Gott neu denken

 

12.01.2014, Norbert Scholl

CHRIST IN DER GEGENWART hat in der Ausgabe 2 vom 12. Jänner 2014 nachstehenden Beitrag veröffentlicht.

Von der Beantwortung der Frage nach Gott im Wandel von Zeit und Erkenntnis hängt die Zukunft des Christentums ab.

Die von der katholischen Kirche beauftragte Sinus-Milieustudie hat offengelegt: Viele Menschen - gerade auch Getaufte - verstehen sich nicht (mehr) als gläubig im traditionellen Sinn. Sie suchen auch nicht aktiv nach einer Beziehung zu Gott. Insbesondere in den jungen unterschichtlichen Milieus spielen Glaube und Religion häufig gar keine Rolle mehr. Bei vielen ist der Glaube individualisiert - und nicht an Religion und Kirche gebunden. Viele bezeichnen sich zwar als religiös. Wenn sie allerdings über den Inhalt ihres Glaubens oder ihre Vorstellungen von Gott Auskunft geben sollen, sind die Antworten eher verschwommen.

Beim Blick in die verschiedenen Milieus wird zudem deutlich, wie groß die Sprachlosigkeit über die eigene Religiosität jenseits kirchlicher Formeln ist und wie wenig Sachverstand und Kompetenz der Institution Kirche für die eigene Auseinandersetzung mit Gott zugesprochen werden. Die Sinus-Forscher schrieben: „Diejenigen haben recht, die von der Verdunstung des Glaubens sprechen. Der Glaube hat in der Spätmoderne seinen Aggregatzustand verändert. Er ist von einem festen, in kirchlichen Formeln und Formen fassbaren Zustand in einen fluiden oder gar gasförmigen übergegangen. Der verdunstete Glaube liegt buchstäblich in der Luft.“

Gefordert sind jetzt ein intensives Neu-denken der Gottesfrage und ein verändertes, behutsameres Sprechen von Gott. Aber wo soll man da ansetzen?

Gegenwart im Werden

Eine Besinnung auf den Gottes-„Namen“ des Alten Testaments könnte hilfreich sein: JHWH. Bis heute ist die Übersetzungsfrage nicht befriedigend gelöst. In älteren Bibelausgaben wurde er mit „Ich bin, der ich bin“ wiedergegeben. Doch das ist sprachlich unzutreffend und theologisch irreführend. Auch die in der Einheitsübersetzung verwendete Umschreibung mit „Ich-bin-da“ wirkt wenig aussagekräftig, erscheint zu unlebendig, zu unbeweglich.

Eine Besonderheit des Hebräischen erschwert die Übersetzung zusätzlich. Die Sprache des Judentums kennt eine Handlung entweder als vollendet, abgeschlossen, als „perfekt“, oder als unvollendet, noch andauernd, im Werden begriffen, als „im-perfekt“. Das hebräische „Imperfekt“ umschließt Gegenwart und Zukunft. Philosophisch betrachtet, ist dies eine überzeugende Sicht. Denn wann beginnt genau Gegenwart, und wann hört sie genau auf? Betrachtet man das deutsche Wort „Gegenwart“ genauer, schwingt ebenfalls ein zukünftiger Aspekt mit: Gegenwart ist jene Zeit, die mir gegen-wartet. Das Warten aber geschieht immer mit Blick auf etwas Ausständiges, noch nicht Eingetroffenes. Die Erfahrung der Gegenwart wird also ganz wesentlich bestimmt durch die noch bevorstehende Zukunft.

Der Alttestamentler Erich Zenger (1939-2010) verwendete, dem hebräischen Original entsprechend, sogar die dritte Person und umschrieb den Namen JHWH ausführlich: „Er ist da, und er will da sein, so, wie er von seinem tiefsten Wesen her da sein will: nämlich als der, der befreit und vom Tod zum Leben hinüberführen kann und will.“ Durch solche Versuche gewinnt der Gottesname - besser: die Gottes-Aussage oder Gottes-Ansage - eine bemerkenswerte Dynamik, die der jüdische Religionswissenschaftler Pinchas Lapide (1922-1997) einmal so erklärt hat: „Ein Wirksam-Sein, ein Quicklebendig-Sein, ein Mit-Sein und ein Sich-Erweisen …, die allesamt als ein pausenloser Werdegang erfahren werden… Es gehört zu Gottes dynamischem Wesen, dass es im Werden ist und sich im innerweltlichen Wirken äußert.“ Diese Offenheit und Umrisslosigkeit der JHWH-Erfahrung kommen dem gegenwärtigen Ruf nach eigener konkreter Erfahrung und der Distanz gegenüber der überkommenen kirchlichen, eher statisch-­abstrakten „Gotteslehre“ entgegen.

Interessant ist auch, dass der alttestamentliche Gottes-„Name“ keinen bestimmten Artikel enthält. Er ist damit weder männlich noch weiblich. Die deutsche Sprache kennt zwar den bestimmten - maskulinen - Artikel: „der Gott“. Aber er wird im üblichen Sprachgebrauch nicht verwendet. So heißt es etwa: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde…“ Lediglich Kinder hört man bisweilen von „dem Gott“ sprechen.

Anders ist es im Altgriechischen, der Sprache des Neuen Testaments. Dort steht Gott immer mit dem bestimmten Artikel: ho theós. Fehlt der Artikel bei theós (einen unbestimmten Artikel gibt es im Altgriechischen nicht), ist das Wort mit „ein Gott“ zu übersetzen oder mit „wie Gott“, „göttlichen Wesens“, von „Gottes Art“. Darüber hinaus ist theós in beiden Fällen durch die Endung eindeutig männlich. Es gibt auch die weibliche Endung „-a“, also hä theá. Ähnlich ist es im Lateinischen.

Was sich schon in der hebräischen Sprache und im deutschen Sprachgebrauch - vielleicht eher unbewusst - andeutet, kommt in den vielfältigen Versuchen der Kulturgeschichte, Gott „neutral“ zu umschreiben, noch deutlicher zum Ausdruck. So kennt die Bibel viele Metaphern, die für Gott stehen, zum Beispiel: Burg, Fels und Feste (Ps 18,3; 73,26), Gerechtigkeit (Jer 23,6), Hilfe (Ps 140,8), Kraft, Licht und Schild (Ps 27,1; 28,7), Schönheit (Ps 89,18), Stärke (Ps 18,2; 22,20; 59,10), Weisheit (Weish 1,6), Zuflucht (Ps 18,3; 46). Die Spitzenaussage findet sich im Neuen Testament, im ersten Johannesbrief: „Gott ist die Liebe“ (4,8.16).

In den Paulusbriefen und in den Evangelien findet sich das sogenannte Passivum divinum. Statt eines Gottesnamens wird die passivische Form verwendet. So antwortet Jesus auf die Frage Johannes’ des Täufers, ob er der erwartete Messias sei: „Geht und berichtet Johannes, was ihr gesehen und gehört habt: Blinde sehen wieder, Lahme gehen und Aussätzige werden rein; Taube hören, Tote stehen auf, und den Armen wird das Evangelium verkündet“ (Lk 7,22; Mt 11,5). Jesus sagt nicht: „Gott (oder: der Vater) macht Aussätzige rein“ oder „Ich mache Aussätzige rein“, sondern er verwendet das Passiv: „Aussätzige werden rein“.

Christliche Theologen von der Frühzeit bis in die Gegenwart haben die „neutrale“ Umschreibung des Gottesnamens häufig übernommen. Einige bemerkenswerte Beispiele sollen genannt werden.

Stark philosophisch abstrakt ist der sogenannte ontologische Gottesbeweis des Anselm von Canterbury (um 1033-1109). Der Benediktinermönch spricht von Gott als Neutrum (id). „Es ist ein Sein denkbar, das als Nichtsein undenkbar ist; und das ist größer als das, was man als Nichtsein denken kann. Wenn darum das Größte, das denkbar ist, als nichtseiend gedacht werden könnte, dann wäre wiederum das größte Denkbare nicht das Größte, das man denken kann; und das kann nicht sein. So gibt es also wirklich etwas so Großes, dass nichts Größeres gedacht werden kann (id, quo majus cogitari non potest), ja dass es überhaupt nicht als Nichtsein gedacht werden kann: Und das bist du, Herr unser Gott!“

Bemerkenswert ist, dass Anselm seine abstrakten Gedankengänge in ein Gebet einkleidet. Er beginnt: „Herr, der du dem Glauben Einsicht verleihst, gib mir also die Einsicht, so weit du sie mir schenken kannst …“ Er endet mit den Worten „und das bist du, Herr unser Gott!“

Der Tempel muss leer sein

Etwas behutsamer geht der Dominikanermönch Thomas von Aquin (1225-1274) vor. Er beschreibt im Anschluss an die griechischen Philosophen Platon und Aristoteles Gott als das unum, verum, bonum, pulchrum, als das schlechthin Eine, Wahre, Gute und Schöne. Alles innerweltlich existierende Wahre, Gute und Schöne kann nur bestehen, insofern es von einem ersten und eigentlichen, alles gründenden Ne-utrum (wörtlich: nichts von beiden), von „dem“ Wahren, „dem“ Guten und „dem“ Schönen verursacht ist.

Einen anderen Weg zeigt der Dominikaner Meister Eckhart (um 1260-1328). Er betont, dass der Gottsucher sich „leer“ machen muss von aller theologischen Begrifflichkeit, ja dass er seines eigenen Gottes - als Denkvorstellung - „quitt“ werden muss. „Jedes Haften am äußeren Zeichen und genießende Schauen hindert dich am Erfassen des ganzen Gottes… Nein, der Tempel muss ledig und frei sein, wie das Auge frei und leer sein muss von aller Farbe, soll es Farbe sehen… Alle jene Bilder und Vorstellungen aber sind der Balken in deinem Auge. Drum wirf sie hinaus. Ja selbst deines gedachten Gottes sollst du quitt werden, aller deiner doch so unzulänglichen Gedanken und Vorstellungen über ihn wie: Gott ist gut, ist weise, ist gerecht, ist unendlich. Gott ist nicht gut, ich bin besser als Gott; Gott ist nicht weise, ich bin besser als er, und Gott ein Sein zu nennen ist so unsinnig, wie wenn ich die Sonne bleich oder schwarz nennen wollte… Alles was du da über deinen Gott denkst und sagst, das bist du mehr selber als er.“ Das Leben Gottes entfaltet sich in den Dingen. Wer die Geschöpfe kennt, braucht keine Predigt. Denn jedes Geschöpf ist ein von Gott beschriebenes Buch. Die Dinge „schmecken“ nach Gott. „Alle Dinge“ sind für Meister Eckhart „reiner Gott“, die Kreatur ist „Gottes voll“.

Wichtige Impulse für ein neues Gott-Denken hat auch der evangelische Theologe Paul Tillich (1886-1965) gegeben. Viele Menschen seien „von etwas ergriffen, was sie unbedingt angeht; aber sie fühlen sich jeder konkreten Religion fern, gerade weil sie die Frage nach dem Sinn ihres Lebens ernst nehmen. Sie glauben, dass ihr tiefstes Anliegen in den vorhandenen Religionen nicht zum Ausdruck gebracht wird… Das, was uns unbedingt angeht, ist von allen zufälligen Bedingungen der menschlichen Existenz unabhängig. Es ist total, kein Teil von uns selbst und unserer Welt ist davon ausgeschlossen… Was uns unbedingt angeht, lässt keinen Augenblick der Gleichgültigkeit und des Vergessens zu. Es ist ein Gegenstand unendlicher Leidenschaft.“

In der Materie, nicht weit von uns

Der Jesuit, Paläontologe und Theologe Pierre Teilhard de Chardin (1891-1955) war zutiefst davon überzeugt, dass „Gott von uns keineswegs wider das Geschaffene geliebt werden will, dass er vielmehr durch das Geschaffene hindurch und im Ausgang von ihm verherrlicht werden will“. Die Natur und das, was sie zu „offenbaren“ hat, besitzen sogar den Vorrang gegenüber der Offenbarung, wie sie etwa in den Büchern der Heiligen Schriften ihren Niederschlag gefunden hat. Denn „nicht abseits von der physischen Welt, sondern durch die Materie hindurch und irgendwie in Vereinigung mit ihr“ kommt der Mensch mit dem „göttlichen Milieu“ in Berührung.

Teilhard de Chardin: „Der lebendige und fleischgewordene Gott ist nicht weit von uns. Er ist nicht außerhalb der greifbaren Sphäre. Er erwartet uns vielmehr jederzeit im Handeln, im Werk des Augenblicks. Er ist gewissermaßen an der Spitze meiner Feder, meiner Hacke, meines Pinsels, meiner Nadel - meines Herzens, meines Gedankens.“ Es gibt „für einen, der zu sehen versteht, auf der Welt kraft der Schöpfung, … nichts Profanes“. Darum vertritt Teilhard de Chardin die Ansicht, dass die profanen, weltlich-nüchternen Sprachen (etwa Naturwissenschaften) ebenso geeignet sind, religiöse Inhalte darzustellen wie sakrale Sprachen (etwa die der europäischen Standardtheologien). Und weil die sakralen Sprachen heute dem Bewusstsein der Zeitgenossen mehr und mehr fremd geworden sind, sieht er geradezu eine Notwendigkeit, religiöse Inhalte in profanen, weltlichen Sprachen vorzustellen, wenn der Gottesglaube nicht in der Sprachlosigkeit der tradierten religiösen Floskeln und theologischen Leerformeln verlorengehen soll.

Für den Jesuiten Karl Rahner (1904-1984) wiederum ist der Alltag ein geistliches Grundanliegen. Die „Alltäglichkeit“ und „Durchschnittlichkeit“ sind für ihn ein unverzichtbares Thema der Frage nach der Gotteserfahrung. Es gibt nur einen einzigen Weg zur Erkenntnis Gottes, und der führt „durch die Begegnung mit der Welt, zu der wir natürlich auch selber gehören… Weil Gott etwas ganz anderes ist als eine der in unserem Erfahrungsbereich vorkommenden oder aus ihm erschlossenen Wirklichkeiten und weil die Erkenntnis Gottes eine ganz bestimmte einmalige Eigenart hat und nicht nur ein Fall des Erkennens im Allgemeinen ist, darum ist es sehr leicht, Gott zu übersehen.“ Rahner nennt verschiedene nichtpersonale Metaphern, mit denen sich die Gotteserkenntnis umschreiben lässt: „Man kann von Sein sprechen, vom Grund, von letzter Ursache, vom lichtenden und entbergenden Logos, man kann das Gemeinte noch mit tausend anderen Namen anrufen… Wir wollen das Woraufhin und Wovonher unserer Transzendenz ‚das heilige Geheimnis‘ nennen“, heißt es im „Grundkurs des Glaubens“.

Aber auch Religionswissenschaftler und Philosophen haben sich um das Neudenken Gottes bemüht. Unter anderem ist hier Rudolf Otto (1869-1937) zu nennen. In seinem noch heute vielzitierten Werk „Das Heilige“ beschreibt er Religion als „Selbererleben des Geheimnisses schlechthin; nicht eines Geheimnisses, das nur eins für die Nichteingeweihten wäre, für höhere Grade aber aufgelöst würde, sondern das fühlbare Geheimnis alles zeitlichen Daseins überhaupt und das Durchscheinen der ewigen Wirklichkeit durch den Schleier der Zeitlichkeit für das aufgeschlossene Gemüt“. Gott ist nach Otto das „Numinosum“, das zugleich als tremendum und fascinans erfahren wird, als beunruhigend-erschreckend und faszinierend-anziehend.

In seinem Buch „Psychoanalyse und Religion“ beschreibt Erich Fromm (1900-1980) Gott als „ein Symbol für alles, was im Menschen liegt und was dennoch der Mensch nicht ist; ein Symbol einer geistig-seelischen Realität, die in uns zu verwirklichen wir streben können und die wir dennoch niemals beschreiben oder definieren können. Gott gleicht dem Horizont, der unserem Blick Grenzen setzt. Dem naiven Gemüt erscheint dieser als etwas Greifbares, und doch erweist er sich als Fata Morgana, wenn wir ihn fassen wollen. Wenn wir uns fortbewegen, bewegt sich auch der Horizont. Sobald wir auch nur einen kleinen Hügel erklimmen, weitet sich unser Horizont, aber er bleibt eine Begrenzung und wird niemals zu einem Ding, das man zu greifen vermag.“

Im Prozess der Welt

Für den „Vater“ der sogenannten Prozesstheologie, Alfred North Whitehead (1861-1947), ist „Gott“ ein nichtzeitliches, universales Ereignis, dessen Vorhandensein den Grund für alles geschöpfliche Werden und Entstehen, für Ordnungsstrukturen und den bleibenden Eigenwert des Gewordenen schafft. In seinem Werk „Wie entsteht Religion?“ legt er einige Umschreibungsversuche dessen vor, was sich für ihn mit dem Begriff „Gott“ verbindet.

Zunächst ist alle Ordnung „von der Immanenz Gottes (dem In-der-Welt-sein; d. Red.) abgeleitet“. Dann hält Whitehead fest: „Ohne Gott gibt es keine wirkliche Welt; und ohne die wirkliche Welt mit ihrer Kreativität gäbe es keine rationale Erklärung der ideellen Vision, die Gott konstituiert… Gott ist in der Welt die unablässige Vision des Weges, der zu den tieferen Realitäten führt.“ So ist Gott „die unbegrenzte begriffliche Realisierung des absoluten Reichtums an Potenzialitäten. Unter diesem Aspekt ist er nicht vor, sondern mit aller Schöpfung.“

Gott wird selbst in den Prozess einer werdenden Welt hineingezogen. Er „und die Welt stehen in ständiger Wechselwirkung miteinander. So wie die Welt nicht wirklich werden könnte ohne Gottes uranfängliche Bereitstellung der Möglichkeiten, so könnte Gott nicht wirklich werden, ohne dass sich die Welt in ihm objektivierte. Indem die Welt die verfügbaren Möglichkeiten verwirklicht, verwirklicht Gott sich letztlich selbst, da alles wirklich gewordene im Moment seines Wirklichwerdens von ihm erfasst und so zu einem Element in seinem Werden wird.“

Persönlich - und alles

In neuerer Zeit wird häufiger auf das Gott-Denken des jüdischen Philosophen Baruch Spinoza (1632-1677) aufmerksam gemacht. Dieser vertrat die Ansicht, dass es nur eine einzige, alles bedingende, absolute „Substanz“ gibt: Gott. Die geschaffenen Dinge seien keine selbstständigen Substanzen, sondern nur Bestimmungen - er spricht von modi - oder Erscheinungsformen des einen Absoluten. Von der sinnlichen Wahrnehmung her unterscheiden sich die Dinge zwar voneinander; in ihrem eigentlichen, meta-physischen Wesen sind sie aber unter sich und mit Gott eins. Gott ist die natura naturans, also in gewisser Weise eine „schaffende Natur“, etwas, was in sich ist und etwas Ewiges und Unendliches wesenhaft meint. Die Dinge hingegen sind natura naturata, geschaffene Natur, etwas, was aus der Natur Gottes folgt, was in Gott ist beziehungsweise ohne Gott nicht sein kann. In der Philosophiegeschichte wird dieses Denken als Pantheismus bezeichnet (alles Seiende ist Gott).

Dieses „pantheistische“ Denken wird bei zahlreichen Theologen heute in einer nicht unwesentlich veränderten Form aufgenommen: als „Pan-en-theismus“ (alles Seiende ist in Gott einbegriffen). Gott geht über das materielle Universum hinaus. Alles im Universum ist (An-)Teil Gottes, aber Gott ist mehr als das Universum.

Gott und Welt sind nicht identisch, wie das im pantheistischen Denken angenommen wird. Es gibt vielmehr ein vielgliedriges System von Lebenserscheinungen, die voneinander und von Gott relativ gesondert scheinen, dem Urgrund nach jedoch allesamt untrennbar mit diesem verbunden sind. Ein Dualismus zwischen Gott und Welt, eine gegensätzliche Zweiheit dieser beiden ist ausgeschlossen. Die strenge Unterscheidung zwischen Schöpfer und Schöpfung ist lediglich ein unabdingbares Hilfsprinzip, das es den Menschen erst ermöglicht, die Welt konkret begreifen, einordnen und beurteilen zu können.

Zu dieser „Wiederentdeckung“ des Panentheismus haben die Forschungsergebnisse der Naturwissenschaft über die aus menschlicher Sicht unvorstellbare Größe des Universums, die Wunder der Biologie oder die Vorgänge der Quantenphysik beigetragen. Sie untermauern und verstärken die Gefühle der Ehrfurcht und des Erstaunens gegenüber diesen Naturerscheinungen.

Der Münsteraner Religionsphilosoph Klaus Müller weist darauf hin, dass auch große Gottdenker wie Karl Rahner oder der Jesuit Alfred Delp immer wieder in den Bannkreis einer solchen panentheistischen Denkform gerieten. Und vor ihnen waren es schon Nikolaus von Kues und Meister Eckhart. Es könne heute nicht darum gehen, die alten Gottesbilder lediglich un­verändert beizubehalten und auf ein baldiges Ende des Atheismus zu hoffen. Vielmehr, so Müller, sei eine Theologie gefordert, die es versteht, Gott so zu denken, dass er „zugleich persönlich und alles ist“. Es komme darauf an, „Gott als Einzelwesen zu denken, das zugleich alles ist. Das ist freilich leichter gesagt als getan.“ Die Religionen denken nach Klaus Müller auf das „Ganze“ hin. „Die sogenannten westlichen, also monotheistischen Religionen geben diesem Ganzen das Antlitz einer personalen Instanz, die sogenannten östlichen fassen es in den Gedanken einer All-Einheit, in die alles Einzelne und Endliche eingehen… Trotzdem müssen sich auch die Monotheismen … (Glaubensweisen an Einen Gott; d. Red.) an den Gedanken gewöhnen, dass Gott auch noch größer ist als der Monotheismus und darum … als zugleich persönlich und alles gedacht werden muss. Wie das genau gehen könnte, wissen wir trotz genialer Vorarbeiten mancher Denker aus der Epoche des Idealismus bis heute nur in Ansätzen.“

Unverfügbar - in der Nacht

Die nichtpersonalen Begrifflichkeiten und Bilder für „Gott“ besitzen den Vorteil, dass sie jene Gottesbilder vermeiden, die heute als anstößig und unzeitgemäß empfunden werden. Einige sind mit Vorstellungen von Herrschertum verbunden (Herr, König, Richter). Manche sind zur bloßen Floskel entartet oder wirken kitschig, ja kindisch (lieber Gott, Himmelsvater). Auch die von Jesus bevorzugte Anrede „Vater“ ist für viele Menschen nicht nachvollziehbar geworden durch Väter, die sich in ihrer Familie wie Tyrannen aufspielen oder die auf der anderen Seite als klägliche Versager wahrgenommen werden. Angesichts des Leids und Elends in der Welt redet niemand mehr gern vom Allmächtigen oder Allgütigen. Bedenklich erscheint auch die Gottesbezeichnung „Schöpfer“ im Hinblick auf die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften, der Evolution und der Astrophysik.

Nichtpersonale Metaphern können das „heilige Geheimnis“, das „ganz Andere“ in mancher Hinsicht besser umschreiben als personale Bilder, die unter dem Verdacht stehen, eine menschliche Projektion zu sein, Gott antropomorph, also menschengestaltig aufzufassen. Doch Gott ist „nicht zu fassen“. Er übersteigt jedes sprachliche Fassungsvermögen, ist unbegreiflich. Er kann mit keinem „Be-Griff“ adäquat umschrieben oder gar benannt werden. Gott ist unverfügbar. Er steht für die Regelung innerweltlicher Verhältnisse nicht zur Verfügung, ist nicht funktionalisierbar - weder zur Begründung eigener Machtansprüche („von Gottes Gnaden“) noch zur Beglaubigung von Gewaltanwendung, wie es etwa der Schlachtruf der Kreuzfahrer „Gott will es“ tat.

„Ein reifer Glaube ist ein geduldiges Ausharren in der Nacht des Geheimnisses“, schrieb der tschechische Religionssoziologe Tomáš Halík. Erst jenseits aller Nutzbarmachung kommt das Eigentliche, das Erste und Letzte, in den Blick, das es wert ist, um seiner selbst willen zu ihm in ein Verhältnis zu treten. Und erst in einem solchen Verhältnis kann der Mensch zur Einsicht kommen, dass er nicht aufgehen muss in einer von funktionalen Notwendigkeiten beherrschten Welt.

Zum Autor: Norbert Scholl war Professor für katholische Theologie und Religionspädagogik.

Dieser Beitrag wurde in CHRIST IN DER GEGENWART (CIG 2/2014) vom 12. Jänner 2014 veröffentlicht.

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