27.11.2012, Martin Werlen
Martin Werlen OSB, Abt des Benediktinerklosters Einsiedeln in der Schweiz, hielt anlässlich einer Feier zu "50 Jahre Zweites Vatikanisches Konzil" und "Eröffnung des Jahr des Glaubens" am 21. Oktober 2012 in der Stiftskirche Einsiedeln nachstehenden Vortrag, der zurecht große Beachtung erfahren hat. Ein Grußwort hielt der Generalvikar der Diözese Chur, Martin Kopp.
Miteinander die Glut unter der Asche entdecken, Eine Pro-Vokation zum Jahr des Glaubens 2012/2013
I
Ein junger Mann hatte alle Chancen, dass sein Leben gelingen würde. Er war begabt, hatte eine Umgebung, die ihn förderte, er genoss eine hervorragende Musikausbildung: Komposition und Geige. Alles sprach dafür, dass er ein berühmter Geiger werden würde. Aber nicht alles kommt immer so, wie wir uns das wünschen. So auch bei diesem jungen Mann nicht. Die Verletzungen bei einem schweren Autounfall im Alter von 18 Jahren beendeten seine Karriere als Geiger abrupt.
Bedauerlich. Er hatte alles, was es braucht, um ein erfolgreicher Musiker zu werden: Die Begabung, das Feuer, die Begeisterung, die Förderung. Und jetzt, von einem Moment zum anderen, war all das weg. Ein Aschenhaufen. Nicht durch eigene Schuld. Er sass nicht selbst am Steuer.
Alles vorbei – würden viele klagen. Schade! Bedauern. Resignation. Und er selbst? Wäre er ein eher konservativ handelnder Mensch gewesen, hätte er es vermutlich gleichwohl mit der Geige weiterprobiert. Mit ein wenig Verkrampfung wäre es vielleicht im Ortsorchester noch gegangen. Einfach halten, was noch zu halten ist. Wäre er ein eher progressiv handelnder Mensch gewesen, hätte er sich eventuell einer Aktionsgruppe angeschlossen, die sich für mehr Sicherheit im Strassenverkehr und für Unfallopfer engagiert.
Das waren nicht die Wege, die dieser junge Mann für sich wählte. Er stellte sich der Situation. Er versuchte das Beste daraus zu machen. Er entdeckte unter dem Aschenhaufen die Glut, die nicht zerstört wurde. Geigenspielen auf hoher Konzertstufe war nicht mehr möglich. Aber Dirigent auf hoher Konzertstufe konnte er werden. Und daran machte er sich mit allem Eifer. In der Zwischenzeit ist in ihm ein Feuer entfacht. Heute ist er einer der grössten Dirigenten der Welt: Der 52-jährige Franz Welser-Möst, Chefdirigent der Wiener Staatsoper.
II
Solche Beispiele machen Mut. Auch dort, wo viel Asche ist, kann noch Glut darunter sein und wieder neu ein Feuer zu brennen beginnen. Das dürfen wir auch in der Kirche nicht vergessen. Viele Christinnen und Christen nehmen heute in der Kirche vor allem Asche wahr. Dessen ist sich auch Papst Benedikt XVI. bewusst. Am 11. Oktober 2012 hat er ein Jahr des Glaubens eröffnet. Es soll dazu beitragen, „wieder die Freude am Glauben zu entdecken und die Begeisterung in der Weitergabe des Glaubens wiederzufinden.“ 1)
Asche in unserer Kirche sehen nicht nur Katholikinnen und Katholiken, sondern – teils mit grossem Bedauern – auch Menschen, die zu anderen Glaubensgemeinschaften gehören oder zu gar keiner.
Die hier vorliegenden Gedanken sind eine Provokation. Der Begriff ‚vocatio‘ ist darin enthalten: Ruf, Berufung. Und das ‚pro‘ sagt klar aus, dass die Berufung in positiver Weise herausgefordert und gefördert wird. Diese Gedanken wollen bewegen. Sie wollen eine Pro-Vokation sein. Sie wollen ermutigen, miteinander die Glut unter der Asche zu suchen, damit das Feuer wieder brennen kann. Jesus Christus selbst braucht das Bild vom Feuer, um seine Sendung zu beschreiben: „Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, es würde schon brennen!“ (Lk 12,49).
Wir wollen uns der heutigen Situation der Kirche stellen und das Beste daraus machen: Feuer brennen lassen. Selbstverständlich können wir nicht alle Fragen angehen. Vielleicht nicht einmal die Wichtigsten. Würden wir das versuchen, würden diese Zeilen gerade die nicht bewegen, die sich in dieser Welt oder in ihrer Gedankenwelt eingerichtet haben. Und diejenigen, die vor der Asche resignieren, würden sie nicht ermutigen trotz allem weiterzusuchen.
Dieses Schreiben ist kein Katechismus. Den gibt es bereits. Es ist ein Versuch, verschiedene Kritiken ernstzunehmen. Der heilige Benedikt ermutigt dazu. In seiner Mönchsregel schreibt er an die Adresse des Abtes, dass er sich bei geäusserter Kritik klug überlegen soll, ob der Herr diesen Menschen nicht gerade deswegen geschickt hat. 2) Eine solche Haltung überrascht – auch heute, 1500 Jahre später. Die Weisung ist Ernst zu nehmen. Schliesslich ist der heilige Benedikt der Vater des westlichen Mönchtums und hat mit seiner Mönchsregel die abendländische Kultur wesentlich mitgeprägt. Zudem hat ihn Papst Paul VI. 1964 zum Patron Europas ernannt. Und Papst Benedikt XVI. hat ihn aus freiem Willen und wohl mit Absicht zu seinem Namenspatron gewählt.
Wer systematisch dafür sorgt, dass Kritiker verstummen – nicht etwa, weil die Probleme gelöst sind -, zerstört Kirche, wie fromm er sich auch aufzuführen sucht. Es ist fatal, wenn besorgte Getaufte kaltgestellt werden, weil sie Asche schlicht und einfach Asche nennen. Nicht selten hört man die verletzende Bemerkung: „Wenn es ihnen nicht passt, sollen sie doch austreten!“ Das, was so vielen Menschen Mühe macht mit der Kirche, betrifft gerade nicht das Glaubensgut, sondern das Getue darum herum. Es gibt kirchliche Kreise, in denen alles, was der Papst sagt oder tut, nur gelobt werden darf. Sie sind darin päpstlicher als der Papst, der im Vorwort zum ersten Jesus-Buch schreibt: „Gewiss brauche ich nicht eigens zu sagen, dass dieses Buch in keiner Weise ein lehramtlicher Akt ist, sondern einzig Ausdruck meines persönlichen Suchens ‚nach dem Angesicht des Herrn‘ (vgl. Ps 27,8). Es steht daher jedermann frei, mir zu widersprechen. Ich bitte die Leserinnen und Leser nur um jenen Vorschuss an Sympathie, ohne den es kein Verstehen gibt.“
Kritik darf sein – ja sie muss sein. Auch in der Kirche. Die Heilige Schrift selbst legt davon Zeugnis ab. Selbstverständlich kann mit den vorliegenden Zeilen nicht alle Kritik aufgenommen werden. Hier finden sich auch nicht die Lösungen zu den Problemen. Aber es soll ermutigt werden, in den Sackgassen neue, ja vielleicht sogar naheliegende Wege zu entdecken, statt der Ohnmacht, Resignation und Hilflosigkeit zu erliegen. Einiges ist zugespitzt formuliert, um wirklich zu bewegen. Es wird wohl auch Staub aufwirbeln. Aber: Staub aufwirbeln kann man nur dort, wo es Staub hat. Selbst Widersprüchlichkeiten und Unehrlichkeiten im Leben der Kirche sollen angesprochen werden – wenn immer möglich respekt- und liebevoll und mit einem Augenzwinkern. Einblicke in die Geschichte können uns dabei helfen. Denn Geschichte ist nicht einfach Vergangenheit. Geschichte ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Darum zeigt Geschichte oft, warum etwas so ist, wie es nun einmal ist, aber auch, warum es heute anders sein könnte und vielleicht sogar sein müsste.
Vieles kann man nicht mit Worten ausdrücken. Die meisten Einsichten werden geschenkt, wenn wir nicht an einzelnen Wörtern hängen bleiben, sondern darüber nachdenken und vielleicht sogar meditieren. Dazu laden auch die Bilder meines Mitbruders Pater Jean-Sébastien Charrière ein: Sich den Aschenhaufen stellen, aber nicht davor stehenbleiben. Gemeinsam die Glut suchen, gemeinsam ein Feuer entfachen, das Wärme schenkt.
III
Einen Aschenhaufen nahm auch der alte Mann wahr, den die Kardinäle am 28. Oktober 1958 völlig unerwartet zum Papst wählten. Er war ein sehr konservativer Kirchenmann. Aber viel wichtiger als die konservative Haltung war bei Johannes XXIII. etwas anderes: Er war Mensch. Er war Christ. Und das war ihm wichtiger als seine Vorlieben – ob nun konservativer oder progressiver Herkunft. Er war bereit, sich der Situation der Kirche und der Welt zu stellen. Er war bereit, die Glut unter der Asche zu suchen - das Geschenk des Glaubens -, und es den Menschen unserer Zeit weiterzugeben. Er war bereit zu hören, was Gott heute sagen will, damit das Feuer wieder zum Brennen kommt.
Bei vielem kam die Glut des Glaubens kaum mehr durch den Aschenhaufen. Vieles war über die Jahrhunderte hindurch erkaltet und erstarrt. Es funktionierte teilweise trotzdem recht gut, weil der Staat die Kirche in mancher Weise privilegierte und der soziale Druck das Ganze zusammenhielt. So war es zum Beispiel der Bäckerfamilie unmöglich, am Sonntag nicht in den Gottesdienst zu gehen. Ansonsten wären bei ihnen die Kunden weggeblieben. Wenn die Zahlen beim Gottesdienstbesuch stimmen, muss deshalb noch lange nicht die Glut die motivierende Kraft sein. Vieles war einfach so, weil es immer so gewesen war. Man hatte sich an Vieles gewöhnt. Der Geigenbauer Martin Schleske macht auf Asche aufmerksam, die in solchen Situationen oft kaum wahrgenommen wird: „Es ist eine subtile Form des Unglaubens, wenn man sich an das, was man glaubt, gewöhnt hat. … In der Gewöhnung ist die Seele ohne Hoffnung und der Geist ist ohne Fragen.“ 3) Das nahmen tief gläubige Menschen selbst im Gottesdienst wahr, denn auch in der Liturgie war vieles erkaltet und erstarrt. Ein grosser Kenner schreibt darüber anfangs der 60er Jahre, ausgehend von der durch das Konzil von Trient angeregten Liturgiereform: „Kern dieser Massnahmen war die Zentralisierung aller liturgischen Kompetenzen bei der Ritenkongregation, dem postkonziliaren Organ zur Durchführung der liturgischen Idee von Trient. Diese Massnahme erwies sich jedoch als zweischneidig. Neue Wucherungen wurden auf diese Weise zwar in der Tat verhindert, aber das Geschick der abendländischen Liturgie war nun an eine streng zentralistisch bestimmte und rein bürokratisch arbeitende Behörde gebunden, der es gänzlich an historischem Blick gebrach und die das Problem der Liturgie rein rubrizistisch-zeremoniell, sozusagen als Ordnungsproblem der Hofetikette des Heiligen ansah. Diese Bindung bewirkte im folgenden eine völlige Archäologisierung der Liturgie, die jetzt aus dem Studium lebendiger Geschichte in dasjenige der reinen Konservierung überführt und so zugleich zum inneren Absterben verurteilt war. Die Liturgie war zu einem ein für allemal abgeschlossenen, fest verkrusteten Gebilde geworden, das den Zusammenhang mit der konkreten Frömmigkeit um so mehr verlor, je mehr man auf die Integrität der vorgegebenen Formen achtete. … Sollte der Gottesdienst der Kirche wirklich wieder Gottesdienst der Kirche im Vollsinn, das heisst aller Gläubigen werden, so musste er wieder in Bewegung geraten.“ 4) Dieses Urteil stammt von Joseph Ratzinger.
Dem alten Papst Johannes XXIII. gelang es, Bewegung in die Kirche zu bringen. Niemand hätte es ihm zugetraut. Die ganze Welt war darüber erstaunt. Diese Bewegung erreichte auch die Konzilsväter – entgegen grossen Widerstands einiger in der römischen Kurie. Die Bewegung wurde nicht deswegen möglich, weil die Konzilsväter konservativ oder progressiv waren, sondern weil sie merkten, dass es um mehr geht: Um ein glaubwürdiges Zeugnis in unserer Zeit. Vor 50 Jahren, in den ersten Tagen des Zweiten Vatikanischen Konzils, schrieben die in Rom versammelten Bischöfe eine Botschaft an die Welt, welche heute noch die Glut spüren lässt, der sie auf der Spur waren: „An alle Menschen und an alle Nationen möchten wir die Botschaft des Heiles, der Liebe und des Friedens senden, die Jesus Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, der Welt gebracht und der Kirche anvertraut hat. Aus diesem Grund haben wir uns auf den Wunsch des Heiligen Vaters, Papst Johannes' XXIII., hier versammelt […]. Bei dieser Versammlung wollen wir unter der Führung des Heiligen Geistes Wege suchen, uns selber zu erneuern, ‹um dem Evangelium Jesu Christi immer treuer zu entsprechen›. Wir wollen uns bemühen, den Menschen unserer Zeit die Wahrheit Gottes in ihrer Fülle und Reinheit so zu verkünden, dass sie von ihnen verstanden und bereitwillig angenommen werde […]. Aus allen Völkern unter der Sonne vereint, tragen wir in unseren Herzen die Nöte der uns anvertrauten Völker, die Ängste des Leibes und der Seele, die Schmerzen, die Sehnsüchte und Hoffnungen. Alle Lebensangst, die die Menschen quält, brennt uns auf der Seele. Unsere erste Sorge eilt deshalb zu den Schlichten, zu den Armen und Schwachen. In der Nachfolge Christi erbarmen wir uns über die vielen, die von Hunger, Elend und Unwissenheit geplagt sind. Wir fühlen uns mit allen jenen solidarisch, die noch kein menschenwürdiges Leben führen können, weil es ihnen an der rechten Hilfe fehlt […].“ 5)
Das ist Programm für das eben begonnene Konzil. Das ist der Geist des Konzils, von dem sich die Kirche nicht distanzieren kann, ohne ihre eigene Sendung zu verraten. Auf www.konzilsblog.ch wird Tag für Tag mit kurzen Texten hingeführt zu dem, was das Zweite Vatikanische Konzil war und was es in sich birgt.
IV
Und heute, fünfzig Jahre danach? Die Situation der Kirche ist dramatisch – nicht nur in den deutschsprachigen Ländern. Dramatisch ist sie nicht nur wegen massiv zurückgehender Zahlen von Priestern und Ordensleuten oder dem kontinuierlichen Rückgang des Kirchenbesuchs. Das sind Fakten, die leicht feststellbar sind. Das wirkliche Problem ist nicht numerischer Natur. Das wirkliche Problem ist: Es fehlt das Feuer! Wer versucht, mit Zahlen aus anderen Kontinenten die Situation gut- oder schlechtzureden, bleibt bei der Asche stehen. Wir müssen uns der Situation stellen und dahinter schauen.
Aber selbst die Zahlen machen auf vieles aufmerksam. Von der Schweizer Bevölkerung gehören ca. 40% zur römisch-katholischen Kirche und ca. 30% zur reformierten Kirche. Die dritte Gruppe bezüglich Religionszugehörigkeit umfasst 20% der Bevölkerung. Es ist diejenige der Menschen, die zu keiner Glaubensgemeinschaft gehören. Diese Gruppe ist die am schnellsten wachsende. Die meisten von ihnen oder ihre Familien gehörten einmal zu einer christlichen Glaubensgemeinschaft. Das muss uns zu denken und auch zu handeln geben!
Wenn der Prozess so weitergeht, kann die erkaltete Kirche tatsächlich in unseren Breitengraden mit ihren Institutionen verschwinden. Wer die Schuld bei Menschen anderer Glaubensgemeinschaften oder sogar bei denjenigen sucht, die sich von jeder Glaubensgemeinschaft verabschiedet haben oder diese sogar bekämpfen, bleibt bei der Asche stehen.
Was sollen wir in dieser Situation tun? Eher konservativ eingestellte Menschen versuchen zu retten, was noch zu retten ist. Sie suchen Verbündete. In kleinen Gruppen feiern sie den Glauben und klagen über die Entwicklungen in der Welt, besonders über den Säkularismus und den Relativismus. Nicht selten machen sie das Zweite Vatikanische Konzil für diese Situation verantwortlich. Die konservative Gefahr ist es, sich gläubig ausserhalb des Wandels zu bewegen und sich damit von Gott zu entfernen, der bei den Menschen sein will. Damit droht die Kirche letztlich zum musealen Relikt vergangener Zeiten zu verkommen. Genau dieser Versuchung hat die Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil widerstanden.
Eher progressiv eingestellte Menschen tun und organisieren alles Mögliche, um die Menschen zu erreichen. Sie starten Aktionen, um die Verantwortlichen in der Kirche zu bewegen. Mit Initiativen suchen sie gegen den Aschenhaufen anzutreten und sich um die Opfer zu kümmern. Die progressive Gefahr ist es, sich in den Wandel zu stellen und damit von den Modeströmungen mitgerissen zu werden. Damit droht die Kirche sich zu erübrigen. Auch dieser Versuchung hat die Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil widerstanden.
Die Polarisierung zwischen konservativ und progressiv in der Kirche ist heute gross. Der Graben lässt kaum mehr einen Dialog zu. Auf beiden Seiten wird nicht selten der anderen Seite die Kirchlichkeit abgesprochen. Ein Blick in verschiedene Medien der jeweiligen Gruppen lässt erschrecken. Auf beiden Seiten ist – manchmal erst nach langem Suchen - guter Wille erkennbar, aber auch Asche, um die sich vieles dreht. Eines ist klar: Wenn wir als Kirche in den Polarisierungen stehen bleiben, dann stehen wir den Menschen im Weg, die Glut zu entdecken, die Leben schenkt und auch heute noch brennen will.
Grabenkämpfe tragen nicht zu ansteckender Begeisterung bei. Sie trennen. Sie lähmen. Die Aufgabe der Kirche ist es nicht, Systeme oder Machtpositionen aufrechtzuerhalten. Die Versuchung von Systemerhaltung gibt es bei den „Konservativen“ genauso wie bei den „Progressiven“. Nur die Etiketten sehen ein wenig anders aus. Wenn wir auf den eingefahrenen Gleisen bleiben, tragen wir zum Aschenhaufen bei. Es ist auch nicht die Aufgabe der Kirche, eine Parallelgesellschaft zu bilden oder sich gänzlich aufzugeben. Eine grosse Herausforderung ist es – ob man nun konservativ oder progressiv zu denken neigt – nicht beim Traum von einer idealen Situation stehenzubleiben. Eine ideale Situation hat es nie gegeben.
Gehen wir einen Schritt weiter: Es geht in der Kirche nicht um die Frage von konservativ oder progressiv. Nichts muss so bleiben, weil es – aus menschlicher Sicht – immer so war. Nichts muss geändert werden, weil es ‚in‘ ist, alles zu ändern. Es geht darum, heute Kirche zu sein, heute unseren Auftrag wahrzunehmen. Es geht nicht darum, uns dem Zeitgeist anzupassen. Es geht darum, den Zeitgeist wahrzunehmen, die Menschen in unserer Zeit zu lieben und das Evangelium zu ihnen zu tragen. Es geht nicht darum, Äusserlichkeiten zu erhalten, sondern treu zu sein. Unser Bemühen darf es nicht sein, konservativ oder progressiv zu sein. Unser Anliegen muss es sein, heute zu hören, was Gott uns sagen will und es auch zu tun. Darin sollen wir uns gegenseitig unterstützen. Vom seligen Papst Johannes XXIII. stammt das Wort: „Wir sind nicht auf Erden, um ein Museum zu hüten, sondern einen blühenden Garten zu pflegen.“
Diesen „anderen“ Weg weist uns das Zweite Vatikanische Konzil: Sich glaubend in den Wandel stellen. Das hat nichts mit Anpassung zu tun, wohl aber sehr viel mit dem Geheimnis von Weihnachten. Gott wird Mensch, um den Menschen dort abzuholen, wo er ist. Diese Haltung können wir in dem Mass einnehmen, in dem wir tief verankert im Glauben sind und uns zugleich der Welt nicht verschliessen. Das Ohr am Herzen Gottes und die Hand am Puls der Zeit! Unsere Aufgabe ist es, in die konkrete Situation – heute! – das Evangelium zu verkünden und Sauerteig in der Welt zu sein. Den Weg in diese Haltung fanden die Konzilsväter im Austausch zwischen konservativ Denkenden und progressiv Denkenden. Wer bei der Lektüre der Konzilstexte Aussagen sucht, die die eigene Haltung bestärken und dabei den Weg des Ringens und des Austausches übersieht, verpasst das Entscheidende dieses kirchlichen Jahrhundertereignisses. Das Zweite Vatikanische Konzil hat eine Kirche erleben lassen, in der die Gläubigen miteinander auf der Suche sind.
Nehmen Menschen unserer Zeit, fünfzig Jahre danach, die Kirche so wahr? Während der vergangenen Jahre haben sich in unserem Land sehr viele Menschen enttäuscht von der Kirche abgewandt, sei es durch einen Kirchenaustritt, sei es – was weit schwerer wiegt – durch eine innere Entfernung. Ehrlich suchenden Menschen – und solche gibt es in unserer Zeit sehr viele - fällt es oft gar nicht ein, bei der Kirche anzuklopfen. Warum? Wo ist Asche, die entfernt werden muss, damit die Glut besser zum Vorschein kommt und ein Feuer entfacht werden kann?
V
Diese Fragen müssen mit aller Ernsthaftigkeit angegangen werden. Das ist leider nicht selbstverständlich. Es gibt Kirchenmänner, die heute darüber klagen, dass seit 40 Jahren immer die gleichen Probleme thematisiert werden. Das sollte eigentlich einen durchschnittlich intelligenten Menschen nicht überraschen. Die gleichen Probleme werden immer wieder thematisiert, weil sie noch nicht gelöst sind. Andere Kirchenmänner wagen es immer noch zu sagen, dass es nur Probleme der deutschsprachigen Länder seien. Erstens stimmt das meistens nicht und zweitens muss man sich fragen, mit welcher Begründung Probleme im deutschsprachigen Gebiet nicht gelöst werden sollten, weil es diese Probleme in anderen Sprachgebieten nicht gibt. Probleme muss man dort lösen, wo sie auftreten.
Wenn Probleme nicht so angegangen werden können, dass die grosse Mehrheit der Betroffenen ermutigt weitergeht, ist es offensichtlich ein Nichternstnehmen einer Situation und der Menschen, die in ihr leben. Das gilt auch für die Kirche. Wenn Probleme nicht angegangen werden oder nicht einmal über sie gesprochen werden darf, so wird mit solchen Verhaltensweisen die Glaubwürdigkeit – und damit aber auch das Glaubensgut - aufs Spiel gesetzt. Es geht um Wesentliches!
Das Nichternstnehmen einer Situation und eines Menschen ist ein Akt des Ungehorsams. Weil Verantwortungsträger ihre Aufgabe nicht wahrnehmen und somit ungehorsam sind, werden als Nothilfe und Hilfeschrei Initiativen gestartet, die verständlich sind, aber auch zur Abspaltung und zum Verlassen der Institution führen können. Der von Amtsträgern beklagte Ungehorsam ist sehr oft eine Folge des Ungehorsams der Amtsträger. Ich habe Verständnis für viele Initiativen, die in den vergangenen Jahrzehnten gestartet wurden. Selbst möchte ich aber – zusammen mit den Klostergemeinschaften im Fahr und in Einsiedeln – einen anderen Weg weiterzugehen versuchen: Miteinander die Glut in der Asche entdecken. Das zeigt sich auch in der Bereitschaft, Probleme vor Ort anzugehen und zu lösen. Auf diesem Weg sind wir mit dem Schweizer Distriktoberen der Piusbruderschaft genauso im Gespräch wie mit dem berühmten Theologieprofessor aus Tübingen.
Ist das der richtige Weg? Bei der Zusammenkunft aller Benediktiner-Äbte im September 2012 in Rom – kurz vor Beginn der Bischofssynode zum Thema ‚Neuevangelisierung‘ - sagte ein Abt in einem Referat: „Es ist bemerkenswert festzustellen, welche geringe Bedeutung dem geweihten Leben in den 'Lineamenta' der Synode zuteil wurde.“ Wir sollten auch hier nicht beim Klagen stehenbleiben. Wenn wir dahinter schauen, entdecken wir das weitgehende Fehlen der Ordensleute im Vorbereitungspapier vielleicht sogar als ein gutes Zeichen: Ein Zeichen für unsere Autonomie.
Werfen wir einen Blick zurück. In der konstantinischen Wende ab 312/313 (also vor genau 1700 Jahren) wurden der Kirche viele Privilegien zuteil, die für uns bis heute selbstverständlich zur Kirche gehörten. Und wenn diese Privilegien jetzt von aussen in Frage gestellt werden oder sogar verloren gehen, haben wir den Eindruck, dass die Kirche zusammenbreche. Auch wir Klöster haben an diesen Privilegien Anteil. Und wir vergessen, dass das Entstehen des Mönchtums damals gerade eine Protestbewegung gegen diese Privilegien war. Es war nicht eine prophetische Bewegung im Staat, sondern in der Kirche! Monastisches Leben ist von Anfang an überraschend neu, gewagt, lebendige Tradition.
Diese Kraft hatten die Klöster zur Zeit der Reformation leider schon lange nicht mehr. Wir schwammen in fast allen ungelösten Problemen der Kirche mit. Von uns war in der grossen Krise damals nicht viel zu erwarten, obwohl gerade wir dazu berufen gewesen wären. Wir setzten vor allem darauf, dass alles so bleibt, wie es ist - auch zum eigenen materiellen Vorteil. Die not-wendenden wichtigen Impulse kamen nach der Spaltung von damals neuen Bewegungen.
Wenn doch das Ordensleben im Jahr des Glaubens 2012/2013 wieder eine Provokation sein würde, ein prophetisches Zeichen in der Kirche! Wir wollen in Einheit mit der Kirche leben, aber nicht einfach in allen nicht gelösten Problemen der Kirche mitschwimmen. Mit Worten von Joseph Ratzinger argumentiert Kardinal Kurt Koch: „Eine Ortskirche, die ohne Verbundenheit mit Rom ‚katholisch‘ sein will, würde damit gerade ihre wahre Katholizität verlieren, weil eine Katholizität, die auf Rom verzichtet, nicht mehr katholisch ist. Umgekehrt würde eine Ortskirche, die nur ‚römisch‘ sein will, sich gleichfalls selbst verleugnen und zur Sekte degradieren, weil eine Kirche, die nur noch römisch sein will, nicht mehr katholisch sein könnte.“ 6) Einfach gesagt: Eine Ortskirche, die nur römisch ist, ist genau so unkatholisch wie eine Ortskirche, die nur anti-römisch ist. Dasselbe gilt auch für den Bischof.
Eine Provokation sein: Miteinander die Glut unter der Asche suchen und das Feuer neu brennen lassen. Dazu gehört auch: Die Asche beim Namen nennen, damit wir als Kirche nicht der Glut im Wege stehen.
VI
Verhängnisvoll für die Wahrnehmung von Kirche und darum auch für ihre Verkündigung ist der Eindruck vieler Menschen: „In der Kirche bleibt alles beim Alten.“ Dieser Eindruck ist genau das Gegenteil von dem, wie Menschen im Evangelium auf Jesus reagieren. Oft heisst es, dass sie sehr erstaunt waren über ihn. Die Antwort, die er auch auf schwierige Fragen und Situationen gibt, ist nicht diejenige, die erwartet wurde. Es bleibt nicht einfach alles beim Alten. Jesus öffnet den Menschen die Augen für eine neue Dimension. Er führt sie in eine bis dahin unbekannte Weite. Gott schenkt immer wieder überraschende Wege in die Zukunft. Dasselbe entdecken wir auch in der Heiligenverehrung. Die Heiligen haben nicht einfach getan, was alle andern taten. Sie blieben nicht beim Alten. In den Heiligen schenkt Gott überraschende Wege in die Zukunft. Dieser gläubige Optimismus gehört zur reichen Tradition der Kirche. Kann er heute noch wahrgenommen werden?
Vermeiden müssen wir alles, was Menschen den Eindruck verstärkt: „In der Kirche bleibt alles beim Alten.“ Selbstverständlich geht es darum, das Glaubensgut zu wahren. Aber es muss sich immer überraschend neu und aktuell präsentieren. Dafür muss man sich wohl oder übel immer wieder von zeitbedingten Äusserlichkeiten und Selbstverständlichkeiten verabschieden und miteinander - alle Getauften! - um den richtigen Weg ringen. Ein grosser Theologe unserer Zeit meint dazu: „Es stehen sich gegenüber einerseits ein Denken, das von der ganzen Breite der christlichen Überlieferung ausgeht und von ihr aus die ständige Weite der kirchlichen Möglichkeiten zu beschreiben sucht; auf der anderen Seite ein rein systematisches Denken, das alleine die gegenwärtige Rechtsgestalt der Kirche als Massstab seiner Überlegungen zulässt und so jede Bewegung über sie hinaus als einen Sturz ins Bodenlose scheuen muss: Ihr Konservativismus beruht auf ihrer Geschichtsfremdheit und so auf einem Mangel an Tradition, nämlich an Offenheit für das Ganze der christlichen Geschichte.“ 7) Auch hier ist es wiederum Joseph Ratzinger. Traditionalismus ist nicht ein Zuviel an Tradition, sondern im Gegenteil ein Mangel an Tradition.
In traditionalistischen Kreisen sind zum Beispiel die Ministranten immer noch kleinere oder grössere „Kleriker“ (in italienischer Sprache ist die Bezeichnung „chierichetti“ für Ministranten heute noch üblich). Dies ist verständlich aus der Zeit, in der die Liturgie ein Gottesdienst der Kleriker war. Nur sie waren Diener des Altars und konnten Altardiener sein. Eine Frau hatte da selbstverständlich nichts zu suchen. Was der Chor sang, war nicht gültiger Teil der Liturgie. Der Priester musste diese Texte leise sprechen. Nur Kleriker nahmen Dienste wahr, eben im Notfall auch kleine „Kleriker“ als Ministranten. Dementsprechend war auch ihre Kleidung. Die Knaben kamen wie Bischöflein, Priesterlein oder Chorherrlein daher. Heute tragen die Ministrantinnen und Ministranten in den meisten Pfarreien ein weisses Kleid, das Taufkleid. Als Getaufte nehmen sie einen liturgischen Dienst wahr. Für diesen Reichtum unseres Glaubens und der Tradition hat uns das Zweite Vatikanische Konzil wieder die Augen geöffnet. Überall ist dieser Schritt noch nicht getan worden. Selbst im Petersdom in Rom tun immer noch kleine oder grosse „Kleriker“ den Dienst – gekleidet als Chorherren, ausserhalb der Papstgottesdienste wie Bischöflein. Es muss zumindest nachdenklich stimmen, wenn Priester heute wieder ohne besondere Erlaubnis ihres Bischofs auf eine solche Weise Liturgie feiern können, als ob es das Zweite Vatikanische Konzil nie gegeben hätte. Dass es dabei nicht um die Sprache geht, sollte aus dem dargelegten Beispiel klar geworden sein.
Es ist wichtig, dass wir die reiche Tradition unseres Glaubens kennenlernen. Ein Vertrautsein mit der Tradition hilft neue Wege zu gehen, ohne des Modernismus verdächtigt zu werden. Traditionalismus lässt Menschen eng und starr werden. Glaube aber schenkt Weite. Davon ist auch der heilige Benedikt überzeugt, wenn er schreibt: „Wer aber im klösterlichen Leben und im Glauben voranschreitet, dem weitet sich das Herz und mit der unsagbaren Freude der Liebe eilt er voran auf dem Weg der Gebote Gottes.“ 8)
VII
Die Kirche hat in den vergangenen Jahren sehr viel an Glaubwürdigkeit eingebüsst. Eines wurde klar: Wichtiger als alle Worte und Texte der Kirche ist das konkrete Zeugnis im Leben. Dass viele Menschen „Kirche“ gleichsetzen mit Papst, Bischöfen, Priestern und vielleicht noch Ordensleuten, macht deutlich, wie wenig wir die Einsicht leben, dass alle Getauften zur Kirche gehören. Dies zeigt sich immer wieder in Aussagen, die stutzig machen müssten. Wenn zum Beispiel kirchliche Amtsträger heute noch in der Öffentlichkeit sagen, dass die meisten sexuellen Übergriffe nicht in der Kirche geschehen, sondern in Familien, verraten sie damit neben einer unverantwortlichen defensiven Haltung auch theologische Inkompetenz. Sie schwächen das Zeugnis der Kirche. Wenn sexuelle Übergriffe in Familien von Getauften geschehen, so sind das genauso Übergriffe in der Kirche. Zur Kirche gehören alle Getauften. Das Zeugnis aller Getauften ist gefordert.
Das Zeugnis ist gefordert. Dazu gehört auch das gemeinsame Suchen. Der heilige Benedikt sagt, dass man genau darauf achten müsse, ob einer wirklich Gott sucht, der ins Kloster eintreten will. 9) Gesucht sind nicht Menschen, die Gott besitzen, sondern Menschen, die Gott suchen. Darauf hat auch Papst Benedikt XVI. bei der Predigt vor seinem Schülerkreis am 2. September 2012 hingewiesen. Die katholische Kirche besitzt die Wahrheit nicht. „Niemand kann die Wahrheit haben, die Wahrheit hat uns, sie ist etwas Lebendiges!“ 10) Interessant ist, wie wenig solch tiefe Einsichten den Kirchenalltag bestimmen. Müsste nicht die Suche nach dieser Wahrheit eine gemeinsame Suche sein, ein Ringen, das immer wieder auch im Dialog stattfindet, so wie das im Zweiten Vatikanischen Konzil vorgelebt wurde? YOUCAT, der Jugendkatechismus der Katholischen Kirche, ist im Dialog mit jungen Menschen entstanden. Die Deutsche Bischofskonferenz hat vor zwei Jahren einen Dialogprozess initiiert, um anstehende Probleme und Herausforderungen miteinander anzugehen. Als Papst Benedikt XVI. im September 2011 Deutschland besuchte, hat er diesen Prozess weder angesprochen noch dazu ermutigt. Aus der reichen Tradition unserer Kirche hätte er dazu viele Impulse geben können, auch aus der Mönchsregel seines Namenspatrons.
Am 16. September 2012 hat ein Kardinal in einer Predigt beim Kongress „Freude am Glauben“ in Aschaffenburg im Ernst behauptet: „Im Evangelium steht nichts von Dialog.“ 11) Der Kirchenmann wurde vor zwei Jahren im hohen Alter von Papst Benedikt XVI. zum Kardinal ernannt und damit zu seinem engen Berater. Diese Aussage eines Menschen in solcher Stellung muss hellhörig machen – und auch die zustimmenden Kommentare im sich katholisch nennenden Internetforum. In der kirchlichen Tradition lesen wir das Evangelium anders – in Gemeinschaft mit vielen Heiligen. Für den heiligen Benedikt ist klar: Wenn wichtige Fragen anstehen, sollen alle zusammengerufen werden, weil Gott oft durch den Jüngsten offenbart, was das Bessere ist. 12) Wenn weniger wichtige Angelegenheiten anstehen, soll der Abt nur die Älteren um Rat fragen. 13) Wie beurteilt wohl Papst Benedikt die Fragen, vor denen die Kirche steht: wichtig oder weniger wichtig? Ein Gedanke drängt sich auf: Vielleicht liest der Kardinal ein anderes Evangelium (vgl. Gal 1,6f.). Denn in den von der Kirche approbierten Texten steht sehr viel über Dialog; das Wort selbst kommt im Originaltext häufig vor. Denken wir zum Beispiel an das Geheimnis der Menschwerdung Gottes oder an die vielen Gespräche Jesu mit Menschen. Unser trinitarisches Gottesverständnis geht sogar von einem permanenten inneren Dialog in Gott selbst aus. Alle diese Einsichten werden uns bei der Meditation der Guten Nachricht geschenkt, die uns die Kirche weitergegeben hat. Aber: Kardinäle kommen in diesen Evangelien tatsächlich nicht vor – auch nicht im Katechismus!
VIII
Die Kirche hat - basierend auf dem anvertrauten Glaubensgut und der reichen, bewährten Tradition - viel beizutragen zum Leben des Menschen, zum Beispiel auch zur Frage der Menschenrechte. Allerdings hat sie ihre Glaubwürdigkeit in den vergangenen Jahren aus verschiedenen Gründen auch hier weitgehend verloren. Die Akzeptanz einer Botschaft hängt nicht in erster Linie von ihrer Richtigkeit oder der Absicht ab, sondern von der Weise, wie sie von den Adressierten wahrgenommen wird. Verheerend sind sogenannte Double-Messages: Mit Worten eines behaupten, mit den Taten aber das Gegenteil sagen. Solches Verhalten schwächt das Zeugnis. Die Worte mögen noch so wahr sein, sie werden kaum aufgenommen. Eine solche Double-Message wird von Seiten der Kirche gerade im Zusammenhang mit den Menschenrechten wahrgenommen. Immer wieder sagen Menschen: Die Kirche steht für die Menschenrechte ein, interessiert sich dafür aber in den eigenen Reihen nicht. Eine solche Beobachtung wird meist einfach abgewehrt. Der heilige Benedikt würde wohl sagen: Wenn jemand eine Kritik anbringt, überlege man sich klug, ob der Herr ihn nicht gerade deswegen schickt. Mit einer solchen Haltung würde die Kirche sehr viel an Glaubwürdigkeit gewinnen - auch in Bezug auf Menschenrechte.
Kirchliche Kreise, die nicht selten grosse Unterstützung von Kirchenführern geniessen, haben grosse Mühe damit, wenn sich die Kirche zu menschenrechtlichen Themen äussert, die ihnen nicht passen. Dazu gehört zum Beispiel der Umgang mit Asylsuchenden. Wie können wir die Haltung der Verachtung oder der Gleichgültigkeit gegenüber aus anderen Ländern geflüchteten Menschen vertreten, wenn Jesus selbst sich gerade mit den Notleidenden identifiziert? Dies kann zum Gegenzeugnis in unserer Zeit werden. „Ich war fremd, und ihr habt mich (nicht) aufgenommen“ (Mt 25,35.43). Das kann uns nicht kalt lassen. Der selige Papst Johannes Paul II. kommentiert Mt 25,35-36 auf eindrückliche Weise: „Diese Aussage ist nicht nur eine Aufforderung zur Nächstenliebe; sie ist ein Stück Christologie, das einen Lichtstrahl auf das Geheimnis Christi wirft. Daran misst die Kirche ihre Treue als Braut Christi nicht weniger, als wenn es um die Rechtgläubigkeit geht.“ 14)
Der heilige Benedikt beginnt seine Mönchsregel mit dem Aufruf: „Höre!“ Viele Menschen unserer Zeit nehmen die Kirche nicht als hörende Kirche wahr – auf Gott hörend und auf die Menschen, die er liebt. Wir können als Kirche nur dann auf die Not der Menschen antworten, wenn wir ihre Not auch wahrnehmen und ihnen begegnen, wie Gott ihnen begegnet.
IX
Die Kirche – sagen wir ruhig: die Weltkirche – fährt zurzeit mit angezogener Handbremse. Und das macht ein Engagement in ihr nicht gerade attraktiv. Der Handlungsspielraum wäre gross, ohne dabei der Botschaft Jesu gegenüber untreu zu werden. Im Gegenteil: gerade die Treue zur Botschaft Jesu fordert mutiges Handeln. Wenn wir überzeugt sind von dem, was uns anvertraut ist, dann werden wir das auch mit allen heute zur Verfügung stehenden Mitteln tun und kommunizieren. Dann treten wir aus der defensiven Haltung in eine befreite und befreiende Offensive. Eine Kirche, der es um die Verkündigung des Evangeliums in unserer Zeit geht, braucht nicht Supermenschen in den Diözesen und Klöstern, wohl aber Menschen, die sich – im Vertrauen auf Gottes Gegenwart - dem Leben mutig stellen.
Viele Gläubige machen uns auf Situationen aufmerksam, die angegangen werden müssten. Die Probleme sind bekannt. Auch Papst Benedikt XVI. spricht sie verschiedentlich an. Aber es geschieht wenig Konkretes in Richtung Problemlösung. Oder besser gesagt: Es liegen viele aus tiefem Glauben, aus Liebe zum Menschen und aus Liebe zur Kirche erarbeitete Lösungsansätze vor. Auch von Theologen, die heute in den obersten Ämtern in der Kirche sind - sogar als Papst. Aber die Vorschläge werden von den heute Verantwortlichen nicht aufgenommen. Denken wir zum Beispiel an den Umgang mit Menschen, deren Ehe gescheitert ist und die in einer neuen Beziehung leben. Hier kennt die orthodoxe Tradition einen Umgang, der von der römisch-katholischen Kirche nie verurteilt wurde. Aus den bei den orthodoxen Schwestern und Brüdern gemachten Erfahrungen könnten wir viel lernen und selbst einen Weg finden, der uns auch für Menschen Sauerteig sein liesse, deren Weg nicht ideal verlaufen ist. Sie sind es, die das Dasein der Kirche in besonderer Weise heilsam erfahren müssten.
Es fehlen mutige Schritte in die Zukunft. Es fehlen Visionen. Es fehlt an Kreativität. Von höchsten Stellen der Kirche wurden in den letzten Jahrzehnten vor allem kirchliche Gruppierungen gefördert, die vor mutigen Schritten in die Zukunft Angst haben. Ist das Ausdruck von Glaubensstärke? Der heilige Benedikt sagt an die Adresse des Abtes, dass er mehr vorsehen als vorstehen soll. 15) Sollte das nicht für alle Amtsträger gelten? In diese Richtung weist der Basler Bischof Felix Gmür in seinem Statement vom 16. Oktober 2012 an der Bischofssynode in Rom: „Und wenn ein Christ einen Vorschlag macht oder eine Kritik anbringt, hören wir ihn aufrichtig an? In diesem Zusammenhang richtet die Mönchsregel des heiligen Benedikt eine weise Ermahnung an den Abt: ‘Der Abt überlege klug, ob ihn der Herr nicht vielleicht gerade deswegen geschickt hat’ (RB 61,4). Es scheint mir, dass wir mehr hören und mit Wohlwollen unterscheiden müssen, was die Christen uns sagen.“ 16)
Selbst mit kleinen Schritten könnte viel an Glaubwürdigkeit zurückgewonnen werden. Dabei könnte man auf beste apostolische Tradition zurückgreifen und würde so auch in der Ökumene mit der Ostkirche und in der Heilung der Spaltungen im Westen grosse Schritte machen. Dazu gehört zum Beispiel auch die Wiederentdeckung synodaler Prozesse. Wenn Einrichtungen wie die Bischofssynoden derart stark von der Kurie vorbereitet und begleitet werden, dass ja nichts Neues entstehen kann, zeugt das von Glaube? Müsste nicht auch hier passieren, was beim Zweiten Vatikanischen Konzil geschehen ist: Bischöfe nehmen ihre Verantwortung wahr und stellen sich – mit Hilfe hervorragender Theologinnen und Theologen – zusammen mit dem Papst glaubend in den Wandel. Und lassen gutgemeinte Papiere um Gottes Willen einfach Papier sein!
X
In den letzten Jahrzehnten wurde mit Bischofsernennungen sehr viel an Glaubwürdigkeit zerstört. Eigentlich müsste es für die Kirche im 21. Jahrhundert eine Selbstverständlichkeit sein, dass die Getauften und Gefirmten der betroffenen Diözese in diesen Ernennungsprozess in angemessener Weise mit einbezogen würden. Das ruft uns die Kirche immer wieder in Erinnerung. Erstaunlich, was der heilige Johannes Chrysostomus (+407) in einem Kommentar zur Apostelgeschichte zur Wahl des Matthias schreibt: "'Damals erhob sich Petrus im Kreis der Brüder.' - Voll Eifer, weil Christus ihm die Herde anvertraut hat, ergreift der Sprecher der Apostel immer zuerst das Wort: Brüder, einer von uns muss gewählt werden. Er lässt die Menge entscheiden. Dadurch stärkt er das Ansehen des zu Erwählenden und entzieht sich selbst der Anfeindung durch die andern; so etwas ist nämlich immer die Quelle grossen Übels. … Konnte Petrus nicht selbst die Wahl treffen? Aber durchaus! Doch tut er es nicht, um den Anschein der Begünstigung zu vermeiden. … Weiter heisst es: 'Sie stellten zwei Männer auf: Josef, genannt Barsabbas, mit dem Beinamen Justus, und Matthias.' Nicht Petrus stellte sie auf, sondern alle zusammen." Was will die Kirche uns wohl mit diesem Text sagen, wenn sie ihn am Fest des heiligen Matthias ins Stundengebet aufgenommen hat? Sie will wohl, dass wir ihn meditieren und daraus etwas lernen. Kann sie das aber gleichzeitig faktisch verbieten, ohne dabei viel an Glaubwürdigkeit zu verlieren? Selbstverständlich kann die Mitbestimmung der Wahl eines Bischofs durch die Diözese auch einmal daneben gehen – aber kaum mehr als das mit der heutigen Vorgehensweise bei der Bestellung fast aller Bischöfe der Fall ist. Zudem ist die demokratische Wahl gerade bei Orden durch die Jahrhunderte hindurch eine Selbstverständlichkeit geblieben und hat sich im Grossen und Ganzen bewährt. Der derzeitige Abt von Einsiedeln wurde nach der Weisung des heiligen Benedikt (6. Jahrhundert!) von der Gemeinschaft gewählt und von Papst Johannes Paul II. zum Abt von Einsiedeln ernannt. Dies war zumindest kein Hindernis für die Seligsprechung des Papstes…
XI
Die zölibatäre Lebensform ist ein möglicher Weg der Nachfolge Jesu Christi, genauso wie die eheliche Lebensform. Beide Lebensformen sind Charismen – Geschenk Gottes. Dies wird in der Öffentlichkeit kaum mehr so wahrgenommen – auch nicht unter Getauften. Wir haben es fertiggebracht, die Christusnachfolge in der Ehelosigkeit so zu präsentieren, dass sie einfach als Gesetz gilt. Im Kirchenrecht heisst es: „Die Kleriker sind gehalten, vollkommene und immerwährende Enthaltsamkeit um des Himmelreiches willen zu wahren; deshalb sind sie zum Zölibat verpflichtet, der eine besondere Gabe Gottes ist, durch welche die geistlichen Amtsträger leichter mit ungeteiltem Herzen Christus anhangen und sich freier dem Dienst an Gott und den Menschen widmen können.“ 17) Könnte es nicht auch anders tönen? Könnte die Zulassung zur Weihe nicht anders gestaltet und die zölibatäre Lebensweise von Christinnen und Christen in der Folge anders wahrgenommen werden? Zum Beispiel so: „Der Zölibat der Kleriker, gewählt für das Reich Gottes und sehr angemessen für das Priesteramt, soll gemäss der Tradition der Universalkirche überall grosse Wertschätzung erfahren. Genau gleich soll in Ehren gehalten werden der Status der in Ehe lebenden Kleriker, bestätigt durch die Praxis der Urkirche und der orientalischen Kirchen.“ 18)
Eher progressiv eingestellte Getaufte werden den Kopf schütteln und sagen, dass sie das nicht mehr für möglich halten. Das ist zu weit weg vom Denken in Rom. Eher konservativ eingestellte Getaufte werden den Autor der Häresie verdächtigen. Zudem haben sie das vielleicht schon lange vermutet. Beide Seiten werden überrascht sein, wenn sie erfahren, dass der angeführte Textvorschlag ein offizieller Text von Rom ist, unterzeichnet 1992 vom seligen Papst Johannes Paul II. Es handelt sich um Kanon 373 des Kirchenrechts für die orientalischen Kirchen, die in voller Einheit mit Rom stehen.
Damit ist klar, dass andere Wege möglich sind. Wer gleich an Häresie denkt, muss sich bezüglich Papsttreue Gedanken machen. Eines ist klar: Hier geht es nicht um Glaubensfragen. Es geht um Treue zur eigenen Berufung und Treue der Kirche zu ihrem Auftrag. Kirchenrechtliche Regelungen müssen im Dienst dieser Treue stehen. Alles soll so getan werden: „das Heil der Seelen vor Augen, das in der Kirche immer das oberste Gesetz sein muss.“ 19) Darum werden die Regelungen des Kirchenrechts im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder hinterfragt und gegebenenfalls neu angepasst. Es geht auch hier nicht um Änderungen, weil andere das auch tun, oder um ein Belassen, weil es immer so war. Es geht darum, unsere Berufung heute zu leben.
XII
Gott sagt Ja zum Menschen. Diesem Ja muss sich die Kirche immer neu aus ganzem Herzen anzuschliessen versuchen. Der Mensch ist Mann oder Frau. Mit dem Ja zur Frau tut sich die Kirche immer noch schwer. Sie zeigt sich in der Geschlechterfrage unbeholfen und ratlos. Eine nur von Frauen gestaltete Spezialausgabe der Vatikanzeitung „Osservatore Romano“ jeden vierten Donnerstag im Monat ist ein Versuch, vorsichtige Schritte zu tun, ebenso die Berufung einzelner Frauen in Aufgaben in der römischen Kurie, was noch vor wenigen Jahrzehnten unvorstellbar gewesen war. Solche Zeichen sind positiv zu werten, wirken aber trotzdem eher peinlich. Denken wir zum Beispiel an die Situation im Jahre 1994, als ein Entscheid von Papst Johannes Paul II. aus dem Jahre 1992 bekannt wurde, dass auch Frauen zum Ministrantendienst zugelassen werden können. Was für Führungspersönlichkeiten allgemein gilt, trifft wohl auch für Amtsträger in der Kirche zu: Entscheidungen im richtigen Moment verpassen, schadet der Sache. Es ist beschämend. Aber die Sache wird nicht besser, wenn man sie einfach unter den Teppich wischt. Sie muss angegangen werden.
Wie gesehen, gehören die Kardinäle nicht zum Glaubensgut. Auch hier wäre noch viel Spielraum für neue Wege. Das Beratungsgremium des Papstes könnte auch anders aussehen. Zum Beispiel könnten für fünf Jahre Menschen aus der ganzen Welt, Frauen und Männer, Junge und weniger Junge in dieses Gremium berufen werden. Alle drei Monate würden sie sich in Rom mit dem Papst treffen. Keine der Anwesenden würden wegen der Sorge um die eigene Karriere etwas sagen oder verschweigen. Diese Treffen könnten eine andere Dynamik in die Leitung der Kirche bringen. Wichtige und weniger wichtige Fragen könnten angegangen werden.
Eine österreichische Journalistin gibt den Eindruck wieder, den viele vom Vatikan haben: „ein kleinlicher Intrigantenstadel.“ 20) Das schwächt den Auftrag der Kirche und die Glaubwürdigkeit ihres Zeugnisses mehr als dies die Insider wohl vermuten. Darunter leidet nicht nur der Papst; darunter leidet die ganze Kirche. Verantwortung dafür hat, wer die Macht hat, ein solches System zu verändern.
Wegen solch destruktiven Vorkommnissen am Hof gab es im Hofstaat normalerweise einen Hofnarren. Er hatte ein höfisches Amt mit dem nötigen Handlungsfreiraum, um gegebenenfalls ungeliebte Fakten auf den Tisch zu legen oder Kritik anzubringen. Eine analoge Einrichtung fehlt in der Kirche weitgehend. Gelegentlich wurde sie von engagierten Christinnen und Christen wahrgenommen, die durch spätere Päpste aufgrund der grossen Verehrung durch die Gläubigen heiliggesprochen wurden. Wer meint, diese Anregungen seien ketzerische Gedanken, liest vielleicht auch im falschen Evangelium (vgl. Gal 1,6f.). Wie schon gesagt: Von Kardinälen steht nichts im Evangelium und im Katechismus, wohl aber die klare Weisung Jesu: „Bei euch aber soll es nicht so sein“ (Mk 10,43; KKK 1551).
Im Schreiben „Ordinatio Sacerdotalis“ über die nur Männern vorbehaltene Priesterweihe schreibt Papst Johannes Paul II. 1994, dass diese Frage nicht mehr diskutierbar ist. Eine Frage bleibt trotzdem: Ist das Geschlecht der Person je eine Glaubensfrage? Gehört das zum unveränderbaren Glaubensgut? Zumindest diese noch grundlegendere Frage muss auch nach 1994 diskutierbar sein. Ein Blick in die Tradition überrascht auch hier. Die Kirche hat neue Ämter eingeführt, wo das nötig war, um ihrem Auftrag treu zu bleiben. Denken wir zum Beispiel an die Einrichtung des Diakonats (vgl. Apg 6,17). In der Kirche ist durch Jahrhunderte hindurch von der geistlichen Vaterschaft die Rede, aber selten und heute kaum mehr von der geistlichen Mutterschaft. Dies ist verständlich, wenn man bedenkt, dass die Theologenzunft über Jahrhunderte fast ausschliesslich aus Männern zusammengesetzt war. Und doch ist es auch überraschend. Denn im Evangelium ist ausdrücklich von der geistlichen Mutterschaft die Rede, nicht aber von der geistlichen Vaterschaft. „Wer den Willen Gottes erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter“ (Mk 3,35). Aus dieser geistlichen Mutterschaft wird deutlich, was geistliche Vaterschaft ist. Es ist nicht eine Frage des Geschlechts, sondern der Christusnachfolge. Bei diesem christozentrischen Ansatz verfällt man nicht einfach den kulturell bedingten patriarchalischen Strukturen und versucht, sie theologisch zu verteidigen. Eine Rückbesinnung auf die Bibel und die ganze Tradition kann uns helfen, aus kulturbedingten Verengungen herauszufinden.
XIII
Die Kirche wird von vielen Menschen als Institution wahrgenommen, die nicht dem Leben dient, sondern das Leben einschränkt. Für viele – auch Getaufte – ist sie belanglos geworden. Ob dieser Eindruck berechtigt ist oder nicht – er ist offensichtlich weit verbreitet. Auf jeden Fall haben solche Menschen die berechtigte Erwartung, dass die Kirche hilft, den zu entdecken, der das Leben in Fülle verheisst (Joh 10,10). In erster Linie muss nicht klar sein, wogegen die Kirche ist (so werden wir oft wahrgenommen), sondern wofür (da wird unsere Stimme oft vermisst). Der am Anfang erwähnte Dirigent, der nicht bei der Asche stehenblieb, äusserte in einem Interview seine Distanz zur Amtskirche, nannte aber auf die Frage, worauf man in Österreich stolz sein könne, interessanterweise zwei Kirchenmänner: „Ich habe vor Kurzem den Pater Georg Sporschill kennengelernt. Was der da in Moldawien für die Ärmsten der Armen tut, ist großartig, auch wie er dabei wohlhabenden Österreichern in die Taschen greift, verdient Respekt. Er und auch Bischof Erwin Kräutler sind schon Erscheinungen, die einen bewegen und alle Hochachtung verdienen; die könnten ja auch hier in Österreich gemütlich in einem Kloster oder Pfarrhof sitzen.“ 21)
Dem Jesuiten Pater Georg Sporschill verdanken wir das bemerkenswerte Interview zur Situation der Kirche, das Kardinal Carlo Maria Martini ihm kurz vor seinem Tod gegeben hat. 22) Darin sagt der Kardinal: „Pater Karl Rahner gebrauchte gern das Bild von der Glut, die unter der Asche zu finden ist. Ich sehe so viel Asche, die in der Kirche über der Glut liegt, dass mich manchmal Hoffnungslosigkeit bedrängt.“ Er fordert eine Umkehr aller in der Kirche: „Die Kirche – angefangen vom Papst und den Bischöfen – muss sich zu ihren Fehlern bekennen und einen radikalen Weg der Veränderung gehen. … Die Kirche ist zweihundert Jahre lang stehen geblieben.“ Veränderung muss nicht in der Glut geschehen (Glaubensgut), sondern in dem, was zu Asche geworden ist. Daraus ergeben sich überraschende Wendungen: „Die Frage, ob Geschiedene zur Kommunion gehen dürfen, sollte umgedreht werden. Wie kann die Kirche den Menschen, deren Beziehung schwierig oder gescheitert ist, mit der Kraft der Sakramente zu Hilfe kommen?“ Hier bleibt ein Mensch nicht beim Aschenhaufen stehen oder wendet sich enttäuscht ab. Kardinal Martini wünscht der Kirche, die Glut wieder zu entdecken und sie die Menschen erfahren zu lassen.
XIV
Die Reaktionen auf die klaren Aussagen von Kardinal Martini fielen ganz unterschiedlich aus. In Internetforen wurde Martini sogar der Häresie bezichtigt – gerade von Menschen, für die nichts in Frage gestellt werden kann, was der Papst sagt. Aber so einfach ist es nicht. Papst Benedikt XVI. ist sich bewusst, was für ein Mensch, ein Christ und ein Bischof hier spricht. In seiner Botschaft bei der Trauerfeier für Kardinal Martini schreibt er: „Er war ein Mann Gottes, der die Heilige Schrift nicht nur studiert, sondern sie auch tief geliebt hat; er hat sie zum Licht seines Lebens gemacht. … Gerade deswegen vermochte er Gläubige und Wahrheitssuchende zu lehren, dass das einzige Wort, das es wert ist, gehört, angenommen und befolgt zu werden, das Wort Gottes ist, weil es allen den Weg der Wahrheit und der Liebe weist. Er war dies mit einem grossen Herzen und offenen Geist, indem er sich nie der Begegnung und dem Dialog mit allen versagte. … Er war dies in einem Geist tiefer pastoraler Nächstenliebe, seinem Bischofsmotto ‚Pro veritate adversa diligere‘ folgend, aufmerksam für alle und besonders die schwierigsten Situationen, liebevoll nahe all denen, die orientierungslos, arm und leidend waren.“ 23)
Am Schluss des Interviews stellt Kardinal Martini dem Interviewer Pater Sporschill eine Gegenfrage: „Was kannst du für die Kirche tun?“
Diese Frage ist an uns alle gerichtet. Wir alle sind Kirche! Machen wir uns neu auf und suchen wir miteinander die Glut unter der Asche! So wird das „Jahr des Glaubens“ tatsächlich zu einem Jahr des Glaubens. Und das Feuer kann neu brennen.
XV
Zur Umsetzung der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils in der Schweiz fand die Synode 72 statt. Eine Frucht dieser Synode sind die vier Hochgebete für besondere Anliegen – grundlegend entstanden im Kloster Einsiedeln und im Kloster Fahr -, die heute im lateinischen Messbuch der römisch-katholischen Kirche sind und damit auch in Übersetzung in aller Welt. Im Hochgebet „Jesus, unser Weg“ wird um den Geist gebetet, dem wir das Geschenk des Zweiten Vatikanischen Konzils verdanken. Ein Zeichen der Hoffnung!
„Barmherziger Gott,
schenke uns durch die Teilnahme an dieser Feier
den Geist, der uns mit Leben erfüllt.
Erneuere uns nach dem Bild deines Sohnes.
Stärke unsere Einheit mit deinem ganzen Volk,
mit unserem Papst N. und unserem Bischof N.,
mit allen Bischöfen, Priestern und Diakonen
und mit allen Männern und Frauen,
die zu einem Dienst in der Kirche bestellt sind.
Lass die Gläubigen die Zeichen der Zeit verstehen
und sich mit ganzer Kraft für das Evangelium einsetzen.
Mache uns offen für das, was die Menschen bewegt,
dass wir ihre Trauer und Angst,
ihre Freude und Hoffnung teilen
und als treue Zeugen der Frohen Botschaft
mit ihnen dir entgegengehen.“
Anmerkungen:
1) Benedikt XVI., Motu proprio „Porta fidei“. Rom 2011. Nr. 7.
2) Vgl. RB 61,4.
3) Martin Schleske, Der Klang. Vom unerhörten Sinn des Lebens. München 52012. 16f.
4) Joseph Ratzinger, Ergebnisse und Probleme der dritten Konzilsperiode. Köln 1965. 18f. 20.
5) www.konzilsblog.ch unter 20. Oktober 2012
6) Kurt Koch, Die Kirche Gottes. Gemeinschaft im Geheimnis des Glaubens. Augsburg 2007. 266.
7) Joseph Ratzinger, Ergebnisse und Probleme der dritten Konzilsperiode. Köln 1965. 61.
8) RB Vw 49.
9) RB 58,7.
10) hier http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/homilies/2012/documents/…
11) hier http://www.kath.net/detail.php?id=38138
12) Vgl. RB 3,3.
13) Vgl. RB 3,12.
14) Johannes Paul II., Novo millennio ineunte. Rom 2001. Nr. 49.
15) Vgl. RB 64,8.
16) hier http://www.kipa-apic.ch/?na=0,0,0,0,d&ki=236470&pw=BKf8_ogJ
17) Codex Iuris Canonici. Rom 1983. Can. 277 § 1.
18) Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium, Rom 1992. Can. 373.
19) Codex Iuris Canonici. Rom 1983. Can 1752.
20) hier http://www.kipa-apic.ch/?na=0,0,0,0,d&ki=236456&pw=ovF*KdZ2
21) hier http://www.kleinezeitung.at/nachrichten/kultur/2611255/japan-man-fast-g…
22) hier http://www.kipa-apic.ch/index.php?na=0,0,0,0,d&ki=235267
23) hier http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/messages/pont-messages/2…
Zum Referenten:
Martin Werlen OSB, als Stefan Werlen am 28. März 1962 in Obergesteln im Kanton Wallis geboren ist ein Schweizer Ordensgeistlicher. Er ist der 58. Abt des Klosters Einsiedeln.
Der Abt von Einsiedeln wird von der Klostergemeinschaft (alle Mitglieder mit ewiger Profess) gewählt und anschliessend vom Papst bestätigt. Er trägt die Insignien eines Bischofs und ist ordentliches Mitglied der Schweizer Bischofskonferenz (SBK).
Werlen trat 1984 in die Benediktinerabtei Maria Einsiedeln ein, wo er den Ordensnamen Martin annahm. Er legte am 11. Juli 1987 die Profess als Benediktiner ab. Am 31. Oktober 1987 wurde er zum Diakon und am 25. Juni 1988 zum Priester geweiht. In den darauffolgenden Jahren wirkte er als Novizenmeister und an der Hochschule des Klosters, wo er bis heute Entwicklungspsychologie und Religionspsychologie lehrt. Weiterhin ist er Vizepostulator im Seligsprechungsprozess von Bruder Meinrad Eugster. Am 10. November 2001 wurde er vom Konvent in Einsiedeln zum Abt gewählt, am 17. des gleichen Monats von Papst Johannes Paul II. als solcher bestätigt und am 16. Dezember durch Amédée Grab benediziert. Sein Wahlspruch lautet: ausculta et pervenies (Höre und du wirst ankommen).
Am 13. Januar 2012 prallte Werlen beim Badminton mit dem Kopf gegen eine Wand und erlitt eine Hirnblutung, die sein Sprachzentrum beschädigte. Im Universitätsspital Zürich und der Rehaklinik Valens wurde er behandelt. Werlen musste wieder lesen und schreiben lernen. Nach zwei Monaten und 160 Therapiesitzungen kehrte er ins Kloster Einsiedeln zurück. Heute fühlt sich Werlen geheilt.
Ein Konzil feiern?
Grusswort von Generalvikar Martin Kopp
Wozu ist das gut, wenn Ihr so ein Jubiläum feiert, wenn Ihr ein Konzil feiert? fragten mich ernstzunehmende Christen, als ich am 11. Oktober 2012 von der Gedenkfeier zur Eröffnung des Konzils in Bern zurückkam. Wäre da nicht eher Grund etwas zu tun, umzusetzen, was damals angestossen wurde, und grosse Worte zu lassen? So der Einwand meiner Brüder und Schwestern im Glauben.
Sie haben mir aus dem Herzen gesprochen, und trotzdem sagen wir: Feiern macht Sinn, weil wir dankbar sind. Gott dankbar sein, dass es das gab: ein Konzil, ein Geschenk an die glaubenden, hoffenden Menschen, an unsere Gemeinschaft auf dem Weg, die Kirche, sein Volk. Das Ereignis kann faszinieren, damals, wie heute, auch und gerade, wenn wir uns die ganze Geschichte der Kirche ohne verklärende Brille vor Augen führen, mit so vielen Dunkelheiten. Dabei sind wir alle Teil dieser Geschichte; leben, glauben, handeln in ihr. Wir schreiben sie weiter. Auch in der Phase der Ernüchterung, die anzuhalten scheint, sind wir nie neutrale Beobachter, und wären es nicht einmal, wenn wir uns ausdrücklich von der Kirche distanzieren würden.
Zu einem Zeitpunkt dieser Geschichte, da keiner davon zu träumen wagte, sah der schlichte Papst Johannes zu gut, dass die Kirche kaum mehr verstanden wurde, nicht nur wegen der antiquierten Worte, sondern ebenso wegen ihres Gehabes und wegen des Bildes, das sie oft von sich selbst machte und es erst noch weitergab. So öffnete er die Fenster. Einigen machte das Angst, Angst um die Kirche. Und so ist es noch immer. Auch das wollen wir wahrnehmen und ernstnehmen. Das Konzil hat falsche Erwartungen geweckt, sagen sie, und hat so viel durcheinander gebracht. Das Konzil fand statt, und wirkt, mit vielen Konsequenzen. Weil die Geschichte damals nicht stehenblieb, feiern wir ein Jubiläum, ein Ereignis, das heute noch Freude weckt.
Erst recht fragen wir: Was soll werden? Denn das Volk Gottes – das Konzil spricht so von der Kirche – ist durch weitere, unglaublich bewegte Jahrzehnte gegangen. Wir denken von selbst an den Untergang des Kommunismus, dessen Schatten noch so sehr auf dem Konzil lasteten. Und vielleicht noch mehr an das Erscheinen der „Dritten Kirche“, wie man sie bald nach dem Konzil zu nennen begann: Die Gewichte in der katholischen Kirche haben sich definitiv nach Süden verschoben, was seine grosse Wirkung erst noch haben wird. Und selbstverständlich reden wir dann auch von der Säkularisierung unsere Länder, davon, dass das Empfinden und Denken der Menschen die Kirche weit distanzierte, und wir gleichzeitig kaum richtig sahen, wie wir uns auf diese Menschen zubewegen könnten, missionarisch, im besten Sinn. Viel eher kam uns vor: Wir wollen fast krampfhaft das Eigene bewahren, oft aus Angst.
Was bleibt zu tun? Das Eine sicher: Die Initiative aufnehmen, die aus dem Evangelium stammt. Eine andere Wahl gibt es nicht. Ich zitiere gern den französischen Philosophen Maurice Blondel. Er sagt: „Es handelt sich nicht darum, in die Defensive zu gehen, und ebenso wenig in die Offensive, es geht darum, die Initiative zu ergreifen!“ Gott hat sie schon ergriffen, indem er uns sein Wort geschenkt hat; an uns, mitzutun! Das ist sicher eine Frucht des Konzils: das Wort Gottes neu entdeckt zu haben - in der Liturgie, der Theologie, der Verkündigung, der Gestaltung unserer Kirche, durch und durch, und wie sehr doch in der Ökumene! Ein Konzil feiern?
Den Herrn im Evangelium zu uns sprechen zu lassen, uns von ihm leiten zu lassen, seinem Beispiel zu folgen, das ist der erste Schritt unserer Initiative. So, dass das Evangelium in seiner ganzen unverbrauchten Frische unter uns zu leben beginnt. Eine wundervolle Chance ist das, die uns das Konzil noch immer eröffnet. Und denken wir daran: die Kirche des Südens ist uns gerade da beispielgebend! Ein Beispiel gibt sie uns, wie das Evangelium Gestalt gewinnt, das Wort Gottes unter uns von neuem wunderbar Fleisch annimmt. Nur so können Menschen die Botschaft lesen, welche die religiöse Sprache nicht mehr erreicht.
Damit ist die Frage nach einer Elitekirche, vielleicht nach einer Kirche der Reinen, beantwortet: Die Kirche ist, aufgrund der Berufung durch den, der ihr Haupt ist, und sie durch die Zeiten führt, dazu gesandt, dem am Rand draussen, dem Notvollen, dem nicht religiös Gestylten und Dressierten, die frohe Botschaft ins Herz zu pflanzen, ihm das Leben zu eröffnen, die Liebe, neues Leben.
Das ist es wohl, was wir meinen, wenn wir von Neuevangelisierung reden: denen, die mit uns leben und oft so fern scheinen, das Evangelium eröffnen durch unser eigenes Leben, nennen wir es ruhig Zeugnis, sodass wir die Frohe Botschaft mit ihnen teilen. Und mitten im Teilen werden wir uns selber vom Evangelium neu formen lassen! Die Frage schliesst sich da freilich ganz nahe an: Leben wir nah genug bei den Menschen? Leben und Evangelium teilen, kann nur durch Nähe geschehen.
So wollte es Franziskus im Mittelalter: in der Nähe zum Armen die Freude am Herrn finden, und so nicht mehr und nicht weniger tun, als das Evangelium zu leben. Und ähnlich war es schon viel früher beim Vater auch der Einsiedler Mönche: bei Benedikt, der mitten in den Umbrüchen der Zeit den Weg des Evangeliums erschliessen wollte. Die Initiative heute bleibt die gleiche. Disziplin aber, neu eingeschärft, und Abgrenzungen, um einen verbliebenen Rest vermeintlich gesund zu erhalten, sind unbeholfen, wahrscheinlich kontraproduktiv. Das fleischgewordene Wort Gottes wirkt anders.
Manche unter den Seelsorgenden fühlen sich in ihrem vielfachen Bemühen zuweilen nicht ernst genommen: von oben nicht, paradoxerweise aber auch wenig von denen, die sie umgeben. So denken in diesen Tagen vor allem die Älteren unter uns an den Schwung des Konzils zurück. War doch das Konzil für nicht Wenige die Einladung, auf ihre Berufung zu hören und ihr grossherzig zu folgen, sodass sie sagten: dieser Dienst lohnt ein Leben – und sie haben es mit nimmermüdem Einsatz gezeigt. Und das so oft ohne den Dank, der ihnen gehört hätte! Das ist wahr, leider, nicht selten bitter wahr.
Wäre nicht das Gedenken ans Konzil die Gelegenheit, die Nostalgie abzustreifen, auch Bitternis und begründete Trauer, um neu die Frische des Evangeliums zu verspüren, sozusagen auf unserer Haut, bis tief hinein, sodass von selbst das Herz sich weitet für die Menschen, die mit uns sind, so vielfältig und unterschiedlich? Wir dürfen die Fenster wieder aufstossen, und unsere Türen weit offen stehen lassen. Da kommen die Menschen – ich kann nicht daran zweifeln, weil ich es selber erlebe. Wir benötigen dann allein die Gegenwart des Herrn im gelebten Evangelium, und gewiss auch im Sakrament. Denn so wohnt er unter uns. Viele Herzen stehen schon ganz offen.
Innenseite:
Texte: Martin Kopp / Abt Martin Werlen
Illustrationen: Pater Jean-Sébastien Charrière
Druck: www.druckerei-kaelin.ch
©Kloster Einsiedeln 2012
Kurztext:
Das Grusswort von Martin Kopp (Generalvikar der Diözese Chur für die Urschweiz) und das für die Publikation überarbeitete Referat von Martin Werlen (Abt des Klosters Einsiedeln und Mitglied der Schweizer Bischofskonferenz) wurden anlässlich der Feier „50 Jahre Zweites Vatikanisches Konzil“ und „Eröffnung Jahr des Glaubens“ am 21. Oktober 2012 in der Klosterkirche Einsiedeln gehalten. Zur Feier mit Orgelspiel, Grusswort, Referat und gemeinsamem Abendgebet wurde von der Klostergemeinschaft Einsiedeln und dem Generalvikariat Urschweiz eingeladen.
Diese Broschüre ist ein Arbeitsdokument. Es soll diskutiert werden. Es darf kritisiert werden. Hoffentlich ermutigt es in der Kirche engagierte Menschen, trotz aller Versuchung zur Verzweiflung miteinander die Glut unter der Asche zu suchen, damit das Feuer wieder zum Brennen kommt.
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Bezugsquellen:
Klosterladen Einsiedeln und Fahr
www.kloster-einsiedeln.ch
www.kloster-fahr.ch
www.kath.ch/urschweiz