Mittelalter in der Moderne? Wie der Pflichtzölibat entstand

 

28.07.2011, Hubertus Lutterbach

Dieser Beitrag ist in voller Länge in der Herder Korrespondenz Nr. 7 vom Juli 2011 abgedruckt. Ein weiterer Beitrag in NZZ online, "Rein wie die Kinder,der Pflichtzölinat im Spiegel der Kulturgeschichte mönchischer Askese".

Der Pflichtzölibat für Priester hat keinen Anhalt im Neuen Testament. Er entstand im Zug der Angleichung von Klerikern an die Ordensleute, die gleichzeitig eine Rückkehr zu religionsgeschichtlich früheren Vorstellungen von kultischer Reinheit bedeutete. Diese Entwicklung ist heute nicht mehr theologisch zu rechtfertigen.

Bereits seit Jahrzehnten zählt die Abschaffung des Pflichtzölibates zu den Kernanliegen reformorientierter Initiativen innerhalb der römisch-katholischen Kirche des Westens. Im Rahmen der aktuellen Aufarbeitung des Skandals um jene Kleriker, die während der vergangenen Jahrzehnte sexuelle Gewalt gegenüber Kindern ausübten, rückt das Thema „Pflichtzölibat" neuerlich massiv in den Vordergrund. Immer mehr Christen und Nichtchristen fordern mittlerweile sogar, den kirchlichen Umgang mit Sexualität insgesamt auf den Prüfstand zu heben. Die kirchlich-traditionelle Sexualmoral und das Festhalten am Pflichtzölibat werten sie als unangemessene Verweigerung gegenüber der Moderne.

So wandten sich im Januar 2011 namhafte bundesdeutsche CDU-Politiker wie Norbert Lammert, Dieter Althaus, Erwin Teufel oder Bernhard Vogel mit der Forderung einer Rücknahme des Pflichtzölibates in einem offenen Brief an die Bischöfe unseres Landes. Im Februar 2011 zählte die Aufhebung des Pflichtzölibats zu den Kernforderungen des „Memorandums", das von mehr als 250 deutschsprachigen Theologen unterzeichnet wurde. Am 13. März 2011 verbreiteten die Medien, dass der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann den Missbrauchsskandal in den historischen Strukturen der Kirche wurzeln sehe und in diesem Zusammenhang für eine Aufhebung des Pflichtzölibats optiere. Im April 2011 ermittelte eine repräsentative Politbarometer-Umfrage, die im Auftrag der ZDF-Sendung „sonntags" durchgeführt wurde, die Forderung der Gläubigen nach Reformen. 75 Prozent der befragten Katholiken sprachen sich für die Aufhebung des Pflichtzölibates aus.

Der Blick in die Christentums- und Kulturgeschichte

Eine auf die vergangenen Jahrzehnte bezogene Revision der Dauerkontroverse um den Zölibat zeigt, dass die immer wieder vorgetragenen Pro- und Contra-Argumente seit langer Zeit unverändert auf dem Tisch liegen. Die Befürworter des Pflichtzölibates argumentieren erstens regelmäßig mit dessen langer Tradition, die mitunter bis auf Jesus zurückgeführt wird. Zweitens findet sich der Hinweis darauf - so prominent in der Entgegnung von Kardinal Walter Kasper (FAZ, 11.2.2011) auf das „Memorandum" -, dass der Pflichtzölibat allein im Gesamt der Weltkirche und ansonsten eben überhaupt nicht abgeschafft werden könnte. Drittens richtet man den Blick auf die evangelischen Kirchen, um von deren Situation die Folgerung abzuleiten, dass der Verzicht auf den Pflichtzölibat zur Verbesserung der Kirchensituation dort wenig beigetragen habe.

Die Gegner des Pflichtzölibates bestreiten erstens seine Verwurzelung im Neuen Testament. Als zweites führen sie den Priestermangel grundlegend auf den Pflichtzölibat zurück; dieser sei dafür mitverantwortlich, dass die Ermöglichung der Sonntagseucharistie in jeder Gemeinde auf immer größere Schwierigkeiten stoße. Drittens berge das Festhalten am Pflichtzölibat das Risiko, dass immer mehr beziehungsschwache Kandidaten das Priesteramt übernähmen.

Über die bisherigen Argumente hinaus kann der Blick in die Christentums- und Kulturgeschichte zeigen, dass der Pflichtzölibat, der heutzutage in Frage gestellt wird, nicht aus der gemeindlichen Seelsorgepraxis hervorgewachsen ist, sondern als ein über anderthalb Jahrtausende hinweg vom Mönchtum geprägtes Klerikerideal zu charakterisieren ist: Seit dem 4. Jahrhundert wollten sich die Mönche für ihr ewiges Leben durch ein „Mehr" an irdischer Leistung empfehlen. Auch durch den Verzicht auf die Ausübung der Sexualität suchten sie damit jene Christen zu übertreffen, die ihrer Taufberufung in Ehe und Familie folgten. Die Priester haben sich an diesem sexualitätsfreien Ideal orientiert und sind den Mönchen darin über anderthalb Jahrtausende nachgeeifert, wie sich religionsund sozialgeschichtlich rekonstruieren lässt.

Tatsächlich wird man im Anschluss an eine christentums- und kulturgeschichtliche Revision festhalten müssen, dass der Pflichtzölibat ohne Wurzeln im Neuen Testament ist. Durchzusetzen vermochte er sich vornehmlich aufgrund eines Rückgangs an Reflexionstheologie, der sozialgeschichtlich mit einem gesamtgesellschaftlichen Rückgang an Bildung im Westen seit dem Ende der Spätantike zu erklären ist. An die Stelle der Hochtheologie traten primärreligiöse Praktiken, die vom Neuen Testament ehedem überwunden worden waren: erstrangig die Hochschätzung der Entsprechung von menschlicher Leistung und göttlicher Gegenleistung sowie die Dominanz der kultischen gegenüber der ethischen Reinheit. Beides wurde durch die Mönche mit der ihnen zugesprochenen Leitspiritualität über anderthalb Jahrtausende hinweg für alle Christen vorgelebt. Für die Bischöfe, Priester und Diakone folgte daraus schließlich der Pflichtzölibat.

Angesichts dieses christentumsgeschichtlichen Befundes stellt sich der Kirchenhistoriker Kardinal Walter Brandmüller (FAZ, 26.1.2011) mit seinem Vorwurf, dass die Gegner des Pflichtzölibates Jesus beleidigten, ein fragwürdiges Zeugnis aus. Umsichtiger urteilt der Münsteraner Kirchenhistoriker Arnold Angenendt im Anschluss an seine religionsgeschichtliche Vergewisserung (SZ, 8.2.2011): „Am Ende kann es nur bei der biblischen Ausgangssituation bleiben. Indem das Neue Testament verheiratete Bischöfe und Diakone bezeugt, ist die kultische Reinheit grundsätzlich abgetan." Und mit Blick auf die aktuelle pastorale Situation folgert er: „Als Kirchengesetz kann der Zölibat nur so lange bestehen, wie er der Kirche nützt. Eben das ist heute fraglich."

Mühen um eine vertiefte priesterliche Spiritualität

So gilt es den Blick auf das im II. Vaticanum ermöglichte Diakonat für Verheiratete (LG 29) zu richten und für die Ausweitung dieser „pflichtzölibatsfreien" Amtsauffassung einzutreten. Mit der diakonatsbezogenen lehramtlichen Festschreibung wird nämlich erstens anerkannt, dass es für Christen im Neuen Testament keine Zölibatsauflagen gibt. Zweitens ruft der Beschluss in Erinnerung, dass es bei aller Wertschätzung der christlichen Tradition zu den Aufgaben der Theologie gehört, religionsgeschichtlich zwar erklärbare, jedoch historisch-theologisch heutzutage nicht mehr zu rechtfertigende Entwicklungen wie den Pflichtzölibat vernehmlich in Frage zu stellen. Auch damit kommt die Theologie dem Auftrag des II. Vaticanums nach, die innere Erneuerung der Kirche zu fördern und deren „segensreiche Präsenz in der heutigen Welt" zu vertiefen (Gravissimum Educationis 12).

Jedenfalls fällt erst in dem Moment neuer Glanz auf die neutestamentliche Rede von der Begabung mit der Ehelosigkeit, wenn der Einspruch der Christentums- und Kulturgeschichte gegenüber der gegenwärtigen weltkirchlichen Verpflichtung zum Zölibat auf Gehör stößt. Zugleich könnte an genau dieser Stelle das Mühen um eine vertiefte priesterliche Spiritualität ansetzen. Diese Sorge müsste eine Schulung der priesterlichen Kommunikationsfähigkeiten ebenso umfassen wie ein vertieftes Verständnis der Liturgie und deren Feier.

Insofern genügt es nicht, wenn das „Memorandum" allein die Freigabe des Pflichtzölibates fordert; denn ebenso kommt es zukünftig mehr denn je auf eine geistlich vertiefende theologische Ausbildung an. Tatsächlich steht die römisch-katholische Kirche hier am Anfang eines neuen Weges, der das kirchliche wie das universitäre Lehramt gleichermaßen herausfordern wird, zumal beide im Dienste aller Getauften und der Welt von Heute stehen.

Hubertus Lutterbach

Der Autor, Hubertus Lutterbach (geb. 1961), Dr. theol., Habil. Theol., Dr. phil., lehrt seit 2000 Christentums- und Kulturgeschichte (Hist. Theologie) an der Universität Duisburg-Essen im Fach Katholische Theologie. Monographie- und Aufsatzpublikationen zur Thematik: www.uni-due.de/katheol/histtheol.shtml.

Dies ist eine gekürzte Fassung.
Sie finden den gesamten Beitrag wie auch alle anderen Artikel der Juli-Ausgabe der Herder Korrespondenz, auf "Herder Korrespondenz online".