgeschlossen bleibt, die weiterhin der Hochform der Trauungsliturgie vorbehalten wäre. (Vorschriftswidrig werden in den orthodoxen Kirchen jedoch nicht selten auch Zweit- oder Drittehen nach dem feierlichen Krönungsritus begangen.)

Neuere kanonistische Initiativen sehen aber auch die Möglichkeit einer zweiten sakramentalen Ehe-schließung getaufter Christen als nicht gänzlich ausgeschlossen an. Dies erfordert allerdings, dass die erste Ehe endgültig zerbrochen ist und als personale Lebensgemeinschaft der Ehegatten nicht mehr besteht. Daher müsste durch ein kirchliches Trennungsurteil anerkannt werden, dass die Ehe „tot“ ist und keine Hoffnung mehr besteht, das eheliche Zusammenleben jemals wieder aufzunehmen.

Die Begründung für diese Lösungsmöglichkeit läuft über eine kirchenrechtlich mögliche Unterscheidung, deren Subtilität im juristischen Denken ungeschulten Zeitgenossen leicht als Spitzfindigkeit erscheinen kann. Diese Reformvorschläge wollen erklärtermaßen an der inneren Unauflöslichkeit der ersten Ehe festhalten und keine ihrer Wesenseigenschaften (Einheit, Unauflöslichkeit, Offenheit für Kinder) preisgeben. Dennoch soll es unter den genannten Voraussetzungen möglich sein, eine Befreiung von den Rechtswirkungen dieser in sich unauflöslichen Ehe zu erlangen, was entweder durch die Anwendung einer besonderen Rechtsfigur, nämlich der „aequitas canonica“ (= kanoni-sche Billigkeit) oder auf dem Weg einer Dispenserteilung durch die kirchliche Autorität geschehen könnte. Wenn die Rechtsfolgen der ersten Eheschließung aufgehoben wären, obwohl diese Ehe nach wie vor als gültig anzusehen ist, entfiele das aus ihr hervorgehende Ehehindernis, das dem Eingehen einer zweiten sakramentalen Ehe entgegensteht, und der Weg zu einer weiteren kirchlichen Trauung stünde beiden Partnern bereits zu Lebzeiten des anderen wieder offen.

Gegen derartige kanonistische Fingerübungen und ihre überraschenden Schlussfolgerungen erhebt sich jedoch ein naheliegender Einwand: Sie erwecken den Anschein, das an sich Unmögliche ohne Abstriche von zentralen Voraussetzungen der kirchlichen Ehelehre am Ende doch ermöglichen zu wollen und wirken daher wenig glaubwürdig. Müsste sich das Glaubwürdigkeitsdilemma, das der kirchlichen Ehegerichtsbarkeit in den Augen vieler Menschen ohnehin bereits anhaftet, bei einer Verwirklichung dieser Vorschläge nicht noch weiter verschärfen? Dieser Eindruck wäre im Übrigen auch dann kaum zu vermeiden, wenn man die bereits bestehende Annullierungspraxis großzügig erweitern und für die Ausschöpfung dieser kirchenrechtlichen Möglichkeit werben würde. Zwar lassen sich für die Vermutung durchaus gute Gründe anführen, dass nicht wenige kirchlich geschlossene Ehen faktisch ungültig sind, weil sie wesentlicher Voraussetzungen hinsichtlich des Ehewillens oder des bewussten Vollzugs (nicht nur der sexuellen Gemeinschaft, sondern eines vorbehaltlosen Sich-Schenkens der Ehepartner) ermangeln. Dennoch ist zu bedenken, ob eine Ausweitung der Ehenichtigkeitsgründe und eine Propagierung von Annullierungsverfahren im großen Stil in der gesellschaftlichen Breitenwirkung einer solchen Praxis nicht ebenfalls Zweifel am Leitbild der unauflöslichen, auf lebenslange Treue gegründeten Ehe nach sich ziehen würde.

Die zweite Gruppe von Vorschlägen folgt der Prämisse, dass die Kirche, wenn sie der Weisung Jesu folgen möchte, keinen Spielraum besitzt, getrennt lebenden und geschiedenen Partnern eine weitere kirchliche Eheschließung anzubieten, solange der Partner aus der ersten Ehe noch lebt. Diese Annahme erscheint insofern konsequent, als eine aus menschlicher Untreue, fehlender Liebe und Vernachlässigung oder gar aus einem bewussten Bruch des Eheversprechens hervorgegangene zweite Verbindung nicht als die zeichenhaft-sakramentale Sichtbarmachung der Treue Gottes unter uns Menschen gelten kann, die eine Ehe zwischen Getauften nach katholischem Verständnis ist.

Der zweite Lösungstypus setzt deshalb an anderer Stelle an: Er akzeptiert, dass geschiedene und wiederverheiratete Menschen die mögliche Schuld, die sie am Scheitern ihrer ersten Ehe trifft, aufrichtig bereuen können. Wenn die Möglichkeit einer Rückkehr zum ersten Partner aus nachvollziehbaren Gründen nicht mehr besteht, darf dies nicht als Indiz für mangelnde Reue oder den fehlenden Willen zur Wiedergutmachung angesehen werden. Die Motive, die zum Eingehen einer zivilen Zweitehe führen, können vielmehr moralisch achtenswert sein, insbesondere dann, wenn in dieser Zweitehe menschliche Werte wie Füreinander-Einstehen, Treue, Verlässlichkeit und Verantwortung gelebt werden, die einer Ehe entsprechen. Obwohl sie kirchenrechtlich ungültig ist, kann eine zivile Zweitehe nämlich alle wesentlichen Elemente aufweisen, die nach kirchlichem Verständnis für eine Ehe konstitutiv sind: den Willen zur lebenslangen Treue, die vorbehaltlose Annahme des Partners, die Bereitschaft zur umfassenden personalen Lebensgemeinschaft und die gemeinsame Verantwortung für Kinder.

Deshalb kann eine ungültige Ehe, in der das gelebt wird, was das Wesen einer Ehe ausmacht, nicht als Nicht-Ehe oder gar als Konkubinat bezeichnet werden, wie es früher im kirchlichen Sprachgebrauch weithin üblich war. Vollends inakzeptabel ist es, wenn die Lebenssituation wiederverheirateter Menschen in lehramtlichen Dokumenten unterschiedslos als fortgesetzter Ehebruch oder als Zustand schwerer Sünde qualifiziert wird. Es kann ein Zeichen menschlicher Niedertracht und Gemeinheit sein und daher tatsächlich schwere Schuld nach sich ziehen, wenn ein Partner mutwillig die eigene Ehe bricht, um eine neue Verbindung eingehen zu können; in diesem Fall ist moralische Verurteilung angebracht und menschliches Verständnis fehl am Platze. Doch berechtigt ein solches beklagenswertes menschliches Versagen in keiner Weise den Rückschluss, dass alle in einer zivilen Zweitehe Lebenden objektiv schwere Schuld auf sich geladen hätten und diese niemals bereuen könnten.

Hochachtung vor dem Gewissensurteil der Betroffenen

Es ist vielmehr damit zu rechnen, dass die meisten Partner einer zivilen Zweitehe diese aufgrund einer wohlüberlegten Gewissensentscheidung eingingen. Selbst wenn die neue Verbindung erst durch ein Unrecht gegenüber dem früheren Partner zustande kam, kann ihre Fortsetzung inzwischen durch die Dauer der gemeinsamen Lebensführung zu einer moralischen Verpflichtung geworden sein, der sich die Partner nicht ohne erneute Schuld entziehen dürfen. Ihr Zusammenleben kann deshalb, solange es sich als eine verlässliche personale Lebensgemeinschaft bewährt, nicht als schwere Sünde bezeichnet werden. Es verdient vielmehr aufgrund der menschlichen Werte, die sie gemeinsam verwirklichen, und nicht zuletzt durch ihre Bereitschaft, in öffentlicher Form und auf rechtlich verbindliche Weise Verantwortung füreinander zu übernehmen, moralische Anerkennung. Wo dieses Füreinander-Einstehen in den Sorgen und Nöten des Alltags aus dem Geist des Glaubens gelebt wird, besitzt eine solche Ehe aufgrund des persönlichen Glaubens der Partner und ihrer Teilnahme am kirchlichen Leben auch eine geistliche Dimension.

Aus der Neubewertung einer zivilen Zweitehe folgt theologisch und ethisch stringent, dass geschiedene und wiederverheiratete Menschen nicht dauerhaft oder bis zum Tod ihres ersten Partners vom Kommunionempfang ausgeschlossen sind. Sie können entweder auf einem außergerichtlichen Weg, zum Beispiel durch das Zeugnis ihres Pfarrers oder mehrerer Gemeindemitglieder hin, ausdrücklich zugelassen und zur vollen Teilnahme an der Eucharistie und den Sakramenten der Buße und Kran-kensalbung eingeladen werden. Denkbar ist aber auch die vorsichtigere Variante, die von den oberrheinischen Bischöfen in ihrem gemeinsamen Hirtenwort „Zur seelsorglichen Begleitung von Men-schen aus zerbrochenen Ehen, Geschiedenen und wiederverheirateten Geschiedenen“ aus dem Jahr 1993 ins Spiel gebracht wurde. Nach diesem Vorschlag können wiederverheiratete Geschiedene, auch wenn sie nicht amtlich zur Kommunion zugelassen werden, doch aufgrund eines persönlichen Gewissensurteils erlaubterweise zu ihr hinzutreten.

Die Einschätzung ihrer Lebenssituation vor Gott kann unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände nur durch die Betroffenen selbst in ihrem Gewissen geschehen. Aus Hochachtung vor dem Gewissensurteil der Betroffenen kann die Kirche daher geschiedene und wiederverheiratete Menschen nicht nur in allgemeiner Weise zur Teilnahme am kirchlichen Leben auffordern, sondern auch zur vollen Gemeinschaft am eucharistischen Mahl, dem greifbarsten Zeichen der Gegenwart ihres Herrn und der Verbundenheit der Gläubigen mit ihm und untereinander, einladen. Dieser Vorschlag konzentriert sich deshalb darauf, Kriterien für ein verantwortliches Gewissensurteil anzugeben und die Priester und verantwortlichen Mitarbeiter zu einer seelsorglichen Begleitung aufzufordern, die den Betroffenen den Weg zu einem eigenen Gewissensurteil aufzeigen soll.

Die Einladung zur vollen Teilnahme am eucharistischen Mahl unter Einschluss des Kommunionempfangs bietet nicht nur geschiedenen und wiederverheirateten Christen die Chance zur Versöhnung mit ihrer eigenen Lebensgeschichte. Sie wäre auch für die Kirche selbst von großer Bedeutung. Eine solche öffentliche, von der Kirche ausgesprochene Geste könnte eine verhängnisvolle Fehlentwicklung korrigieren, die ihr Bild in den Köpfen und Herzen der Menschen in einseitiger Weise festlegt. Während des Trennungskonfliktes oder in der Zeit unmittelbar vor und nach der Scheidung erleben auch gläubige Menschen die Zugehörigkeit zur Kirche nur selten als persönliche Unterstüt-zung und Hilfe. Vielmehr leiden sie unter dem Gefühl moralischer Verurteilung, unter drohendem Beheimatungsverlust und unter dem schmerzlichen Ausgegrenztsein, als das sie die auf die Wiederheirat folgenden kirchlichen Disziplinarmaßnahmen empfinden.

Bei den unmittelbar Betroffenen und denen, die als Angehörige oder Freunde das Scheitern ihrer Ehe miterleben, entsteht dabei nicht selten der Eindruck, dass die Kirche an geschiedenen und wiederverheirateten Menschen kein Interesse mehr hat. Sie wird in solchen Konfliktsituationen nicht als eine Versöhnungsgemeinschaft, sondern als eine Institution erlebt, die aufgrund ihres moralischen Rigorismus den Lebensschicksalen ihrer Mitglieder gegenüber unempfindlich bleibt und hilflos vor der Unberechenbarkeit des Lebens und den gestiegenen Anforderungen an die persönliche Lebensführung in der postmodernen Gesellschaft steht.

Von ihrem eigenen Auftrag her sollte die Kirche dagegen ein Ort sein, an dem Menschen auch angesichts des Scheiterns ihrer Lebensentwürfe auf Verständnis stoßen. Verständnis aber ist mehr als nur der Verzicht auf explizite Verurteilung oder ausdrückliche Zurückweisung. Dazu gehören neben Zei-chen persönlicher Wertschätzung, die geschiedene und wiederverheiratete Menschen in ihren Gemeinden oftmals erfahren, auch öffentliche Signale, die eine klare Botschaft enthalten. Wenn der Kirche und ihrer amtlichen Verkündigung in all ihrem Tun der „Dienst der Versöhnung“ (vgl. 2 Kor 5,14–6,1) aufgetragen ist, kann diese Botschaft nur lauten: In Trennung lebende, geschiedene oder auch wiederverheiratete Menschen stehen nicht am Rand der Kirche, sondern gehören wie viele andere schuldbeladene oder gescheiterte getaufte Christen zu ihr.

Als Kirche Jesu Christi ist diese niemals eine Gemeinschaft der Reinen, Vollkommenen und Sündlo-sen, vielmehr existiert sie als die Kirche der Sünder, die aus Gottes Erbarmen lebt und in ihren Sakramenten Gottes Gegenwart unter den sündigen Menschen feiert. Unter allen Sakramenten der Kirche aber ist das eucharistische Mahl das Sakrament der herabsteigenden Liebe Gottes par excellence. Es erinnert die Kirche an ihren bleibenden Ursprung aus jener Liebe, die Gott den sündigen Menschen am Kreuz Jesu Christi erwiesen hat. Daher ist die Eucharistie nicht nur die Dankesfeier der Erlösten, sondern auch das Mahl der Versöhnung, die ausgestreckte Hand Gottes, die alle Menschen erreichen möchte – auch die geschiedenen und wiederverheirateten Gläubigen der Kirche.

Zum Autor:

Eberhard Schockenhoff 1953 geboren, studierte von 1972 bis 1979 in Tübingen und Rom Theologie. 1978 erfolgte die Priesterweihe in Rom sowie 1979 ein Lizenziat in Moraltheologie. Von 1979 bis 1982 übte er eine praktische Seelsorgertätigkeit als Vikar in Ellwangen und Stuttgart aus. Anschließend war er Repetent im Wilhelmsstift in Tübingen. 1986 erfolgte die Promotion zum Dr. theol., 1989 die Habilitation. Dazwischen war er von 1986 bis 1989 Assistent an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. 1990 bis 1994 war er Professor für Moraltheologie an der Universität in Regensburg. Seit 1994 ist er Professor für Moraltheologie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg i.Br. 2001 wurde er durch Beschluss des Bundeskabinetts zum Mitglied des Nationalen Ethikrates berufen; 2005 erfolgte die Wiederberufung und Wahl zum stellvertretenden Vorsitzenden; 2008 die Berufung in den Deutschen Ethikrat, das Nachfolgegremium des Nationalen Ethikrates.

Seine jüngste Veröffentlichung: Chancen zur Versöhnung? Die Kirche und die wiederverheirateten Geschiedenen, Freiburg 2011.

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