10.05.2010, Dr. Paul Weß
Der folgende Artikel erschien in leicht gekürzter Form in: "Die Furche" 66 (2010) Nr. 19 vom 12. Mai 2010, Seite 19
Die tieferen Hintergründe der gegenwärtigen Krise der katholischen Kirche und die Notwendigkeit von Korrekturen.
„Oh, wie groß ist der Priester! ... Gott gehorcht ihm: Er spricht zwei Sätze aus, und auf sein Wort hin steigt der Herr vom Himmel herab und schließt sich in eine Hostie ein.“
Diese Sicht vom Amtspriester nach der katholischen Lehre hatte der heilige Johannes Maria Vianney, der Pfarrer von Ars. In seinem Schreiben an die Priester vom 18. Juni 2009 zum Jahr des Priesters zitiert Papst Benedikt XVI. zustimmend diese Aussagen. Ähnlich drückte es in einem Hirtenbrief vom 2. Februar 1905 über „Die dem katholischen Priester gebührende Ehre“ der damalige Fürsterzbischof von Salzburg, Kardinal Johannes Katschthaler, aus: „Einmal hat Maria das göttliche Kind zur Welt gebracht. Und sehet, der Priester tut das nicht einmal, sondern hundert und tausendmal, sooft er zelebriert.“ Hier wird übersehen, dass in der Messfeier nicht der Priester mit göttlicher Vollmacht die Gaben verwandelt, sondern die Gemeinde unter Berufung auf den Auftrag Christi Gott bittet, dass durch seinen Geist Brot und Wein zu Zeichen der Gegenwart Jesu werden.
In jenem überhöhten Priesterbild handelt es sich keineswegs nur um Auswüchse eines priesterlichen Strebens nach Würde und Macht, sondern bereits um eine sehr alte Theologie. Schon Gregor von Nazianz (gest. 390) schreibt über den Priester: „Er ... lässt die Opfer zum himmlischen Altar emporsteigen, ... erneuert die Schöpfung, ... schafft sie neu für die himmlische Welt und, was das Erhabenste ist, wird vergöttlicht und soll vergöttlichen“ (zitiert nach dem Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1589; die letzten Worte sind auch dort kursiv gedruckt). Obwohl derselbe Gregor die Gottheit Christi damit begründet, dass dieser uns vergöttlichen soll, was nur Gott könne, wird die Vollmacht zur Vergöttlichung hier auch dem Priester zugeschrieben. Dahinter steht die alexandrinisch-hellenistische Erlösungslehre, die der heilige Athanasius in die Worte fasste: „Gott ist Mensch geworden, damit wir Götter werden“ – im Auftrag und mit der Vollmacht Christi auch durch die Bischöfe und die Priester.
Zugleich menschlich und göttlich
Daher ist die Kirche nach den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils „zugleich menschlich und göttlich“ (Liturgiekonstitution „Sacrosanctum concilium“, Art. 2; Kir-chenkonstitution „Lumen gentium“, Art. 8). Mit „göttlich“ ist hier nicht nur „von Gott bewirkt“ oder „von Gottes Geist bewegt“ gemeint, sondern in „Analogie mit dem Geheimnis des fleischgewordenen Wortes“ eine Teilhabe an der Gottheit. Dementsprechend lehrt diese Kirche über sich, dass durch Jesus Christus „das Lehramt der Hirten ... in Fragen des Glaubens und der Sitten mit dem entsprechenden Charisma der Unfehlbarkeit ausgestattet sei“ (Erklärung der Glaubenskongregation „Mysterium ecclesiae“ vom 24. Juni 1973). Diese Lehre von der eigenen Unfehlbarkeit verhindert eine Revision dieser Lehre und aller anderen Dogmen, auch jener über die hierarchische Struktur der Kirche (Papstamt, Priesterbild). Wo dennoch Korrekturen vorkamen – wie im Zweiten Vatikanum bezüglich der Religionsfreiheit – werden sie nicht als solche eingestanden und wird versucht, eine Kontinuität der Lehre zu behaupten (so der Papst in seinem Bemühen, die Pius-Priesterbruderschaft zurückzugewinnen).
Tabu: sündige Strukturen
Daraus ergibt sich, dass die Kirche als solche nie sündige Strukturen und schuldhafte Versäumnisse eingestehen, sondern nur die Sünden einzelner „Menschen der Kirche“ zugeben kann (so in den Vergebungsbitten am Ersten Fastensonntag des Heiligen Jahres 2000). Aber auch diese wurden zumindest bisher oft geheim gehalten, nicht nur um des Rufes der Täter willen, sondern um den Anschein einer göttlichen Heiligkeit der Kirche und besonders ihrer Priester und Bischöfe zu wahren. Das ist der Kirche angesichts der Missbrauchsfälle durch ihre Amtsträger in jüngster Zeit zum Verhängnis geworden. Es wäre jedoch ungerecht, den jetzigen Leitungsorganen in der Kirche dafür die Hauptverantwortung anzulasten, sie halten sich nur an die vorgegebene Tradition, in der sie ausgebildet wurden, sind eher „Opfer“ eines Systems. Solange die Päpste die Bischöfe und die Kardinäle, die dann den nächsten Papst wählen, nach diesen Kriterien aussuchen, wird sich daran kaum etwas ändern.
Das völlig überhöhte Priesterbild ist selbst auch eine wichtige Ursache der gegenwärtigen Kirchenkrise. Denn es kann dazu führen, den Zölibat unter falschen oder ungenügenden Voraussetzungen auf sich zu nehmen. Ein vermeintlich „vergöttlichter“ Priester ist in Gefahr, sich über seine Grenzen und sein Angewiesensein auf mitmenschliche Liebe erhaben zu fühlen und seine Sehnsucht nach spürbarer Nähe und Zärtlichkeit zu verdrängen. Er sieht Gott als sein eigentliches Ziel und beachtet nicht, dass gerade menschliche Zuneigung und Gemeinschaft die wichtigsten Orte der Erfahrung der Liebe Gottes sind, der uns diese Begegnungen und Beziehungen schenkt. Was gegebenenfalls unter Opfern ertragen und in der Liebe zu Gott und den Menschen im Glauben durchgehalten werden kann, wird dann unter unrichtigen Voraussetzungen als Lebensform gewählt. Der Fehler liegt hier nicht im Zölibat, sondern bereits in jenem „übernatürlichen“ Priesterbild.
Diese Problematik wird in der lateinischen Kirche durch die Zölibatsverpflichtung für die Priesteramtskandidaten noch verschärft: In einem Alter, wo viele von ihnen die ganze Tragweite dieses Schrittes noch nicht ermessen können, wird ihnen eine Lebensentscheidung abverlangt. Dabei kann es sein, dass eine noch vorhandene starke Mutterbindung oder nicht erkannte homosexuelle oder pädophile Neigungen den Verzicht auf eine Ehe scheinbar erleichtern. Wenn die Ehelosigkeit die Bedingung für das Priesteramt ist, können die zukünftigen Amtspriester oft nicht erkennen, ob sie den Zölibat nur um dieses Berufs willen in Kauf nehmen oder ihn unabhängig davon als ihre Lebensform bejahen. Im ersten Fall werden sie ihn nur unter nachträglichen Krisen einhalten können oder daran scheitern. Es wird öfters zu Kompromissen kommen, an denen die Beteiligten und der Ruf des Zölibats leiden.
Hinter der Unfähigkeit der Kirche, an diesem überhöhten Selbstverständnis und Priesterbild etwas zu korrigieren, steht ihre Lehre von der Vergöttlichung. Von einem „Wie-Gott-Werden“ ist schon im ersten Buch der Bibel die Rede. Allerdings nicht als eine Verheißung für die Menschen, sondern in einem strikten Verbot, weil es zum Tod führt: „Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn sobald du davon isst, wirst du sterben“ (Gen 2,16f). Selbst wie Gott die Maßstäbe von Gut und Böse setzen (dies ist hier mit „erkennen“ gemeint) zu wollen, ist in der Bibel das Wesen der Sünde. Die Versuchung dazu wird in der Bibel durch die Schlange symbolisiert (vgl. die Redewendungen „Ein Verdacht schleicht sich ein“, „Misstrauen vergiftet die Atmosphäre“); diese sagt: „Nein, ihr werdet nicht sterben. Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse“ (Gen 3,4f).
Gott sagt in der Geschichte vom Sündenfall nicht zum Menschen: Du darfst von dem Baum der Erkenntnis nicht selbst nehmen, sondern musst warten, bis ich dir gebe, sondern: „Du darfst davon nicht essen, denn sobald du davon isst, wirst du sterben.“ Es ist unmöglich, dass etwas Geschaffenes wie Gott wird, weil ein Gott gleich „gemachtes“ oder gewordenes Geschöpf ein Widerspruch in sich ist. Daher ist es biblisch und theologisch unhaltbar, zu sagen, dass der Mensch „aus Gnade“ berufen sei, wie Gott zu werden, aber dies nur nicht eigenmächtig an sich reißen dürfe.
Korrekturen wie im Apostelkonzil
Es gab ein einziges Konzil in der Geschichte der Kirche, in dem zuvor geltende Lehren ausdrücklich relativiert und damit korrigiert wurden: das Apostelkonzil an ihrem Beginn, bei dem das Gebot der Beschneidung und andere jüdische Gesetze für die Heidenchristen aufgehoben wurden; man musste nicht mehr Jude werden, um Christ sein zu können. Damals gab es „heftige Auseinandersetzungen“ (Apg 15). Ein so weitreichendes Konzil wäre auch heute nötig, um die Vergöttlichungslehre zu korrigieren, die durch die „Platonisation“ des Christentums in dieses eingedrungen ist. Ein neues Anschließen an das biblische Glaubensverständnis muss möglich sein; damit man Christ sein kann, ohne eine bestimmte griechische Philosophie zu übernehmen. Dann kann auch das überhöhte und hierarchische Kirchen- und Priesterbild revidiert werden.
Der Autor, Paul Weß, ist Dozent für Pastoraltheologie an der Universität Innsbruck.