Unfähig zur kritischen Selbstreflexion

Pressemeldung zum vatikanischen Schreiben „Dignitas infinita“; 10. April 2024

Die österreichischen Kirchenreformbewegungen begrüßen es, dass der Vatikan in seiner Erklärung „Dignitas infinita“ die grundsätzliche und absolute Würde des Menschen in Erinnerung ruft, die in unserer Welt heute in vielfältiger Weise bedroht und verletzt wird.

Es stellt sich aber die Frage, ob ein Dokument wie dieses, an dem im Vatikan laut eigenen Angaben fünf Jahre lang gearbeitet wurde, nicht auch die Möglichkeit geboten hätte, nach der menschlichen Würde im Inneren der Kirche selbst zu forschen. Der sexuelle Missbrauch durch Kleriker und weitere Mitarbeiter der Kirche ist noch nicht vergessen und insbesondere in systemischer Hinsicht noch lange nicht ausreichend aufgearbeitet, sodass es sehr verwundert, wie wenig die Erklärung zu diesen kirchlichen Verbrechen an der menschlichen Würde zu sagen hat.

Eine ähnliche Unfähigkeit zur kritischen Selbstreflexion zeigt sich in den Ausführungen über „Gewalt gegen Frauen“: Mit Verweis auf Papst Johannes Paul II wird die „tatsächliche Gleichheit der Rechte der menschlichen Person“ gefordert und damit u.a. auch „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ sowie „gerechtes Vorankommen in der Berufslaufbahn“ verlangt, aber es wird mit keiner Silbe erwähnt, dass eben genau dies in der Katholischen Kirche nicht gegeben ist und die Kirche Frauen marginalisiert und diskriminiert, indem sie sie vom Weiheamt und damit den höchsten Leitungsämtern ausschließt.

Im Hinblick auf die Ausführungen zur „Gender-Theorie“ bleibt man nach der Lektüre des vatikanischen Dokuments fast etwas ratlos zurück: Was genau versteht der Vatikan unter „Gender“? Ist man sich im Dikasterium für die Glaubenslehre und im Apostolischen Palast überhaupt bewusst, wie vielfältig und divers nicht nur das Thema, sondern schon der Begriff an sich ist? Hier wäre es dringend nötig, weniger mit ideologischen Vorurteilen als vielmehr mit zeitgemäßer Offenheit und auch mehr Wissenschaftlichkeit an die Thematik heranzugehen.

Getröstet wird man vielleicht mit Blick auf den Titel des Dokuments: „Dignitas infinita“ ist ein Hinweis darauf, dass die Würde des Menschen unendlich ist, könnte aber auch dahingehend verstanden werden, dass eben auch die kirchliche Lehre über die Menschenwürde noch nicht zu Ende gedacht ist.

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Martha Heizer, Vorsitzende von „Wir sind Kirche“: „Leider wird der Anspruch auf unendliche Würde durch die veralteten und schädlichen Gender-Theorien des Vatikan in den Hintergrund gedrängt.“

Marlies Prinz, Jugendvertreterin von „Wir sind Kirche“: „Der Vatikan wirft der Gendertheorie vor, sich selbst zu Gott machen zu wollen. Wann macht man sich zu Gott? Wenn man akzeptiert und anerkennt, dass alle Menschen aller Geschlechter gottgewollt sind, oder wenn man zwanghaft versucht, alles und jeden in ein binäres System zu quetschen, und dies als gottgewollt ausgibt?“

Gidi Außerhofer, Pfarrerinitiative: „Wenn das Dokument abschließend betont, dass der Einsatz für die Menschenrechte nicht zu Ende ist, so appellieren wir: auch in der Kirche nicht! Denn der Zugang zur Weihe der Frauen und die Öffnung des priesterlichen Dienstes auch für Verheiratete darf aus verschiedenen Gründen nicht länger aufgeschoben werden.“

Herbert Bartl, Priester ohne Amt: „Wenn das Dokument gleich zu Beginn betont, dass sich die Kirche schon immer bemüht hat, „die Freiheit zu bekräftigen und die Rechte aller Menschen zu fördern“, drängt sich leider der Verdacht einer gewissen Geschichtsvergessenheit auf.“

Harald Niederhuber, Laien-Initiative: „Es mindert die Glaubwürdigkeit und die Wirksamkeit
von Ermahnungen, wenn nicht vorher vor der eigenen Tür gekehrt wird!“